Biographie

Finn-Ole Heinrich wurde am 13.9.1982 geboren und wuchs in Cuxhaven auf. Während der Schulzeit absolvierte er ein Praktikum beim Deutschen Entwicklungsdienst in Benin, nach Abitur und Zivildienst studierte er in Hannover Filmregie (Filmklasse Uwe Schrader) und schloss das Studium 2008 mit dem Diplom ab. Heinrich lebte zunächst in Hamburg und wohnt seit 2016 in Südfrankreich.

"Nachwuchs-Kinderbuchautoren", so die ironische Definition von Tobias Becker (2011, 33), "haben wir uns bislang ganz gern so vorgestellt wie Studenten für das Lehramt an Grundschulen: weiblich, niedlich, brav, mit Diddl-Maus am Eastpak-Rucksack oder wenigstens einer Tigerente. Doch dann kam Finn-Ole Heinrich". In der Tat ist es nicht einfach, Heinrich als Autor lexikographisch zu erfassen bzw. zu rubrizieren. Er deckt eine große Bandbreite zwischen Coming-of-Age-Roman und Kindertheater, zwischen skurriler Erzählung, illustriertem Kinderbuch und theatraler Performance, zwischen existentiellen Themen und komischer Sprache ab.

Außerdem entzieht er sich bewusst der Kategorisierung und weicht in Interviews der Suche nach biographischen und beruflichen Folgerichtigkeiten konsequent aus. Auf die Frage, ob ihm als Kinderbuchautor "die jüngeren Generationen am meisten am Herzen" liegen oder in seinem "Kopf noch ein Kind" stecke, antwortet er lapidar: "Nein, ich glaube nicht. Ich denke einfach nie nach, für wen ich da nun schreibe" (Kruppert 2014). Die Schriftstellerkollegin Tamara Bach zitiert ihn in einem Porträt mit dem faustischen Titel Heinrich, mir graut vor dir mit einer ähnlichen Absage an den Mythos des Autors: "Eigentlich ist es doch so völlig scheißegal, wer das jetzt geschrieben hat und wie der aussieht ist noch egaler" (Bach 2015, 10). Kategorisch lehnt er die Frage nach biographischen Bezügen in seinen Texten ab:

[Mara Giese:] Die Frage ist natürlich klischeehaft, ich stelle sie aber trotzdem: wieviel von dir steckt in Maulinas Wut, ihren Fragen und ihrer Geschichte?

[Finn-Ole Heinrich:] Weiß nicht, klischeehaft? Vielleicht eher: unwichtig. Und schwer zu messen. Was soll ich da jetzt sagen? Soundsoviel Prozent? Drei Kilo selbstgemachte Erfahrungen, sechs Erinnerungen, vier Zentimeter aufgeschnappte Ideen und sechs Pfund Sitzfleisch? (Giese 2014)

Wenn Heinrich sich selbst biographiert, etwa am Schluss des ersten Maulina Schmitt-Bandes, übernimmt er dabei den Ton seiner literarischen Texte: "Finn hat Filmemachen studiert und sein Beruf ist es, sich Geschichten auszudenken. […] Er hat so viele Mützen wie ein internationales Model Schuhe und einen merkwürdigen Knick im Ohr". Deutlich wird Heinrichs Ablehnung einer klassischen Dichterbiographie auch in jenem Doppel-Interview, das Die Zeit 2016 mit Kirsten Boie und ihm geführt hat. Auf die Frage, ob er als Kind viel gelesen habe, antwortet er: "Nein, gar nicht. Ganz wenig." Und nachdem Kirsten Boie bekannt hat, alles von Finn-Ole Heinrich zu kennen, erwidert er:

Ich muss gestehen, ich habe noch nichts von Kirsten Boie gelesen und lese generell fast gar keine Kinder- und Jugendbücher. Wenn ich lese, dann Erwachsenenliteratur. Aber im letzten halben Jahr war es nur ein Buch. […] Wenn ich viel lese, bringt das meinen Ton durcheinander, und es lädt mir zu viele Ideen auf. (Otto 2016)

Werk

Der bisherige Erfolg Finn-Ole Heinrichs im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur resultiert aus den eingangs erwähnten Texten Räuberhände, Frerk, du Zwerg! sowie den drei Bänden Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt. Darüber hinaus umfasst sein schriftstellerisches Werk zwei Bände mit Erzählungen – die taschen voll wasser (2005) sowie Gestern war auch schon ein Tag (2009) – und das Kindertheaterstück Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes, das 2015 uraufgeführt wurde.

Der Coming-of-Age- oder Adoleszenzroman Räuberhände (=RH) erzählt von Janik und Samuel, die nach dem Abitur gemeinsam in die Türkei reisen. Während Janiks Lehrereltern ein ebenso korrektes wie langweiliges Leben in der bürgerlichen Mittelschicht führen, kennt Samuel seinen Vater nicht und weiß nur, dass er aus der Türkei stammt, seine Mutter hingegen ist alkoholabhängig und verkehrt mit den Obdachlosen der Stadt. Die beiden Jugendlichen sind durch ihre soziale Herkunft determiniert bzw. stigmatisiert: Während Janik als "Sohn [s]eines großartigen Vaters" (RH 12) Lina, die Tochter aus gutem Hause, küssen darf, unterstellt man Samuel, dem "Pennersohn" (RH 23), er habe einen Turnbeutel geklaut. "This contrasting depiction of social recognition based on family heritage and social status supports the notion that recognition as presented within the novel limits and enables agency", schreibt Judith Heidi Lechner (2016, 171) in ihrer Dissertation zu Matters of Recognition in contemporary German Literature. Die Reise nach Istanbul ist für Samuel also die Suche nach seinen möglichen kulturellen Wurzeln bzw. nach einer Identität, die nicht über seine soziale Herkunft definiert ist. Der abwesende Vater fungiert dabei als "eine riesige Leinwand, auf der jeder Film laufen kann" (RH 20).

Janik dagegen hofft, das Verhältnis zu Samuel wieder normalisieren zu können. Die unerhörte Begebenheit, die diese Freundschaft auf eine harte Probe stellt, ist, dass Janik auf einem Stadtfest mit Samuels Mutter geschlafen hat und die beiden von Samuel erwischt wurden. "Ordnung versus Chaos, Bürgertum versus Prekariat, Zucht versus Libertinage, Jugend versus Erwachsensein, heterosexuelle Triebwünsche versus homoerotische Männerkumpeleien", fasst Lino Wirag (2008a) die Gegensätze zusammen, aus denen Räuberhände konstruiert ist.

Der Roman, der 2012/13 verpflichtender Abiturstoff in Hamburg war, ist in der Ich-Perspektive verfasst, Janik fungiert als Erzähler, der einen stark gefärbten Blick auf seine Umwelt, sein Elternhaus und seine Freundschaft zu Lina und Samuel hat. Dennoch kann man in Räuberhände kaum von unzuverlässigem Erzählen sprechen, wie Richter und Widmann (vgl. 2012, 13 u.ö.) das tun. Zwar ist Janik als Erzähler in seinen Urteilen und Wertvorstellungen nicht objektiv, dennoch liegen im narratologischen Sinne keine Anzeichen für Unzuverlässigkeit vor. Zur Faktur des Romans gehört darüber hinaus das Spiel mit Zeitebenen. Die Haupthandlung wird durch permanente Analepsen unterbrochen, in denen Erinnerungen an das gemeinsame Aufwachsen, die Schulzeit, erste Liebe etc. erzählt werden. Außerdem ist jedem Kapitel ein kurzer proleptischer Absatz vorangestellt, der bereits das Ende, den Tod von Samuels Mutter, vorwegnimmt, "Cuts und Szenenwechsel bestimmen das Erzähltempo" (Wirag 2008a).

Die Themen Identität und Freundschaft werden durch die interkulturelle Perspektive, durch Fragen nach Heimat und Kultur überlagert, immer wieder ist Räuberhände mit Fatih Akins Film Auf der anderen Seite (2007) verglichen worden (vgl. Richter/Widmann 2012, 85f.). Der Titel ist Janiks Bezeichnung für die Hände seines Freundes: "Samuel achtet sehr auf sein Äußeres, nur seine Finger sind zerbissen. […] Es sind die Räuberhände, die ihn verraten" (RH 8), heißt es im Roman und Finn-Ole Heinrich erläutert: "Janik […] merkt nicht, dass er selbst tut, was er seinen Eltern so schrecklich übel nimmt: dass sie an Samuel herumpsychologisieren. Er selbst tut es auch, meint, in den zerbissenen Fingern seine psychische Sollbruchstelle zu sehen, hält den Zustand seiner Finger für eine Art Seismographen für Samuels Gefühlszustand" (Reichenbach o.J.). Lechner (2016, 187) kommentiert: "Janik fails to recognize his friend truly as a peer, but marks the social distance between them constantly in his commentary."

Am Schluss trennen sich die Freunde: Janik fährt zurück zu seinen Eltern, Samuel bleibt in Istanbul. Dass der Konflikt nicht gelöst wird, ist nach Carsten Gansel (vgl. 2010, 186) ein typisches Merkmal des postmodernen Adoleszenzromans.

Frerk, die Titelfigur in Frerk, du Zwerg! (=FdZ), gehört zu den Kleinsten und Schwächsten in seiner Klasse und wird von seinen Mitschülern gehänselt. Seine Mutter zwingt ihn zu biologischer Ernährung und übertriebener Hygiene, der Vater hingegen ist schweigsam und unnahbar. Deswegen wünscht sich Frerk einen Hund, "am liebsten einen riesengroßen" (FdZ 6). In diesen Hund projiziert er seine Wünsche nach Stärke und Überlegenheit, der Hund soll sein Freund sein und seine Sprache sprechen, er wäre nur für ihn da und würde die Mitschüler, die Frerk ärgern, "mit einem einzigen Riesenhundebellen umpusten" (FdZ 10). Natürlich bekommt Frerk keinen Hund, weil seine Mutter auf Tiere – und alles, "was Spaß macht" (FdZ 13) – allergisch reagiert. Stattdessen findet er plötzlich ein Ei, aus dem fünf Zwerge schlüpfen, die nur Frerk sieht. Sowie seine Eltern oder Mitschüler dazukommen, verschwinden die Zwerge in Frerks Hosentasche.

Diese Zwerge sind "pure Subversion und ein Ausbund an Insubordination" (Jurybegründung), sie machen alles, was Frerk nicht darf, sie sind frech, feiern, scheinen keinen Gesetzen zu unterliegen und keinen Autoritäten zu gehorchen. "Die wissen gar nicht, was es heißt, sich zu ärgern oder Schmerzen zu haben" (FdZ 59). Ähnlich wie das Sams in Paul Maars Eine Woche voller Samstage (1973) eine katalysatorische Funktion hat und Herrn Taschenbier zur Mündigkeit erzieht, stehen auch die Zwerge in Frerk, du Zwerg! für einen emanzipatorischen Imperativ, den sie, bevor sie verschwinden, explizieren und mit der Parole "Brät Brät" unterstreichen: "Lass krachen fetz weg leg los / sag Brät / […] / Lass dir nix erzähln / Geh ab / Wie ne Tüte Mücken und sing / Brät Brät" (FdZ 80).

Der Auftrag scheint sich zu erfüllen, zumindest im Kleinen. Frerk sucht sich selbst seine Kleidung aus und zieht nicht mehr an, was seine Mutter ihm raus legt, er wird insgesamt selbstbewusster und beginnt seinen Eltern zu widersprechen. Während er anfangs unglücklich ist, ohne seine Unzufriedenheit zu explizieren – "Aber das sagt Frerk lieber nicht, das denkt er nur" (FdZ 20) –, lehnt er das elterliche Frühstück mit Obst und Müsli am Schluss ganz vehement ab: "Nee, nee! Das könnt ihr euch mal echt abschminken! Das ess ich ganz bestimmt nicht. Jetzt nicht und nie wieder" (FdZ 78).

Ein wesentlicher Teil von Frerks Individuation und Emanzipation spielt sich im Bereich der Sprache ab. In seiner Familie gibt es "Worte, die man nicht sagen darf" (FdZ 27). Frerk hingegen sammelt "in seinem Kopf Lieblingswörter, die schöner sind als die, die er benutzen soll" (FdZ 17). Während seine Mutter eine korrekte Normsprache präferiert, entwickelt Frerk eine unvernünftige, kindlich-anarchische Individualsprache, die zum Teil jugendsprachlich (pesen statt rennen) oder niederdeutsch (Fressforke statt Gabel) inspiriert ist, oft aber auch aus reiner Erfindung, Onomatopoesie oder Sprachspielerei besteht, etwa wenn er eine Bügelfalte "Krumpelfumpel" (FdZ 20) nennt oder das Farbadjektiv "flump" (FdZ 24) kreiert. Hinzu kommen immer mehr Elemente aus dem Zwergischen, jener Fantasiesprache, die die Zwerge sprechen. In "Frerks Kopf ", so heißt es erläuternd im Text, "ist alles anders" (FdZ 18), über die eigene Sprache begibt sich Frerk gleichsam in eine innere Emigration.

Zu den in Frerks Familie verbotenen Wörtern gehört auch "Bambule" (FdZ 27), das die kindlichen Leserinnen und Leser vermutlich als Lautmalerei rezipieren. Der Duden erläutert den Begriff als "äußerst ausgelassenes Treiben" und verortet ihn in einer veralteten Jugendsprache, diese Bedeutung dominiert auch in Frerk, du Zwerg!: "Warum schreien, toben, rennen und randalieren sie nicht? Sie sind doch Zwerge, sie müssen doch Bambule machen" (FdZ 62). Eine weitere semantische Facette liegt im Bereich der Gaunersprache, hier bezeichnet "Bambule" den "in Form von Krawallen geäußerte[n] Protest besonders von Häftlingen". Diese Bedeutung kann man sicher auf Frerks Familien- bzw. Erziehungssituation übertragen, es lässt sich aber auch ein intertextueller Verweis auf Ulrike Meinhofs Film Bambule vermuten, der 1970 die autoritären Strukturen in der Heimerziehung anprangert. Zwar wird Frerk dadurch nicht als Linksterrorist der RAF stigmatisiert, aber durchaus zu einem anarchischen und antiautoritären Denker im Umfeld der Studentenrevolution stilisiert. Auch er begehrt gegen seine Eltern auf und hält deren hierarchischem Familienmodell das Wunschbild einer freien Erziehung entgegen.

Diese vielfältigen Deutungsmöglichkeiten zwischen sozialgeschichtlicher Kontextualisierung und sprachspielerischer Albernheit sind ein Beleg für die Offenheit und Mehrfachcodiertheit des Textes. "Frerk, du Zwerg! ist Quatsch in seinem allerbesten Sinne und ein Plädoyer für Anarchie, für Mut und Selbstbewusstsein", heißt es in der Jurybegründung des Deutschen Jugendliteraturpreises.

In den Bänden der Maulina Schmitt-Trilogie – Mein kaputtes Königreich (=KK), Warten auf Wunder (=WW) und Ende des Universums (=EU) – erzählt die Titelfigur von der Trennung der Eltern, die dazu führt, dass sie die gemeinsame Wohnung verlassen und mit ihrer Mutter in eine kleinere Wohnung ziehen muss. Glorifiziert sie die ursprüngliche Bleibe zum Königreich Mauldawien, so wird die neue Wohngegend als Plastikhausen abqualifiziert. Doch zu der Trennung kommen weitere Probleme: Der Vater hat eine neue Freundin, außerdem leidet die Mutter an einer Krankheit, die in den Romanen allerdings nicht benannt wird – die Symptome deuten auf Multiple Sklerose –, und stirbt schließlich am Ende des dritten Bandes.

Den Spitznamen Maulina hat Paulina Schmitt, weil sie – gleichsam als psychohygienisches Ventil – die Kunst des Maulens beherrscht: "Maulen heißt nicht einfach rumstänkern, maulen, das ist eine Lebenseinstellung" (KK 9). Und wenn Paulina "maultiert", wird es kein leichter Wutanfall, sondern "ein Maulbebeben, ein Maulnami, ein Maulkan, ein Mauluntergang" (KK 144), sie verliert gänzlich die Beherrschung, das Maulen am Ende des ersten Bandes führt bis zur Bewusstlosigkeit.

Finn-Ole Heinrich lässt wiederum seine Titelfigur als kindliche Ich-Erzählerin berichten, die Leserinnen und Leser sind also an die Sichtweise Paulinas gebunden. "Tatsächlich habe ich von innen heraus geschrieben, um Paulinas Geschichte aus ihrer Perspektive erzählen zu können", kommentiert der Autor:

Diese Sichtweise ist genau das, was die Geschichte für mich interessant und erzählenswert macht. Entsprechend habe ich mir zuerst die Figur erarbeitet. Ich musste ihre Art zu denken, wahrzunehmen, zu sprechen von innen heraus erfühlen und hören. (Nefzer 2014, 78)

Die Ich-Perspektive hat aber auch zur Folge, dass man Paulinas zum Teil sehr eigenwillige Weltsicht bewerten oder relativieren muss. So bleibt beispielsweise bis zum Schluss unklar, ob die Trennung der Eltern wirklich von der Mutter ausging, die Angst hatte, ihrem Mann als Pflegefall zur Last zu fallen, oder ob die neue Freundin des Vaters den Umzug nach Plastikhausen ausgelöst hat. Paulinas Wertung hingegen ist ebenso radikal wie eindeutig: Während sie sich vorbehaltlos hinter die Mutter stellt, wird der Vater in all seinem Tun verurteilt, im gesamten ersten Band bezeichnet sie ihn nur als "den Mann" und lässt weder die Bezeichnung "Vater" noch dessen Vornamen zu. Mit der fortschreitenden Krankheit der Mutter kommt es in den Folgebänden zu einer sehr langsamen Wiederannäherung zwischen Vater und Tochter.

Bemerkenswert ist die Mischung aus ernsten, existentiellen Problemen, die im Roman verhandelt werden, und einem leichten und witzigen Grundton. Zielten Themen wie Krankheit, Behinderung und Tod in der Kinderliteratur der 1970er Jahre oft auf einen erzieherischen Appell, so sind Heinrichs Romane weitgehend frei von didaktisierenden Tendenzen und moralischen Bewertungen. Max von der Grün etwa stellt seinem Kinderroman Vorstadtkrokodile (1976) eine klare Handlungsanweisung voran: "Und wenn ihr in eurer Nachbarschaft einen Jungen oder ein Mädchen seht, die behindert sind, denkt daran, dass es jeden treffen kann, seid freundlich zu ihnen, versucht zu helfen". Aber auch dem nullfokalisierten Erzähler in Peter Härtlings Das war der Hirbel (1973) insinuiert Gabriele von Glasenapp (2014, 10), dass er "im Akt des Erzählens […] jenen Antagonismus zwischen behindertem Protagonisten und Gesellschaft, um dessen Aufhebung er durch seine beständigen Kommentare zugleich bemüht ist", überhaupt erst erschafft. Finn-Ole Heinrich dagegen will ausdrücklich keine "Betroffenheitsnummer" aus seinen Maulina Schmitt-Romanen machen oder "Botschaften in die Welt pusten" (Nefzer 2014, 75 u. 77).

Mit großem literarischem Raffinement ist der Schluss des dritten Bandes gestaltet. Zwar ist klar, dass die Mutter hier stirbt, ihr Tod allerdings wird von Paulina nicht explizit beschrieben. Stattdessen kommt es zu einer metafiktionalen Reflexion der Ich-Erzählerin, die zunächst den Realitätsstatus von Literatur bzw. den Fiktionalitätsvertrag zwischen Text und Leser erläutert: "Aber in unseren Geschichten können wir Dinge erfinden und so tun, als gäbe es sie, und wenn alle mitglauben, dann ist es so, als wären sie wirklich da. […] Wir […] können Dinge erschaffen, nur weil wir bestimmte Worte sprechen" (EU 160). Hinzu kommt die Einsicht, dass "alle Geschichten gleich" enden. "Also mit dem Tod. Es kommt nur darauf an, wann du beschließt, dass eine Geschichte für dich zu Ende ist. […] So funktioniert das Happy End: Einfach nicht zu Ende lesen. Buch zuklappen" (EU 165). Der letzte Band stellt dementsprechend verschiedene Schlüsse nebeneinander, ohne den Tod der Mutter direkt zu benennen: ein erträumtes glückliches Ende, einen Blick in die Zeit nach dem Tod der Mutter sowie am Schluss einen handschriftlich eingefügten Abschiedsbrief. "Das ist wahnsinnig ernst und traurig, zwischendurch aber immer wieder so leicht und heiter wie selten ein deutschsprachiges Kinderbuch", heißt es in der Jurybegründung für den LUCHS des Jahres 2014 (zit. nach. Hörnlein/Scholter, 2015).

Während Elvira Armbröster-Groh (vgl. 1997, 20-38) in ihrer 1997 erschienenen Untersuchung zum modernen realistischen Kinderroman den problemorientierten, den psychologischen und den komischen Kinderroman noch in getrennten Kapiteln untersucht, ließe sich Heinrichs Maulina Schmitt-Trilogie – und das ist typisch für die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur – den drei Kategorien gleichermaßen zuordnen.

Zwar sind die einzelnen Texte Finn-Ole Heinrichs nur schwer miteinander vergleichbar, dennoch weisen sie einige immer wiederkehrende Motive und Stilmerkmale auf, die eine originäre Handschrift erkennen lassen. Heinrich ist in allen seinen Texten ein Autor der radikalen Perspektive, der unvernünftigen Behauptung und der schonungslosen Darstellung; er übersetzt Anarchie in Sprache, ohne dabei Kriterien einer kindgerechten Angemessenheit unbedingt zu entsprechen. Albernheit und Quatsch haben in seinen Texten einen ähnlichen Rang wie existentielle Themen und menschliche Abgründe.

Abgründig und oftmals unglücklich sind auch Heinrichs Figuren. Meist kommen die Protagonisten aus dem Bürgertum, aber sie haben schwerwiegende Probleme, die – das ist keineswegs selbstverständlich in der Kinder- und Jugendliteratur – auch am Schluss nicht gelöst sind. "Ich glaube nicht an glatte, strahlende Helden" (Erler 2013, 14), sagt er über seine literarischen Kreaturen: Frerk ist ein Außenseiter, der unter seinen Eltern und den Hänseleien der Mitschüler leidet, Paulina muss die Trennung der Eltern sowie Krankheit und Tod der Mutter verkraften, Janik hat mit der alkoholabhängigen Mutter seines besten Freundes geschlafen – und die Figuren aus Heinrichs Erzählungen Gestern war auch schon ein Tag könnten das skurrile Panorama ergänzen: Ein junger Mann, der seine Freundin nach einer Beinamputation aus dem Krankenhaus abholt, Schubert, der Müllmann, der sich nach Bedeutung sehnt, oder Paul, der sich in die sterbenskranke und geheimnisumwobene Marta verliebt – Mittelmaß gibt es nicht betitelt Wiebke Porombka (2010) zu Recht ihre Besprechung in Die Zeit.

"Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar", heißt es in Ingeborg Bachmanns Dankesrede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden 1959, in der Kinder- und Jugendliteratur wird dagegen immer wieder diskutiert, wo die Grenzen des Zumutbaren liegen. Die sozialkritische Literatur um 1970 etwa konfrontiert die kindlichen Leserinnen und Leser mit einer deutlich härteren Wirklichkeit als es die Schonraumliteratur der Nachkriegszeit zugelassen hat. Auch Finn-Ole Heinrich verlangt dem lesenden Kind einiges ab, für ihn steht aber, so sagt er, nicht der reine Härtegrad im Vordergrund, sondern das unbedingte Verlangen nach Authentizität und Wahrhaftigkeit:

Ich schreibe meine Geschichten so, wie ich glaube, dass sie geschrieben werden müssen. Wenn die Geschichte Härte verlangt, dann kriegt sie die. Alles andere wäre nicht ehrlich. Ich glaube nicht daran, dass man Kinder zu sehr behüten muss. Die kriegen sowieso eine Menge mit. […] Was ich tue, wenn ich (auch) für Kinder schreibe: Ich bemühe mich vielleicht um mehr ablöschenden Humor. Und um eine etwas leichtere, aber nicht weniger tiefe Sicht auf das Komplizierte. (Erler 2013, 16)

Die narratologische Faktur unterstreicht dieses Postulat der Ehrlichkeit, die epischen Texte sind meist aus der Sicht der Kinder und Jugendlichen erzählt, die interne Fokalisierung dominiert in Heinrichs Texten. Paulina und Janik sind homodiegetische Erzähler, in Frerk, du Zwerg! erzählt eine intern fokalisierte heterodiegetische Instanz, Frerk fungiert jedoch als Reflektorfigur. Durch die Fokalisierung wird der subjektive und zum Teil eigenwillig verzerrte Blick der Figuren auf ihre Welt betont.

Mit der Ich-Perspektive ist häufig auch eine individuelle Sprache und Stilistik verbunden. Die Tatsache, dass Heinrich selbst betont, er sei "immer auf der Suche nach einer einfachen, präzisen Sprache, die dem Stoff angemessen ist" (Wirag 2008b), darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Einfachheit hochbewusst konstruiert ist. Auch die Figuren suchen jeweils nach einer individuellen Sprache, etwa um sich von ihrem Umfeld zu distanzieren – wie Frerk – oder um die eigene Situation überhaupt erst verbalisieren zu können – wie Paulina Schmitt. In diesem Zusammenhang spielen Neologismen eine ebensolche Rolle wie – teilweise kühne – Metaphern und Vergleiche, die den besonderen Sound von Heinrichs Texten ausmachen: Da ist von "omastrumpfhosengelb verkachelten Häusern" (KK 18) die Rede und Paulina entwickelt eine "Schutzschicht aus Wutblech, gestrichen mit Krankheitsgedankenlack" (KK 128). Frerk hingegen fühlt sich "wie ein Freibad im Winter" (FdZ 78), während seine Mutter "schreit wie dreizehn alte Wecker" (FdZ 78), ein Mitschüler schließlich "steht da wie ein Keks im Tee" (FdZ 88). Und der "Reuber" aus Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes verortet sich bereits durch seine Orthographie außerhalb der Norm.

Eine weitere stilistische Besonderheit besteht darin, so sagt Heinrich selbst, einen "auf den ersten Blick unangemessenen Ton zu wählen, also Tragisches komisch zu erzählen und Komisches tragisch" (Wirag 2008b). Eine solche Mischung ist insgesamt typisch für die Kinder- und Jugendliteratur nach 2000, auch in den Rico, Oskar…-Romanen Andreas Steinhöfels (2008ff.), in Kirsten Boies Entführung mit Jagdleopard, Sally Nicholls Wie man unsterblich wird (2008) oder John Greens Das Schicksal ist ein mieser Verräter (2012) werden existentielle Themen einerseits schonungslos, andererseits aus der Perspektive der Kinder bzw. Jugendlichen dargestellt, die ihrem Schicksal durchaus sehr heitere Seiten abgewinnen können und ihr Leben – ähnlich wie Paulina Schmitt – ohne Pathos und Pietät, stattdessen mit einer gehörigen Portion Selbstironie betrachten (vgl. Wicke 2017). Finn-Ole Heinrich wird im Titel eines Porträts wegen der Ähnlichkeit zur Krankheitsdarstellung in Das Schicksal ist ein mieser Verräter als Der deutsche John Green tituliert (Köller 2012).

Neben der literarischen Produktion pflegt Finn-Ole Heinrich engen Kontakt zum Theater. Sein Kindertheaterstück Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes war 2016 für den Mühlheimer KinderStückePreis nominiert, außerdem liegt Frerk, du Zwerg! in einer Opern- (UA 2012) sowie einer Bühnenfassung (UA 2014) vor und auch die Romane Räuberhände (UA 2013) und Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt (UA 2015) wurden erfolgreich für die Bühne adaptiert. Alle Kinder- und Jugendromane wurden außerdem als Hörbücher produziert, Frerk, du Zwerg! und Räuberhände als Lesungen des Autors, Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt hat Sandra Hüller eingelesen und war mit dieser Interpretation für den Deutschen Hörbuchpreis 2014 nominiert.

Finn-Ole Heinrich arbeitet intensiv mit der Zeichnerin Rán Flygenring, die sowohl Frerk, du Zwerg! als auch die Bände der Maulina Schmitt-Trilogie illustriert hat, sowie dem Musiker Spacemann Spiff zusammen.

Rezeption

Während die wissenschaftliche Rezeption des Œuvres von Finn-Ole Heinrich aktuell noch in den Anfängen steckt, belegen die Rezensionen, vor allem aber die Preise, die Heinrich für sein Werk bekommen hat, den enormen Erfolg des Autors. Sicher ist der Deutsche Jugendliteraturpreis, den er 2012 in der Sparte Kinderbuch für Frerk, du Zwerg! erhielt, die renommierteste Auszeichnung im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, darüber hinaus hat er u.a. 2008 den Kranichsteiner Literatur-Förderpreis, 2014 den Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis und das Hamburger Tüddelband sowie 2015 den Luchs des Jahres für Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt bekommen. Des Weiteren war er 2008 Stadtschreiber in Erfurt, 2011 Otterndorfer Stadtschreiber und 2012 Writer in residence für das Goethe-Institut in Reykjavík.

 

Bibliographie

Primärliteratur

  • Heinrich, Finn-Ole: Räuberhände. Roman. 10. Auflage. München: btb, 2010.
  • Heinrich, Finn-Ole/Rán Flygenring: Frerk, du Zwerg! München: arsEdition, 2013.
  • Heinrich, Finn-Ole/Rán Flygenring: Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt. Mein kaputtes Königreich. München: Hanser, 2013.
  • Heinrich, Finn-Ole/Rán Flygenring: Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt. Warten auf Wunder. München: Hanser, 2014.
  • Heinrich, Finn-Ole/Rán Flygenring: Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt. Ende des Universums. München: Hanser, 2014.

Sekundärliteratur

  • Armbröster-Groh, Elvira: Der moderne realistische Kinderroman. Themenkreise, Erzählstrukturen, Entwicklungstendenzen, didaktische Perspektiven. Frankfurt am Main: Peter Lang, 1997.
  • Bach, Tamara: Heinrich, mir graut vor dir. In: 1000 und 1 Buch (2015) 1. S. 10-12.
  • Becker, Susanne Helene: Die Weltenbummler. In: JuLit (2012) 4. S. 24-29.
  • Becker, Tobias: Der Anarcho. In: KulturSPIEGEL (2011) 10. S. 33.
  • Burkard, Mirjam: Auf den Spuren von Maulina Schmitt. Geocaching als aktivierende, mediale Lernumgebung. In: Serialität in Literatur und Medien. Bd. 2. Modelle für den Deutschunterricht. Hg. v. Petra Anders, Michael Staiger. Schneider: Baltmannsweiler, 2016. S. 68-77.
  • Erler, Isabelle: Ziemlich weit oben und ganz nah dran. Wie schreibt man Geschichten für Kinder? Acht Antworten von dem Schriftsteller Finn-Ole Heinrich. Und eine von uns. In: KulturSPIEGEL (2013) 8. S. 14-17.
  • Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. 4. überarb. Auflage. Berlin: Cornelsen, 2010.
  • Glasenapp, Gabriele von: Simple Stories? Die Darstellung von Behinderung in der Kinder- und Jugendliteratur. In: kjl&m (2014) 3. S. 3-15.
  • Hauck, Stefan: Tiefsinniger Sprachakrobat. In: Börsenblatt 38 (2014). S. 50.
  • Hörnlein, Katrin und Judith Scholter: "Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt": Zum Heulen schön. In: Die Zeit vom 5.3.15.
  • Hörnlein, Katrin: Jugendbuch von Finn-Ole Heinrich: Heiter bis untröstlich. In: Die Zeit vom 14.11.13.
  • Köller, Kathrin: Der deutsche John Green? Finn-Ole Heinrich. In: eselsohr (2013) 12. S. 22.
  • Lechner, Judith Heidi: Matters of Recognition in contemporary German Literature. 2016. http://hdl.handle.net/1794/19680.
  • Nefzer, Ina: "Maulina findet immer irgendwo Sterne, die für sie leuchten" Der Kinderbuchautor Finn-Ole Heinrich im Gespräch über seine außergewöhnliche Mädchenfigur. In: kjl&m (2014) 3. S. 75-81.
  • Otto, Jeannette: Wollt ihr noch lesen, Kinder? Hunderttausende wachsen mit ihren Geschichten auf: Ein Gespräch mit den Schriftstellern Kirsten Boie und Finn-Ole Heinrich. In: Die Zeit vom 18.8.2016.
  • Peter, Christoph: On the road again. In: JuLit (2012) 3. S. 34-37.
  • Richter, Till: Max Frisch oder Finn-Ole Heinrich? Zur Frage der Oberstufenlektüre. In: Der Deutschunterricht (2011) 6. S. 92-96.
  • Richter, Till/Stefanie Widmann: Finn-Ole Heinrich. Räuberhände. EinFach Deutsch. Unterrichtsmodell. Paderborn: Schöningh, 2012.
  • Wicke, Andreas: "Wutblech, gestrichen mit Krankheitsgedankenlack". Krankheit und Perspektive in Finn-Ole Heinrichs Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt. In: Literatur im Unterricht (2017). S. 123-138.

Internet

Informationen zu Autor und Werk finden sich auf http://www.finnoleheinrich.de.

Weitere Beiträge zu Finn-Ole Heinrich auf KinderundJugendmedien.de:

Literaturkritiken

Abbildungsverzeichnis

Titelfoto: Denise Henning (Pressefoto)