Inhalt und Interpretation

Kaspar lebt seit der Scheidung der Eltern mit seiner von Depressionen geplagten und einem 'Putzfimmel' erlegenen Mutter allein, während sein Vater mit der neuen Freundin in Gent wohnt. Die eigentlich traurige Geschichte wird hier mit komischem Unterton aus der Sicht des kindlichen Protagonisten vorgetragen, der sich in seinen Kommentaren stets auf die von ihm gelesene Literatur bezieht. Kaspar ist ein Superreader, der die Kinderbuchabteilung der Stadtbücherei ausgelesen und in seinem Kopf gespeichert hat  (Lypp 2000, S. 35). Schon im Alter von vier Jahren konnte Kaspar lesen, weshalb er vom Hausarzt als 'Alphabet' bezeichnet wird. Seither durchschaut er die "Wirklichkeit als Zitat von Kinderbuch-Stereotypen und kommentiert seine Handlungen mit Hinweisen auf die entsprechenden literarischen Szenen" (Mattenklott 1995) und schreibt schließlich das Buch, das der Leser in den Händen hält.

So konstituiert sich Kaspars Blick auf seine Umwelt durch die Literatur, aus welcher er wiederum die Magie ableitet, die ihm bei seiner Alltagsbewältigung hilft. 'Moslievau' heißt die Zauberformel, mit der der 11jährige Protagonist die Ereignisse zu steuern meint. Diese leitet sich aus dem Spitznamen des ehemaligen Fischverkäufers ab, der im Dorf Kruizele als Kinderschreck gilt, da er täglich vor dem Schultor der Gemeindeschule steht, wenn er sich nicht gerade in der Ortskneipe 'Die drei Könige' betrinkt. Der Name ist Programm, denn auf die Namen der drei Weisen wird immer wieder Bezug genommen: So entpuppt sich genannter Moslievau in der Mitte des Buches als Balthasar, und am Ende trifft Kaspar auf den kleinen Melle (Kurzform von Melchior). Doch auf der vordergründigen Handlungsebene geschieht bis hierhin viel mehr: So setzt sich Kaspar einerseits mit der Trennung seiner Eltern und deren neuen Partnern auseinander, andererseits versucht er hinter die Geheimnisse seiner besten Freundin und Nachbarin Renske zu kommen und entdeckt mit ihr wiederum erste Gefühle der Verliebtheit. Große Zuneigung bringt er seiner Lehrerin Fräulein Monica entgegen, in deren Armen er Schutz sucht, als er wegen eines Krankenhausaufenthalts seiner Mutter für kurze Zeit bei seinem Vater leben soll. Das nimmt Kaspar nicht hin.

Auch in Renskes Familie scheinen Probleme auf. In ihrer Trauer um ein verstorbenes Kind liegt die Stiefmutter immer wieder mit Depressionen im Bett und hört Gustav Mahler, während das Mädchen den Stiefbruder mit Würfelzucker füttert, da der Vater meist abwesend ist.

Nicht nur die Magie hilft Kaspar bei der Bewältigung und Einordnung der Ereignisse, sondern auch die 'Fußkunde'. Immer wieder fällt der Blick des Jungen auf die Füße der Menschen, anhand derer er sich ihr jeweiliges Seelenleben erschließt. Und so zieht sich das Motiv des Schuhs neben den Bezügen auf die von Kaspar gelesene Literatur und die drei Könige wie ein roter Faden durch die spannende Geschichte, in welcher Kaspar sich auf die Suche nach dem Liebhaber der Mutter macht, den diese ihm bis zu ihrem Krankenhausaufenthalt verschwiegen hat, und seinen Vater von seiner Sichtweise befreit, ein Pechvogel zu sein, indem er ihn von einem Müsser zu einem Dürfer macht.

Was dürfen wir und was müssen wir? Auch dies sind Fragen, die der kinderliterarische Text aufwirft: Angestoßen werden diese philosophischen Überlegungen durch Kaspars Begegnung mit einem Rentner in der Bahn, welche in der Mitte der Handlung stattfindet. Hier trifft Kaspar den Dürfer: Er darf alles und muss nichts.

Die Grenzen zwischen Phantasie und Realität verwischen ein wenig. Denn so können sowohl Kaspar als auch Renske kraft der Zauberformel 'Moslievau' die Ereignisse beeinflussen - oder glauben sie das nur? Die Antwort kann sich nur der Leser selbst geben, was nicht zuletzt den hohen Anspruch des Textes ausmacht.

Thematische Aspekte und Motive / Wissenschaftliche Rezeption

Im Folgenden werden einige ausgewählte thematische Aspekte und Motive des Kinderbuches näher betrachtet: Trennung bzw. Scheidung der Eltern, das Motiv des Schuhs, Bedeutung von Magie und Telepathie und die intertextuellen Bezüge.

Auf realistischer Handlungsebene erzählt das Kinderbuch Ich heiße Kaspar von einem Jungen, der die Trennung seiner Eltern bewältigen muss. Das Kind steht hier Erwachsenen gegenüber, die mit sich selbst überfordert sind und somit keine Unterstützung bieten können. Kaspars Mutter leidet an Depressionen, der Vater ist mit seinem Beruf als Schuster in der 'Absatz-Bar' tief unzufrieden. So ist es an Kaspar, Umgangsstrategien mit der schwierigen Situation zu finden, was ihm gelingt, indem er z.B. seinen Vater zum Dürfer ernennt, der von nun an alles darf. Hilfe sucht sich Kaspar zum einen in der Magie und zum anderen in der Welt der Literatur, die ihm durch seine regelmäßigen Besuche in der Gemeindebücherei offen steht.

Maria Lypp fasst zusammen: "Das Kind Kaspar begegnet einer Welt ohne Orientierung. Die Erwachsenen, von Problemen der Partnerschaft und Arbeitswelt überfordert, erscheinen hilflos. Kaspar will diese Welt in Ordnung bringen und bedient sich dazu der Literatur, bzw. der formelhaften Wendungen, die er dazu im Kopf hat" (Lypp 2000, S.34).

So rekurriert der Ich-Erzähler Kaspar in seinem Bericht immer wieder auf die von ihm gelesene Abenteuerliteratur und nennt die entsprechenden Bücherschränke, wo sich die angesprochene Literatur in der Gemeindebücherei findet. Aus dieser Erzähltechnik speist sich der hohe Anspruch des Kinderbuches und es entsteht eine Verquickung von neuer Erzählung und Abenteuern von Entdeckungsreisenden, welche Kaspar aus Büchern kennt. Er fühlt sich selbst wie ein Entdeckungsreisender und gestaltet sich so seinen eigentlich schwierigen Alltag. Seine engste Vertraute ist hierbei seine Freundin Renske, welcher er nahe bringt, dass sich die Probleme kraft eigener Phantasie und auch mit Telepathie lösen lassen.

Gemeinsam wünschen die beiden Kinder die Probleme weg, wobei sie sich der Zauberformel 'Moslievau' bedienen, dem Namen des Fischhändlers im Dorf, welcher im Laufe der Handlung verstirbt.

Andrea Kluitmann bezeichnet das Buch als Essay über Magie:

"Kaspar entdeckt, dass auch er über magische Fähigkeiten verfügt. Seine beschwörenden Worte können die Schmerzen seiner Mutter lindern, seinen Vater dazu bewegen, den öden Job aufzugeben und gerade noch verhindern, dass Renske ein Flugzeug samt Chef und Liebhaber von Kaspars Mutter abstürzen lässt. Inwiefern Kaspars Zauberformeln und Renskes Fantasie nun tatsächlich dafür sorgen, tut nichts zur Sache" (Kluitmann 1995).

Wesentliches Moment beim Einsatz der Magie ist Kaspars stetiger Blick auf die Füße der Menschen, anhand derer er auf die seelischen Botschaften der Personen schließt. Es taucht immer wieder das Motiv des Schuhs auf - so arbeitet Kaspars Vater als Schuster in der Absatz- Bar, die geliebte Lehrerin führt mit dem Puppentheater das Märchen von Aschenputtel auf und schon zu Beginn des Romans fällt Kaspars Blick auf die Mokassins des Fischhändlers Moslievau, und das erste Wort, das der Protagonist im Alter von vier Jahren lesen kann ist 'Donnerschuhe' (vgl. van Doorselaer 1995, S.8). So fungieren die Füße und die Schuhe im Text als Spiegel der Seele.

Maria Lypp verweist zudem auf die Formelhaftigkeit, mit welcher der Roman operiert und schreibt der Dreikönigsformel eine wesentliche Funktion zu, welche das Buch in drei Teile gliedert (vgl. Lypp 2000, S.34): "Erster Satz: 'Ich heiße Kaspar'. letzter Satz: 'Ich heiße Melle', genau in der Mitte des Buches die Entdeckung des Namens Balthasar" (ebd.).

Lypp sieht in der Namens - Trinität ein Stilmittel, das der Erzählung Kohärenz liefert, da auf chronologisches Erzählen verzichtet wird und führt aus:

"Die dazugehörige Legende spielt im Roman keine Rolle. Die Namensformel ist auch nicht von Anfang an erkennbar, sondern setzt sich allmählich zusammen. Erst am Schluß des Romans treten die Drei Weisen auf einem Gemälde "etwas hinter der Kirche" kurz ins Blickfeld. Ihre Bedeutung ist vergessen und wird auch nicht restituiert. Die Stiftung von individueller und kultureller Identität aber, die der Roman beschreibt, fußt dennoch ganz und gar auf der – völlig eigenwilligen- Ingebrauchnahme der fragmentierten Überlieferung. Somit handelt der Roman von der Kraft der überlieferten Formel, deren Sinn zwar nicht bekannt ist, ohne die aber kein Sinn gebildet werden kann" (ebd).

Maria Lypp untersucht die Stereotypisierung, mit welcher der Roman arbeitet, in fundierter Weise. Als wesentliche thematische Aspekte, die das Buch miteinander ins Spiel bringt, bezeichnet sie die literarische Tradition mit ihren Tradierungswegen einerseits und das Subjekt, das sie zur Lösung individueller Probleme gebraucht, mit eigenen Bedeutungen versiert und dem allgemeinen Kulturfonds zuführt, andererseits (Lypp 2000, S.37ff.). Sie verweist in diesem Kontext weiter auf den lyrischen Zyklus der Kindertotenlieder von Friedrich Rückert, der in Verbindung steht mit der Musik Gustav Mahlers, welche Renskes Stiefmutter Carla in ihren depressiven Phasen hört.

Populärrezeption

Ich heiße Kaspar ist sicherlich kein besonders populäres kinderliterarisches Werk, aber dass es im Jahr 2009 im dtv – Verlag neu aufgelegt wurde, spricht schon für einen gewissen Bekanntheitsgrad.

Die Komplexität der Handlung, die poetische Sprache und die Symbolkraft machen das Buch zu einer lohnenden Schullektüre (vgl. zu den Symbolen und zur Szenischen Interpretation des Buches das Unterrichtsmodell Kumschlies 2011).

Bibliografie

Primärliteratur

  • Van Doorselaer, Willy: Ich heiße Kaspar. München: dtv 2009.


Sekundärliteratur

  • Kluitmann, Andrea (1995): Wie Kaspar schließlich fand, was er suchte. Dieses Buch sprengt den Rahmen. In: Eselsohr 5/1995. S.25-26.
  • Kumschlies, Kirsten: Dürfer und Müsser, Füße und Schuhe. Symbolisches Verstehen fördern durch Szenische Interpretation von Willy van Doorselaers Roman `Ich heiße Kaspar`. In: Praxis Deutsch. Heft 228/ 2011: Symbole verstehen. S. 20-23.
  • Lypp, Maria (2000): Vom Suppenkasper zum Dreikönig. Formel und Stereotyp im Kinderbuch. In: dies.: Vom Kasper zum König. Studien zur Kinderliteratur. Frankfurt am Main. S. 25-40.
  • Mattenklott, Gundel (1995): Der Leser als Held. Nachrichten aus der Kinderbibliothek. In: FAZ. 17. Juni 1995.
  • Osberghaus, Monika (1995): Die April- Eule fliegt nach Ooike zu Willy van Doorselaer. In: Bulletin Jugend + Literatur 4/1995. S. 22.