Sichtet man den jährlich anwachsenden Markt der Kinder- und Jugendliteratur, so fallen die vielen Romane auf, die schon im Titel das ‚Haus‘ aufgreifen oder aber ein solches bezeichnen. Nur einige Beispiele seien hier genannt: Das stumme Haus (Uticha Marmon), Schwarze Häuser (Sabine Ludwig), Der Geruch von Häusern fremder Leute (Bonnie-Sue-Hitchcock), Mitternacht in Charlburry House (Helen Peters), Winterhaus (Ben Guterson), Nacht über Frost Hollow Hall (Emma Carrol), Panderosa (Michael Sieben), Greenglass House (Kate Milford) und Das schaurige Haus (Martina Wildner). Noch interessanter als die erstaunliche Konjunktur von Häusern in den Titeln literarischer Texte sind ihre vielfältigen poetischen Funktionen, die ihnen im literarischen Kontext zukommen: Das Motiv des Hauses wird in der Kinder- und Jugendliteratur in all seinen Variationen, beispielsweise als Wohnhaus, Hochhaus, Ferienhaus, Spukhaus (man beachte hierzu die zahlreichen haunted house-stories), Villa, Anwesen, Kinderheim, Knusperhäuschen oder Hütte, ebenso facettenreich verhandelt wie in der allgemeinliterarischen Belletristik (siehe hierzu nur Die Buddenbrooks (Thomas Mann), Das Geisterhaus (Isabell Allende), Pirasol (Susan Kreller)). Das Haus kann für das eigene Zuhause oder das Elternhaus (Das Haus, das ein Zuhause war (Julie Fogliano/Lane Smith)) stehen, einen Ort der Geborgenheit bzw. Schonraum darstellen, an den man beispielsweise immer wieder gerne zurückkehrt und in dem eine Subjektkonstitution stattfindet (z.B. Das Schreinerhaus in Ferien auf Saltkrokan oder Der Fuchsbau (Harry Potter), Die Villa Kunterbunt als Mundus Inversus (Pippi Langstrumpf)). Zudem fungiert es als Bühne für erfreuliche Ereignisse, aber auch für (familiäre) Tragödien gleichermaßen (z.B. Hyde (Antje Wagner), Solange die Nachtigall singt (Antonia Michaelis)). Schließlich kann es hinter seiner bürgerlichen Fassade auch zu einem Tatort avancieren (vgl. Meto − Das Haus (Yves Gret), Elefanten sieht man nicht (Susan Kreller)) oder als Ort des Schreckens inszeniert werden.

Diese literarischen Variationen des Hauses sind durch Wände begrenzt, folglich als „locked room“ konstituiert und mit einem spezifischen poetischen Interieur ausgestattet, welches Spielräume für Interpretationen eröffnet. Innerhalb der Erzählung kann dieser begrenzte (erzählte) Raum als Handlungsrahmen, aber auch als Leitmotiv bzw. zentrales Symbol fungieren und nach Lotmann (1993) topologische, semantische und topografische Dimensionen eröffnen, die miteinander verschmelzen können. Gelegentlich stellt das Haus ein Statussymbol dar (vgl. Wolfgang Herrndorf (Tschick)), wobei dieses aus der jeweiligen Perspektive der verschiedenen Figuren auf narratologischer Ebene mehrere Funktionen gleichzeitig erfüllen und spezifische Wirkungspotenziale entfalten kann. Eine weitere Facette poetischer Häuser zeigt sich, wenn das Haus im Rahmen einer fiktionalen Handlung selbst zu einem Akteur wird. So reagiert das Haus in Lara Schützsacks Und auch so bitterkalt mit Gefühlen, wenn es Lucinda bei der erzwungenen Nahrungsaufnahme beobachtet.

Im filmischen Family-Entertainment-Bereich spielt das Hausmotiv zuweilen ebenfalls eine tragende Rolle, beispielsweise in Das Haus der geheimnisvollen Uhren (2018), Kevin – Allein zu Haus (1990) oder in dem Disney-Film Encanto (2021) in Form der casita.

Noch einmal neue Perspektiven auf Formen und Funktionen poetischer Häuser ergeben sich, wenn Texte der allgemeinliterarischen Belletristik oder andere Medien der Gegenwartskultur vergleichend in den Blick genommen werden. Das Spektrum reicht von Mark Z. Danielewski Romankunstwerk Das Haus. House of Leaves bis zur Streaming-Serie American Horror Story. Das ‚Haus‘ stellt somit ein literarisch traditionsreiches wie gleichermaßen populärkulturell höchst relevantes und beliebtes ästhetisches Element dar, das im aktuellen medialen Diskurs auf vielfältige Weise inszeniert wird. Zugleich sind die poetischen Häuser für zahlreiche literatur- und kulturtheoretische Debatten der letzten Jahrzehnte, z.B. zum spacial turn, höchst anschlussfähig.

Zielstellung des Sammelbandes

Die Beiträge des Sammelbandes, der in der Schriftenreihe Kinder- und Jugendliteratur. Themen – Ästhetik – Didaktik (hrsg. von Jan Standke) erscheinen wird, sollen sich aus der Perspektive von Literaturwissenschaft, Jugendliteratur- und Medienforschung und Literaturdidaktik den vielfältigen literarisch und medial inszenierten Variationen ‚poetischer Häuser‘ (als Metaphern oder Symbole, als Aktionsräume, Orte der Kindheit, Adoleszenz, der Initiation, der Schwelle, der Zuflucht, des Verbrechens bzw. des Schreckens usw.) widmen.

Erwünscht sind in diesem Zusammenhang sowohl literatur- und kulturtheoretisch informierte Analysen als auch didaktische Kommentierungen einzelner Kinder- und Jugendromane, Graphic Novels, Comics, Bilderbücher, Hörspiele, Filme und Streaming-Serien. Zudem sind Beiträge willkommen, die von der Kinder- und Jugendliteratur ausgehend in vergleichender Absicht aktuelle Beispiele aus der allgemeinen Literatur und dem Bereich anderer Medien heranziehen und so die Perspektiven auf ‚poetische Häuser‘ erweitern.

Kurze Abstracts mit bio-bibliografischer Angaben werden erbeten bis zum 01.09.2022 an Inger Lison (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.) und Jan Standke (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.).

Die fertiggestellten Beiträge im Umfang von ca. 48.000 Zeichen inkl. Leerzeichen sollen bis zum 03.03.2023 vorliegen.