Auf der Tagung zur Kinder- und Jugendliteratur in der DDR, die vom 08. bis 10. September 2022 an der Universität Potsdam stattfand, ging es darum, sich im zeitlichen Abstand der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) in der DDR überhaupt erst wieder zu nähern. Nachdem in den 1990er Jahren noch verschiedene Arbeiten zur DDR-KJL erschienen sind (u.a. Dolle-Weinkauff/Peltsch 1990; Gansel 1995, 1997, 1999; Richter 1991, 1995, 1996), bildet das wichtige Handbuch zur DDR-Kinderliteratur SBZ/DDR 1945-1990, das von einem Team um Rüdiger Steinlein verantwortet wurde (Steinlein u.a. 2006), gewissermaßen den Abschluss. Seitdem finden sich nur vereinzelt Beiträge zur KJL in der DDR (u.a. Becker 2020, Gansel 2010, 2022, Max 2020, Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2021, Roeder 2020), die einzelne Aspekte in den Blick nahmen. Die Tagung in Potsdam, an der mit Christa Kozik, Jutta Schlott und Uwe Kant auch Autorinnen und Autoren teilnahmen und deren Ergebnisse publiziert werden, suchte dabei Fakten zum Handlungssystem KJL in der DDR zu dokumentieren, mithin auch Verlagsfragen in den Blick zu bekommen. Für die nächste Phase der Beschäftigung soll es weiterhin darum gehen, einem modernisierungstheoretischen Ansatz zu folgen. Zutreffend haben Stefan Pabst und Anderea Jäger (2020) darauf verwiesen, dass in dem Fall, da die DDR-Literatur einseitig an einem westlichen Modell von Modernisierung gemessen wird, eine Art Negativselektion stattfindet. So heißt es zutreffend: „Als modern gelten im Wesentlichen autonome, formal selbstreflexive, subjektive und kritisch auf die gesellschaftliche Normalität bezogene Literaturen [Petersdorff 2009] im Kontext eines ausdifferenzierten Gefüges gesellschaftlicher Teilsysteme [Emmerich 1988]. Dieser, der DDR-Literatur äußerliche und in seiner Normativität oft unausgewiesene Modernebegriff konnte in Bezug auf die DDR-Literatur nur zu Defizitbeschreibungen kommen, die entweder Diktaturgeschichte monokausal auf den Umgang mit der Moderne als ‚verfemte Moderne‘ [Erbe 1993] zurückführte oder aus der Perspektive eines nur scheinbar formalisierten Begriffs der Moderne als fortschreitender gesellschaftlicher Differenzierung zu einem Begriff der ‚verspäteten Moderne‘ [Emmerich 1988] oder der ‚Vormoderne‘ [Hüppauf 1991] kam.“ (ebd.)

Insofern erfahren der Zugewinn an Autonomie eine positive Wertung, Einschränkungen von Autonomie stattdessen eine negative. Für das Literatursystem DDR ergaben sich allerdings zunächst andere Funktionssetzungen, die Literatur übernahm zunächst – vereinfacht gesagt – „sozialaktivistische Aufgaben“ (Uwe Johnson), und dies betraf sowohl die Allgemein-, als auch die Kinder- und Jugendliteratur. Mit anderen Worten: Literatur suchte identitätsstiftend, kollektivbildend und gesellschasftslegitimierend zu wirken. Und sie konnte sich dabei in marxistischem Sinne auf reale Veränderungen der sogenannten materiallen Basis berufen (u.a. kein Privateigentum an Produktionsmitteln, daher neues Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen). Wenn also beispielsweise auf dem II. Schriftstellerkongress 1950 von der „Darstellung des Neuen“ die Rede war und immer wieder der „neue Gegenstand“ angesprochen wurde, dann ist in systemtheoretischer Perspektive das „Programm“ der neuen DDR-Literatur gemeint (Gansel 2022). Es geht mithin um die favorisierten Gattungen und Genres und letztlich um die literarischen Darstellungsweisen. Im Kern ist mit dem „neuen Gegenstand“ vor allem auf das „Was“, also die ‚histoire‘, Bezug genommen. In den Fokus geraten der Raum bzw. Schauplätze, es geht um Figuren mit entsprechenden Handlungen auf „Feldern der Neubauernhöfe“ oder in neuen volkseigenen Betrieben. Es sind dies in der Tat „Geschehnisse“ von einer veränderten historischen Qualität. Denn zweifellos stellt die „Überführung in Volkseigentum“, also die Herstellung des sogenannten gesellschaftlichen Eigentums, etwas dar, das es in der deutschen Geschichte in dieser Form bis dahin nicht gab. Für die KJL in der DDR in den 1950er Jahren spielt – um ein Beispiel zu geben – daher auch das Dorf als Schauplatz eine zentrale Rolle (u.a. Benno Pludra „In Wiepershagen krähn die Hähne“, 1953; Erwin Strittmatter „Tinko“, 1954; Alfred Wellm „Die Kinder von Plieversdorf“, 1959). Die Weitung des kindlichen Blickwinkels auf soziale Realität und ihre Probleme bedeutete einerseits einen Gewinn, andererseits führte er auch zu einem gewissen Ausblenden von Individuellem, von kindlichen Interessen und inneren Widersprüchen (Gansel 1999). Genau dies wurde ab Beginn bzw. Mitte der 1960er Jahre offenbar, und es kam zu Modifizierungen. Die kindliche bzw. jugendliche Identität gewinnt an Bedeutung (u.a.„Karl Neumann „Frank und Irene“, 1964; Alfred Wellm „Kaule“, 1962).

Der zweite Teil der Tagung soll sich nunmehr auf die Endsechziger Jahre und 1970er Jahre konzentrieren und dies aus folgendem Grund: Mit dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker kam es zu Veränderungen, die auch das artikulierte Verhältnis von Partei und Staat zur Literatur betrafen. Auf dem entscheidenden VIII. Parteitag der SED, der vom 15. bis 19. Juni 1971 stattfand, war Erich Honecker bereits der Berichterstatter. Er äußerte sich auch zu Schriftstellern und Künstlern und wiederum zum „neuen Gegenstand“. Die Rede war von einem „offenen, sachlichen, schöpferischen Meinungsstreit darüber, wie der neue Gegenstand immer besser gemeistert werden kann.“ Der Meinungsstreit setze „eine enge Verbindung der Künstler mit dem Leben und ihr bewußtes, tiefes Verständnis für die Entwicklungsprozesse unserer Gesellschaft“ voraus. „Dann werden die Schriftsteller und Künstler“, so Erich Honecker, „ohne Zweifel nicht nur die richtigen, unserer Gesellschaft nützlichen Themen in den Mittelpunkt des Schaffens stellen, sondern auch die ganze Breite und Vielfalt der neuen Lebensäußerungen erfassen und ausschöpfen.“ Offen blieb, welches konkret die „nützlichen Themen“ sind. Bereits einige Monate später kam es zu jener Aussage, die in der Folgezeit von Autorinnen und Autoren als Indiz für ein neues Selbstverständnis des Partei- und Staatsapparates gewertet wurde. Auf der 4. Tagung des ZK der SED vom 17. Dezember 1971 notierte Erich Honecker: „Wenn man von den festen Positionen des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet der Kunst und Literatur keine Tabus geben." (ND, 18.12.1971) Diese Aussage war längst überfällig, denn bereits Ende der 1960er Jahre setzte das ein, was Werner Mittenzwei die „ästhetische Emanzipation“ der DDR-Literatur nannte. Ausgehend davon setzte auch in den Gesellschaftswissenschaften eine verstärkte kritischen Reflexion der Ost-Moderne ein und es wurde über das Funktionsverständnis von Literatur nachgedacht. Dabei spielte einmal mehr der Begriff der „gesellschaftliche Funktion“ eine Rolle (vgl. Gansel 2022).

Insofern ergaben sich in den 1970er Jahren maßgebliche Veränderungen in der KJL, und sie reichten bis in die 1980er Jahre hinein (Richter 2000). Bei einem grundsätzlichen Festhalten am Gesellschaftsbezug und dem „Zukunftsversprechen DDR“ (Uwe Johnson) begannen Autorinnen und Autoren (u.a. Edith Bergner, Christa Kožik, Benno Pludra, Gerti Tetzner, Uwe Kant, Gunter Preuß, Jutta Schlott) zu prüfen, welche Möglichkeiten die Gesellschaft dem Einzelnen lässt, wie sich Ideal und Wirklichkeit zueinander verhalten, wie es um die proklamierten Ideen der Anfangsjahre bestellt ist, welche Möglichkeiten der Einzelne hat, wie er bzw. sie sich einbringen kann und was dem entgegensteht (Gansel 1999/2020). Das erklärt, warum in den avancierten Texten ein Formen- und Funktionswandel stattfindet, es zu Veränderungen im Figuren- und Konfliktaufbau kommt, mithin das „Was“ und „Wie“ der Darstellung betroffen ist. Zunehmend zeigt sich dabei ein Dissens zwischen Einzelnem und der Gesellschaft. Die kindlichen/jugendlichen Protagonisten reiben sich nunmehr an gesellschaftlichen Instanzen (Schule, Betrieb, gesellschaftliche Organisationen) bzw. ihren Trägern (Erwachsene, Funktionäre) und ihre inneren Konflikte werden dargestellt (u.a. Ulrich Plenzdorf "Die neuen Leiden des jungen W.“, 1972; Alfred Wellm "Pugowitza oder die silberne Schlüsseluhr", 1975; Benno Pludra "Insel der Schwäne", 1980). In diesem Kontext spielen auch die Wiederentdeckung der Potentiale phantastischen Erzählens eine Rolle (Roeder 2006, Gansel 1989) wie auch das Neuerzählen antiker Mythen und klassischer Stoffe der Weltliteratur (Franz Fühmann „Prometheus“, 1974; Werner Heiduczek „Die seltsamen Abenteuer des Parzival“, 1974; Stephan Hermlin „Argonauten“, 1974, Rolf Schneider „Herakles“, 1978).

Die Tagung wird veranstaltet von den Universitäten Gießen und Potsdam. Organisation/Leitung haben Prof. Dr. Carsten Gansel und Dr. Monika Hernik in Verbindung mit Dr. José Fernández Pérez.

Tagungsort: Universität Potsdam

Tagungstermin: 07.-09.09.2023

Die Beiträge können entsprechend auf folgende Schwerpunkte ausgerichtet sein:

  • Einzelanalysen ausgewählter Texte als Reflex auf gesellschaftliche Modernisierungsphänomene in der DDR;
  • Untersuchungen zur Rolle phantastischer Präsentationsarten und zu Adaptionen mythischer Stoffe;
  • Darstellungen, die unter Einbeziehung von Verlagsgutachten zeigen, was an einzelnen Texten in den Status einer „Aufstörung“ geriet;
  • Verfilmungen von DDR-KJL (u.a. „Insel der Schwäne“, Moritz in der Litfaßsäule“) sowie weitere mediale Inszenierungen (Theater, Comic, Kinderfernsehen)
  • Debatten zur KJL auf ausgewählten Tagungen im Rahmen des Schriftstellerverbandes;
  • Entwicklungen innerhalb des Verlagswesens (Kinderbuchverlag, Verlag Neues Leben);
  • Stand bzw. Veränderungen innerhalb der Kinder- und Jugendzeitschriften seit Ende der 1960er Jahre (ABC-Zeitung, Frösi)

Die genannten Aspekte verstehen sich als Rahmen für Beitragsvorschläge. Weitere Anregungen sind ausdrücklich erwünscht. Die Veranstalter erbitten kurze Abstracts und Informationen zum CV (ca. 15 Zeilen) bis zum 31. März 2023 an folgende Anschriften:

 

Prof. Dr. Carsten Gansel

Justus-Liebig-Universität Gießen

FB 05 Sprache, Literatur, Kultur

Germanistisches Institut

Otto-Behaghel-Str. 10B

35394 Gießen

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Dr. Monika Hernik

Universität Potsdam

Universitätscampus II Golm
Haus 16, Raum 2.05
Karl-Liebknecht-Str. 24-25
14476 Potsdam OT Golm

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Dr. José Fernández Pérez

Justus-Liebig-Universität Gießen

FB 05 Sprache, Literatur, Kultur

Germanistisches Institut

Otto-Behaghel-Str. 10B

35394 Gießen

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[Quelle: Pressemitteilung]