Die Grußworte von Rektorin Claudia Vorst, die als Leitung der Hochschule und Literaturdidaktikerin die Tagung eröffnete, veranschaulichten schon vorab, wie elementar die Verbindung von frühkindlichem Spiel und literarischer Rezeption ist. Die einführenden Überlegungen von Sebastian Bernhardt und Eva-Maria Dichtl stellten dann heraus, wie untrennbar Literatur und Spiel sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption von Literatur miteinander verknüpft sind. Ausgehend von Betrachtungen zum Wesen von Literatur im Kontext der Postmoderne leiteten sie her, dass Literatur das Spiel wesenhaft eingeschrieben hat und konturierten das Spiel als protoliterarische Tätigkeit. Hierbei wurde deutlich, dass Merkmale des Spiels bereits konzeptionelle Anschlussfähigkeiten zur Rezeption von Literatur aufweisen. Diese programmatischen Überlegungen wurden im Rahmen der Tagung facettenreich weiter ausdifferenziert.
Im ersten Vortrag gab Dorothea Hüsson, Professorin für Soziale Arbeit und Diakonie an der TH Reutlingen, einen Einblick in die Theorie und die empirische Beobachtung des frühkindlichen Spiels, die Spielpädagogik und die Spieltherapie. Zentral waren hierbei entwicklungspsychologische Perspektiven auf das Spielen von Kindern. Zudem fokussierte sie die Wechselwirkung zwischen Spiel und Literatur und stellte u.a. dar, inwiefern sich Nähe (Involviertheit) und Distanz (Bewusstsein um den Spiel-Charakter einer Tätigkeit) während des Spielens immer wieder abwechseln. Diese spielpädagogische Prämisse war der Grundstein für weitere interdisziplinär ausgerichtete Diskussionen im weiteren Tagesverlauf. Insbesondere die Frage, inwiefern das kindliche Spiel als Ausdrucksmittel und Erlebnisprozess verstanden wird, wurde im Rahmen der Tagung immer wieder diskutiert. Dabei wurde auch überlegt, inwiefern die Rezeption literarästhetischer Gegenstände als Erlebnis wahrgenommen wird und inwiefern die rezipierten Welten zum Teil für den Moment der Rezeption auch als Realität wahrgenommen werden. Im Anschluss näherte sich Florenz Gilly (HU Berlin, Wien) dem Papiertheater als potenziell immersivem Gegenstand an. Dabei arbeitete er sich zunächst an Überlegungen zu näheerzeugenden Verfahren der Bildkunst ab und zeigte am Beispiel des historischen Papiertheaters, dass trotz einer gewissen Statik doch Potenzial gegeben sei, die Betrachter*innen in die Welt der Bildbogen zu involvieren. In der anschließenden Diskussionsrunde wurden Bezüge zur elementarpädagogischen Praxis des Erzähltheaters Kamishibai und Vergleiche zum kindlichen Umgang mit Spielwaren wie Playmobilfiguren gezogen. Deutlich wurde, dass auch unbewegliche und dadurch vorgegebene Inszenierungen wie das Papiertheater zum mentalen Spielen einladen, wobei die Grenze der Möglichkeiten des Gegenstandes erreicht zu sein scheint, wenn zu viel Konkretisierung vorgegeben ist und damit zu wenig Freiheit für individuelles Spielen bleibt.
Im dritten Vortrag gab Anna Ulrike Franken (Qualitäts- und UnterstützungsAgentur - Landesinstitut für Schule des Landes Nordrhein-Westfalen) einen Einblick in ihre empirische Forschung zu spielerischer Rezeption von Literatur durch Kinder. Zunächst stellte sie drei metafiktionale Bilderbücher vor, die allesamt mit einer gezielten Offenlegung ihrer Fiktionalität arbeiten: Eine perfekt verhunzte Geschichte von Patrick McDonnell (2017), Hier kommt keiner durch! von Isabel Minhós Martins (2017) und Chester ist wieder da! von Mélanie Watt (2012). Sie zeigte auf, inwiefern kindliche Rezipient*innen im Rahmen von Vorlesegesprächen mit Impulsfragen auf die nicht lineare Handlung und die metafiktionale Perspektive reagierten und auf welche Weise immersives bzw. nicht-immersives Rezipieren stattfand. Als spannend stellte sich heraus, dass die Kinder zum Teil gerade durch die Brüche in der Handlung und die illusionsstörenden Momente nicht irritiert waren, auch wenn den meisten Kindern sehr wohl die Mehrdeutigkeiten auffielen und sie insbesondere Spaß am Abbruch der Geschichten empfanden. Allerdings stellen sich Konventionsbrüche und Überschreitungen diegetischer Ebenen nicht automatisch als denkanregend heraus. Das Erkennen von Konventionsbrüchen setzt voraus, dass die Konventionen als solche bekannt sind. Insofern ist zu bedenken, dass das literarische Spiel mit Ebenen für die Rezeptionsseite durchaus voraussetzungsreich sein kann. Wenn das Spiel mit der Offenlegung des fiktionalen Charakters erkannt wurde, gelangten die Kinder allerdings zu vielfältigen Interpretationshypothesen.
Nach der virtuellen Mittagspause befassten sich Jan-Niklas Meier und Ulrike Preußer (Universität Bielefeld) mit Pen-and-Paper-Rollenspielen und den Chancen der Förderung von Selbst- und Fremdverstehen. Das leiteten sie aus der allgemeinen Spieltheorie ab und übertrugen diese Grundlegungen auf theatrale und gesellschaftliche Rollenspiele. Das Pen-and-Paper-Rollenspiel wurde dabei als eine Verknüpfung aus Theaterspiel und gesellschaftlichem Rollenspiel konturiert. Unter Bezugnahme auf fiktionstheoretische Überlegungen und Fragen zur imaginativen Positionierung im Spiel, gelangten Meier und Preußer zur Betrachtung der immersiven Imagination als "rollenspielerisches Mindset". So werde im Rahmen von Pen-and-Paper-Rollenspielen die Fertigkeit der Perspektivkonstruktion und die Imagination innerhalb der Grenzen der gestalterischen Freiheit ausgeprägt. Damit erscheint das Pen-and-Paper-Rollenspiel als Fiktionsspiel, in dessen Rahmen Symbol- und Rollenspiel ineinander übergehen und eine figurengebundene "imagination from the inside" ermöglicht werde. Gerade die Chancen des Imaginierens aus der eigenen Betrachtungsposition sowie die Bezugnahme auf literarische Scripts und Frames wurde in der anschließenden Diskussionsrunde aufgegriffen und anhand von Praxisbeispielen diskutiert.
Nachfolgend nahmen Hannah Berner, Friedemann Holder, Maribel Maier (PH Freiburg) und Wolfgang Bay (PH Schwäbisch Gmünd) Materialität als Teil der Narration in den Blick und stellten ihre empirische Untersuchung zur Metalepse in Isabel Minhós Martin’s Hier kommt keiner durch! (2017) dar. Am Beispiel des Buchfalzes zeigten die Beiträger*innen, dass die Materialität nicht nur konstitutiv für die Narration ist, sondern auch zur Sinngenese des Bilderbuches beiträgt. So sei das zentrale Merkmal, dass eine Erzählfigur die jeweils rechte Seite weiß und unberührt lassen wolle, was durch handelnde Figuren immer wieder unterlaufen wird, sodass die materielle Grenze zwischen den Seiten immer wieder überschritten werde. Auch diese Forschungsgruppe gelangte zu der Einsicht, dass das Spiel mit den Ebenen und die Überschreitung der Grenzen für die Kinder weniger irritierend ist als für die wissenschaftlichen Rezipierenden, die mit einem literaturwissenschaftlich geschulten Blick an die Gegenstände herangehen. Hier wird erneut deutlich, dass für das Erkennen des Spiels auch die Kenntnis der Spielregeln elementar ist. In der anschließenden Diskussionsrunde wurden die empirischen Erkundungen Frankens sowie der Forschungsgruppe Berner, Holder, Mayer und Bay ebenso wie deren Vorgehensweisen zu dem Bilderbuch Hier kommt keiner durch! miteinander verglichen.
Andrea Struck und Lisa Ingermann (Universität Rostock) stellten daraufhin die Spielbilderbuchreihe Pierre, der Irrgarten-Detektiv (2015) vor. Dabei verwiesen sie auf den nicht-linearen Weg eines Irrgartens und parallelisierten dies mit dem Weg der Entwicklung literarischer Kompetenz. Ein Spielbilderbuch biete viele Möglichkeiten, literarische Kompetenz zu fördern, da sowohl Immersion als auch Narration enthalten seien. Durch konkrete textbasierte Anforderungen an kindliche Rezipient*innen und aktive Einflussnahme kann die Empathiefähigkeit ebenso wie beim gemeinsamen Spielen gefördert werden. Dabei stellten Struck und Ingermann die spielbilderbuchtheoretischen Besonderheiten klar heraus und stellten das motivationsförderliche Arrangement der angelegten Involvierung dar: So bestünde die Besonderheit der Irrgarten-Bücher darin, dass die Rezipient*innen aufgefordert werden, zum Teil der Handlung zu werden und mitzuhelfen bei der Suche nach Gegenständen innerhalb der Bilder, die zum Teil schon Wimmelbildern ähneln. Dabei erarbeiteten sie auch die materiellen Grenzen dieses Immersionspotenzials: Wenn Kinder einfach weiterblättern, werden sie entsprechend auch nicht in die Handlung eintauchen. Im Rahmen der Diskussion wurde auch besprochen, dass hier allgemeine Fragen nach Wiederholung und Variation zu stellen seien, um herauszufinden, wie lange der spielaktivierende Charakter aufrechterhalten werden kann. Zudem stellt es sich hier als ein Spannungsfeld heraus, die Anteile der narrativen Vorgaben und der spielaktivierenden Freiheiten genau zu konturieren und zu klären, inwieweit ludische Elemente für die Immersion konstitutiv sind.
In Rebecca Jakobs‘ (Landesinstitut für Pädagogik und Medien des Saarlandes) Beitrag wurde im Anschluss ein Computerspiel beleuchtet. Mit Gibbon – Beyond the trees (2022), einem Autorunner-Game, zeigte Jakobs die Balance zwischen Können und Herausforderung für mögliche Rezipient*innen auf. Der Rezeptionsmodus, der an manchen Stellen des Spiels plötzlich stoppt und gewissermaßen als strategisches Element zu betrachten ist, reißt Rezipient*innen aus ihrer Immersion und schafft so ein Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz. Diese Elemente sind insofern zentral, als durch das Durchbrechen der Immersion die Narration erst als solche wahrgenommen werden kann. Gerade in der Anschlussdiskussion gab Jakobs spannende Einblicke in interdisziplinäre Diskurse zur Immersion: So sei aus Sicht der Informatik ein deutlich enger zu fassender Immersionsbegriff zu bemerken. Erneut wurde ersichtlich, dass das immersive Potenzial von Gegenständen bei genauer Betrachtung recht voraussetzungsreich ist. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern der wissenschaftliche Blick auf Immersion mit kindlichen Immersionserfahrungen übereinstimmt. Diese Diskussion wurde als ein wichtiges und elementares Desiderat festgehalten, das weitere Forschung nach sich ziehen sollte und wird.
Abschließend stellte Anne Peiter (Universität von La Réunion) französische Bilderbücher mit dem Thema des Zubettbringens von Kindern vor und fokussierte den Zusammenhang zwischen Erziehung und Pädagogik. Diesen Zusammenhang stellte sie anhand der bildlichen Darstellung des Einschlafens dar, ein Prozess, der einem Habitus gleichkommt. In der anschließenden Diskussion wurde insbesondere der immersive Gehalt der Werkbeispiele diskutiert. Hierbei wurde deutlich, dass erneut die Näheerzeugung auf Bild- wie auf Textebene den Schlüssel für Anschlussüberlegungen zum Spielcharakter darstellt.
Insgesamt war die Tagung von einer starken und intensiven gemeinsamen Suchbewegung charakterisiert und zeichnete sich durch eine sehr engagierte und konstruktive Diskussionskultur aus. Dies zeigte sich auch in der Abschlussdiskussion, in der wesentliche Aspekte des Zusammenhangs zwischen Spiel und Literatur resümiert und Perspektiven für den im Herbst 2023 erscheinenden Tagungsband entwickelt wurden. In dessen Zentrum stehen konkrete Perspektivierungen für den wechselseitigen Zusammenhang zwischen kindlichem Spiel und literarischer Rezeption. Einerseits sollen potenzielle Involvierungsstrategien aufgezeigt werden, die durch spielerische Aktivierung Zugänge zu Literatur schaffen können, und andererseits auch die spielerische Aktivierung durch andere literarästhetische Gegenstände betrachtet werden.