Inhalt
Das Mädchen Thandi wohnt mit ihrer Mutter in einem abgelegenen Dorf in Südafrika. Der Vater arbeitet in Kapstadt als Zeitungsverkäufer – nur an wenigen Tagen im Jahr kann die Familie beisammen sein und trotz dieser Distanz zeichnet sich das Bild einer engen Familiengemeinschaft ab. Als Thandis Vater entgegen der Gewohnheit an ihrem Geburtstag nicht nach Hause kommt, machen sich Tochter und Mutter auf die Suche und somit eine lange Reise. Für Thandi ist es überhaupt das erste Mal, dass sie ihren Wohnort verlässt, mit dem Bus fährt, Ampeln sieht, Straßenverkehr und auch Stadtkinder kennenlernt. Nach einigen Widerständen und drohender Hoffnungslosigkeit finden sie Thandis Tata im Krankenhaus, in welches er nach einem unverschuldeten Unfall eingeliefert worden war.
Trotz der unsicheren Zukunftsaussichten (Brille und Handy des Vaters sind defekt, das Geld knapp, sein Job in der Hand eines anderen), überwiegt die Freude über die Gesundheit und den gemeinschaftlichen Moment.
Kritik
Als einsträngig erzählte Geschichte ohne größere erzähltechnische Finessen, d. h. wenigen handelnden Figuren, klarer Charakterisierung sowie kurzen und einfachen Sätzen, sieht man sich auf den ersten Blick vermeintlich relativ leichter Kost gegenüber – die ihrerseits mit dem schwerverdaulichen Plot zu kontrastieren scheint: So können sich wohl viele Rezipient*innen mit dem Gefühl der Traurigkeit identifizieren, wenn sie am Geburtstag allein gelassen werden. In diesem Fall kommt aber auch noch die große Unsicherheit hinzu, dass dem Vater etwas wirklich Schlimmes zugestoßen sein könnte, dass er einfach nicht erreicht werden kann und dass er einfach so weit weg ist. Diese Unsicherheit ist für Thandi Alltag. Für erwachsene westliche Leser*innen ist sie auch ein postkolonialer Fausthieb – vielleicht gerade, weil der Trauermoment im Kontext des Geburtstags so universell wirkt und hier doch spezifisch ein Armut bedingendes neokoloniales Machtgefälle greift. Thandi als Charakter und in ihrem Alltag braucht hingegen so gar kein Mitleid. Außerdem reproduzieren Mitleidsgeschichten Stereotype ("Hunger, Armut, Elend, Krieg"; van Dijk; zit. n. Poppendieck 2023) viel eher, können zur Perpetuierung von Vorannahmen gereichen – und damit Denkmustern wie das von den 'armen Kindern in Südafrika' oder dem White Saviorism erst Vorschub leisten.
Thandi trifft zudem tatsächlich auf Kinder, die im monetären Sinne arm sind. Sie leben auf der Straße, haben keine Eltern, wenig zu essen und ob ihrer Historie raue Umgangsformen. Gleichzeitig ist damit noch überhaupt nichts über Glück oder Unglück dieser Kinder gesagt. Thandi begegnet ihnen offen – auf Augenhöhe und mit einem Tauschhandel dessen, was beide Seite begehren: Schuhe gegen Hinweise über den Verbleib des Vaters. In all der strukturellen Ungleichheit bleibt so in der Erzählung doch eines gewahrt: die Würde der Charaktere. So frei von äußeren Bewertungsmustern wurde selten ein Kinderbuch für den westlichen Markt erzählt.
Bildtextlich untermalen die Illustrationen des in Südafrika geborenen Subi Bosa hauptsächlich den Text, reichern diesen seltener an, konterkarieren aber in Ausnahmen durchaus den Inhalt:
Durch die bedrohlich anmutende Stimmung, die mittels Bewegungslinien und gebogenen Hälsen der Ampeln intensiviert und in Mimik und Gestik Thandis beglaubigt wird, ergibt sich eine deutungsoffene Ambivalenz in der Wahrnehmung der Hauptfigur: Die Großstadt "[s]ieht schön aus", wirkt aber zugleich bedrohlich auf das Kind. Bosas Illustrationen zeichnen sich durch hohe Originalität und Eigenständigkeit aus: Bei erstaunlich unbeweglicher Mimik und Gestik der Figurenzeichnung gelingt es gleichzeitig, ein Kaleidoskop verschiedener Perspektiven und Stile zu präsentieren, die immer emotionalisierend, nie jedoch – und das ist die Parallele zum Text – mitleidsheischend sind.
Lutz van Dijk, seines Zeichens deutsch-niederländischer Herkunft mit Wahlheimat in Kapstadt, sagt selbst, er schreibe, um Mut zu machen, um Stärke und Resilienz innerfiktional zu zeigen und zu-gleich in der außerliterarischen Welt zu fördern. Mitleid ist also das falsche Konzept (vgl. van Dijk; zit. n. Poppendieck 2023), aber gemeinsam mit den Figuren durch Höhen und Tiefen gehen funktioniert wunderbar. Es funktioniert auch, weil Thandi so echt ist. Sie ist keine künstliche Kinderfigur. Sie ist auch kein runder Charakter und doch ganz greifbar. Dies mag daran liegen, dass van Dijk sich nichts ausdenkt. Seine Fiktion basiert eigentlich immer auf true-to-life-Stories. Thandi hat zwar einen anderen Namen, aber ein Mädchen aus seinem Lebenskontext hat ihm all das so erzählt. Van Dijk möchte Lebensrealitäten zeigen, möchte die Vielfalt im Alltäglichen verdeutlichen. Krankenhausaufenthalte gibt es eben nicht nur in der Conni-Reihe, sondern auch im südafrikanischen Alltag.
Dass dies kein Lippenbekenntnis ist, zeigt van Dijks langjährige Tätigkeit als Mitbegründer eines Hauses für benachteiligte Kinder in einem Township. Unlängst hat er einem Schützling beim Abfassen seiner eigenen (harten) Lebens-Geschichte assistiert. Dem eventuell möglichen Vorwurf, dass ein Weißer aneignend über Schwarze Lebenswelten in afrikanischen Ländern schreibe, lässt sich entgegnen: Van Dijk ist ein diesen Umstand reflektierender, postkolonial geschulter und Südafrika-kennender Mensch, der sich eher als Medium versteht, um Geschichten mit Schwarzen Protagonist*innen auf den europäischen Markt zu vermitteln. In einem Gespräch antwortete der Autor auf die daran anschließende Frage, ob das alles nicht auch eine tragische Komponente habe (Nicht-Kind-sein-Können etc.), man übersehe leicht, dass abseits der eurozentrisch eingestellten Brille auf Kindheitskonzepte, die häufig nur eine Bullerbü-Kindheit als glückliche gelten lässt, Zufriedenheit durchaus darin bestehen könne, dass ein Kind essen darf, wenn es Hunger hat, und schlafen, wenn es müde ist.
Im Pressetext des Verlags wird die Geschichte vielleicht etwas zu reißerisch und exotisierend als "spannende Reise in eine fremde Welt" klassifiziert, "die zeig[e], dass jeder, der nicht so schnell aufgibt, viel mehr entdecken kann, als er gesucht hat." Auf diesen Weg "zwischen Tradition und Moderne" begibt sich zwar auch Thandi selbst, insbesondere aber dürften sich in Europa lebende Kinder dort wiederfinden.
Während sich das geschilderte Großstadtleben nicht allzu befremdlich ausnehmen dürfte, gibt es die fremde Welt in einer ganz anderen Richtung zu entdecken: Denn wenn man sich darauf einlässt, das häufig eurozentrisch stereotype Afrika-Bild der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur hinter sich zu lassen, das durch bemitleidenswerte und vor allem stets defizitäre Blicke gestaltet wird, findet man ein differenziertes Panorama (Süd-)Afrikas. Familiärer Zusammenhalt und ausbeuterische Lohnarbeit stehen unvermittelt gegenüber. In diesen Diskontinuitäten lässt sich indessen nicht nur überleben, sondern auch zufrieden sein.
Dass die Erzählform eher traditionell ist, rückt in den Hintergrund, wenn man in Rechnung stellt, dass es sich bei Thandi gibt nicht auf um eines der sehr wenigen Bücher für Kinder handelt, die unaufgeregt, wert- und vorurteilsfrei vom Leben eines afrikanischen Mädchens in deutscher Sprache erzählen. Über den Alltag, die Probleme und schönen Momente.
Fazit
Dass Kinderbücher auch ohne fabelhaftes Happy-End auskommen können, in der Zeichnung starker Figuren, die das Leben stolz und resilient meistern – darin liegt die Stärke des überzeugend illustrierten Kinderbuchs, das zudem auf eindrückliche Art und Weise zeigt, dass Südafrika nicht gleich Afrika ist und Afrika generell nicht dem nivellierenden Abziehbild des 'Schwarzen Kontinents' entspricht. Die Verknüpfung von Fiktion und Fakten zu 'Land und Leuten' auf einer letzten Doppelseite weckt darüber hinaus das Interesse, sich ein wenig tiefer in die sozioökonomischen Begebenheiten (und deren historische Verwurzelung) hineinzudenken. Unsere Leseempfehlung lautet daher: Zum Vorlesen ab 5 Jahren.
- Name: van Dijk, Lutz
- Name: Bosa, Subi