Eine Neuentdeckung

Gefunden habe ich insgesamt sechs neue Erzählungen von Else Ury, die z.T. in recht entlegenen Zeitungen/Zeitschriften im Zeitraum zwischen 1906 und 1918 erschienen sind. Diese Funde belegen einmal mehr die bisher kaum verifizierte Behauptung, Ury habe zu Beginn ihrer „Karriere“ kurze Texte vor allem für diverse Publikationsorgane verfasst, die nicht ausschließlich für Kinder und Jugendliche bestimmt waren. Außerdem zeigt diese Tatsache, dass sie offenbar weitreichende Beziehungen und Kontakte  vermutlich in der jüdischen Community gehabt haben muss, was u.a. die außergewöhnlichen Erscheinungsorte nahelegen. Hinzu kommen zwei weitere Aspekte: Zum einen lassen sich der o.g. Zeitraum und die unterschiedlichen Textsorten als eine Art Experimentierfeld interpretieren, ehe offenbar eine endgültige Entscheidung für das Genre Kinder- und Jugendliteratur fällt. Zum anderen belegen diese Funde, von denen zwei in holländischer Sprache (und nicht zuvor in deutscher Sprache) erschienen sind, dass Ury auch über den deutschen Sprachraum hinaus eine Leserschaft gefunden hat.

Im Einzelnen handelt es sich um folgende Texte (in chronologischer Reihenfolge):

  1. Die humoristische Skizze L I Postamt 27, abgedruckt in „Montagsrevue aus Böhmen“ (3. Dezember 1906)
  2. Die Erzählung Der Strom Vergessenheit, erschienen im „Blatt der Hausfrau“, Heft 4 (März/April 1907)
  3. Die Erzählung Eerste Liefde, abgedruckt im „Sorabaiasch-Handelsblad“ (22. Mai 1907) in holländischer Sprache
  4. Eine Art philosophische Betrachtung mit dem Titel Zonneregen in der javanesischen Zeitung „De Preanger-Bode“ (7. Mai 1909), ebenfalls in holländischer Sprache
  5. Die Erzählung Das Eiserne Kreuz, veröffentlicht in der deutschsprachigen „New Ulm Post“ in Minnesota, USA (30. Juli 1915)
  6. Als Schlussteil einer Reihe Erzählungen für „Onkel Franz“ die kleine Geschichte Knecht Ruprechts Irrtum, erschienen im „Prager Tagblatt“ (6. Januar 1918).

Bereits länger bekannt sind drei Texte aus dem Feuilleton der „Vossischen Zeitung“, die jedoch in den hier behandelten Kontext „Schriften in Publikationsorganen für erwachsene Leser“ gehören (Text 7 und 8 entdeckt von Barbara Asper, Text 9 von Hannelore Kempin).

Hierzu zählen folgende Texte:

  1. Der Reisebericht Aus dem Arlberggebiet (14. September 1910)
  2. Eine autobiographische Skizze Mutterfreuden (10. Dezember 1910)
  3. Ein Stimmungsbild Gestörte Saison (31. Juli 1914)

Diese drei Texte sollen hier zusammen mit den neu aufgefundenen erläutert und analysiert werden.

Die Neuentdeckungen aus Urys Feder im Überblick

L I Postamt 27

Das Digitalisat der „Montagsrevue aus Böhmen“ (3. Dezember 1906) ist hier verfügbar

Die Erzählung L I Postamt 27  aus dem Jahre 1906 beginnt mit den Selbstzweifeln der Protagonistin Ilse Leonhard, die unschlüssig ein Päckchen Briefe mit einer Heiratsannonce in der Hand hält und nicht weiß, ob sie zu dem Treffen gehen soll, das der Briefpartner zur Bedingung macht, wenn er den Kontakt weiter aufrecht erhalten will. Sie hat mit ihrer Freundin die Annonce aus Übermut und Trotz aufgegeben, als ihr Vetter Werner nach vier Jahren des Studiums nach Hause zurückkehrt und sie nicht mehr zu beachten scheint, obwohl er ihr vor seinem Weggang deutlich gezeigt hatte, dass sie ihm mehr bedeutet. Bei der gemeinsamen Mittagsmahlzeit bemerkt der Vetter ihr verändertes Wesen und spricht sie darauf an, worauf sie beleidigt und schnippisch reagiert. Seine unsensible Reaktion darauf sorgt dafür, dass sie das Zimmer verlässt. Beide hängen ihren Gedanken nach und finden nicht den Mut zu klärenden Worten. Ilse entschließt sich, den vermeintlich einfühlsameren Briefpartner kennenlernen zu wollen. Am Treffpunkt sind beide freudig überrascht, als sie einander erkennen. Es kommt zu dem notwendigen Gespräch, wobei sie nicht nur in den früheren vertrauten Tonfall verfallen, sondern auch ihr jeweiliges Fehlverhalten eingestehen sowie das Versprechen der Anzeige – spätere Heirat nicht ausgeschlossen – durch einen langen Kuss besiegeln.

Der romantische Text mit vorausschaubarem Ende folgt dem Muster vieler Backfischgeschichten. Das Besondere an der anonym geführten Korrespondenz beider  Protagonisten besteht darin, dass hier, im Jahre 1906, die Frau sich aktiv bemüht, ihre innersten Wünsche und Gedanken zu offenbaren und diese vom Partner akzeptiert und als wünschenswert angesehen werden.

Der Strom Vergessenheit

Das Digitalisat des „Blatt der Hausfrau“, Heft 4 (März/April 1907) ist hier verfügbar

Der Text Strom der Vergessenheit von 1907 lässt sich lesen wie eine Parabel auf das Leben mit seinen Höhen und Tiefen, seinen Freuden und Schmerzen, der unablässigen Suche des Menschen nach Vergessen, wenn ihn ein schwerer Schicksalsschlag getroffen hat.

Ursel, die die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens in unbeschwerter Heiterkeit verbracht hat unter der Ägide ihres „Taufpaten“ – dem Tag – wird von einer Stunde zur nächsten konfrontiert mit Schmerz und Trauer (Verlust des geliebten Bräutigams), als ihre zweite „Taufpatin“ – die Nacht – Einfluss auf ihr Leben gewinnt. Diese zeigt ihr zwar eine Möglichkeit, mit Verlust und Trauer umzugehen, indem sie sie auf eine lange Suche nach dem Strom des Vergessens schickt, doch bieten die ihr angebotenen Lösungen (Lust, Vergnügen, Arbeit) keine Perspektive, mit ihrem Leben ins Reine zu kommen. Als Ursel schließlich das Ziel ihres Weges erreicht, erkennt sie, dass sie über ihre Suche alt geworden ist und gerade noch die Kraft besitzt, den ihr angebotenen Becher mit dem heilenden Wasser zu trinken.

Die allegorische Darstellung des menschlichen Schicksals wird präsentiert mit märchenhaften Elementen (z.B. die Taufpaten der neuen Erdenbürgerin erinnern an Dornröschen, die drei Etappen ihrer Suche an die oft im Märchen verwendeten drei Anläufe/Versuche zur Lösung eines schwierigen Problems). Entgegen der Märchentradition findet die Protagonistin zwar das, was sie zeitlebens gesucht hat, stirbt aber dabei. Es kann durchaus sein, dass in diese Erzählung autobiographische Aspekte der 30jährigen Autorin eingeflossen sind. Diese Erzählung kommt zwar im Gewand eines Märchens daher, berührt aber menschliche Schicksalsschläge und die Reaktionen Einzelner darauf, sodass der Text in seiner Gänze nur von einem erwachsenen Leserkreis verstanden werden kann.

Eerste Liefde

Der Titel Eerste Liefde der gleichnamigen Erzählung von 1907 lockt den Leser zunächst auf eine falsche Fährte. Erst im Laufe der Lektüre erschließt sich die Doppelbödigkeit seiner Aussage.

Die Lehrerin Anna Möller steht an einem sonnigen Oktobertag vor ihrer unruhigen Klasse, die merkt, dass die sonst so strenge und gewissenhafte Lehrerin abgelenkt und unkonzentriert ist und vergeblich versucht, sich aus ihren Tagträumen zu reißen. Ihre quälenden Gedanken verfolgen sie auch bis in ihre Mansardenkammer, lenken sie von ihrer Korrekturarbeit ab und lassen sie gegenüber ihrer Wirtin Fräulein Hintze, die ihr Kaffee bringt, abweisend und unhöflich erscheinen. In ihrem Tagtraum glaubt die korrekte preußische Lehrerin an die Erfüllung lang gehegter Wünsche und Sehnsüchte, die ausgelöst werden von einem zerknitterten Stück Papier, auf dem ihre Urlaubsbekanntschaft Oskar Schwalbe sie um eine Unterredung bittet, von der sein Lebensglück abhängt. Ihre Gefühlswelt ist total aufgewühlt, mit eiserner Disziplin zwingt sie sich, die unbekannten Gefühle zu ignorieren. Sie wägt ihre Chancen ab: Er ist zwar ein paar Jahre jünger als sie, aber in ihrem Denken und Fühlen ist sie jung geblieben. Vor den Augen ihrer Nichte Elli hat er ihr im Urlaub den Hof gemacht, und sie hat ungläubig erlebt, dass nun auch in ihr stilles Leben die Liebe Einzug gehalten hat. Sie unterdrückt den Impuls, ihm spontan zu schreiben, damit er weiterhin hoch von ihr denkt. Sie versagt es sich, ihrem Glück entgegenzugehen, ihrer Liebe und ihrem Verlangen nachzugeben. Ihre Herkunft hat sie immer Pflichtgefühl gelehrt und Verlockungen zu widerstehen. Sie träumt davon, am selben Abend als seine Verlobte da zu stehen und zieht sich mit besonderer Sorgfalt für dieses alles entscheidende Treffen an, verzichtet aber auf jedes missverständliche äußere Zeichen, die auf ihn wirken könnten, als ob sie sich aufdonnern wolle. Ihre Blicke richten sich auf die goldene Abendsonne, die Welt um sie scheint ihr hoffnungsfroh verändert. Am Treffpunkt bezwingt sie jegliche Spontaneität, und beide wechseln nur belanglose Worte über das Wetter. In seiner unbeholfenen, zögerlichen Art erinnert Schwalbe sie an den vergangenen Sommer und erbittet von ihr Unterstützung und Zustimmung. Erst im nächsten Satz wird ihr klar, dass er nicht sie meint, wie von ihr erhofft, sondern sie bei ihrem Bruder ein gutes Wort für ihn bei seiner Werbung um ihre Nichte einlegen soll. Erst jetzt fällt ihre ganze Hoffnung in sich zusammen. Am nächsten Morgen kann man sie bei Nieselregen mit einem Packen Bücher unterm Arm pflichtbewusst auf ihrem Schulweg sehen. „Der Nachsommer ist zu Ende“.

Diese bittere Geschichte von Pflichtbewusstsein, Selbstverleugnung, Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung wird spannend erzählt, bis zuletzt glaubt der Leser mit der Protagonistin an ein beglückendes Ende für sie. Die Erscheinungen des Herbstes als Zeit der Erfüllung und des Vergehens werden parallelisiert mit den Gefühlen der Hauptfigur. Ihre Hoffnungen, Sehnsüchte, Erwartungen werden sensibel eingefangen und dargestellt. Insgesamt eine für die gesellschaftlichen Normen des 19. Jahrhunderts typische Erzählung. Im Werk der 30jährigen Autorin sind Thema und Darstellung singulär, möglicherweise stellen sie eine Verarbeitung eigenen Erlebens dar, der entlegene Erscheinungsort auf Java könnte die schützende Anonymität des Dargestellten bewahren.

Zonneregen

Das Digitalisat des „Preanger-Bode“ vom 7. Mai 1909 finden Sie hier

Die Reflektion Zonneregen aus dem Jahre 1909 handelt von einer Erscheinungsform des menschlichen Daseins, das sich auch in der Natur beobachten lässt: der Tatsache, wie nah Lachen und Weinen beieinander liegen und sich oft nicht steuern oder Ursachen erkennen lassen. Die Autorin geht aus von Naturphänomenen, die sie auf ihrer Flucht aus der städtischen Steinwüste vor allem im Frühjahr häufig im Gebirge beobachtet hat: An einem regenschweren Tag, an dem alles grau in grau erscheint, klart es plötzlich auf, und die Sonne breitet ein goldenes Licht über die Landschaft aus. Diese faszinierende Beobachtung lässt die Schreiberin an analoge Beispiele aus der Menschenwelt denken. Diese plötzlichen, unmotivierten Stimmungsumschwünge beschreibt sie bei Kleinkindern, Backfischen, Bräuten, im Verhältnis zwischen Mutter und Kind, Großvater und Enkel. Nicht nur die Liebe, sondern auch gesellschaftliche Zwänge bewirken diese Stimmungswechsel, überall im täglichen Leben stößt man auf dieses Phänomen; sie führt ein sie faszinierendes historisches Beispiel (das Verhalten von Märtyrern) an und beschreibt das gegenwärtige Martyrium eines Menschen, wenn er seine echten Gefühle hinter einer Fassade oder ungeweinten Tränen verbergen muss. Derjenige, der perfekt die Kunst versteht, mit einem Auge zu weinen und mit dem anderen zu lachen ist der Humorist, wenn wir seine Ausführungen lesen und uns entscheiden müssen, ob wir lachen oder weinen sollen angesichts eines Missstandes, gleichen wir dem eingangs beschriebenem Naturphänomen.

Der Text richtet sich eindeutig an erwachsene, lebenserfahrene Leser, er hebt menschliche Verhaltensweisen ins Bewusstsein und initiiert damit möglicherweise eine genauere Beobachtung und Analyse unserer Mitmenschen, erklärt unter Umständen deren unerklärlich erscheinenden Reaktionen als etwas zutiefst Menschliches und Natürliches, dessen man sich nicht zu schämen braucht. Damit erfüllt der Text auch eine trostspendende Funktion.

Das Eiserne Kreuz

Ein Digitalisat der „New Ulm Post“ (30. Juli 1915) findet sich hier

Die Erzählung Das Eiserne Kreuz (1915) handelt von der Begegnung zweier Freunde, eines Deutschen und eines Russen, auf dem Schlachtfeld. Der Privatdozent Bernhard Neubert findet nach einem anstrengenden Kampftag keinen Schlaf, da er glaubt, im Kampfgetümmel seinem russischen Studienfreund Iwan Pietrowicz kurz gegenübergestanden und ihn im Nahkampf nicht getötet zu haben. Am Ende des Tages erhält er für seine Tapferkeit das lang ersehnte Eiserne Kreuz. Nun quält ihn der Gedanke, ob er dieses zu Recht erhalten hat, weil er in seiner Gewissensnot den Freund/Feind geschont und damit seine vaterländische Pflicht verletzt hat. Während der Nacht kommt es zu erneuten Kampfhandlungen: Diesmal rettet ihn das Eiserne Kreuz vor dem tödlichen Stoß, den ein russischer Offizier ihm zufügen will. Bei einem plötzlichen Lichtschein erkennt der Russe, wen er vor sich hat, wird aber im gleichen Moment tödlich verwundet und sinkt dem Freund in die Arme, der ihn aus dem Gewehrfeuer schleift. Die Situation verstärkt Neuberts Gewissensnot: Soll er bei dem sterbenden Freund bleiben oder zu seinem vom Feind in die Enge getriebenen Regiment zurückkehren? Das Klirren des Kreuzes beantwortet für ihn diese Frage, mit aller Kraft wehrt er den feindlichen Angriff ab, der gegen Morgen erfolgreich beendet ist. Anschließend beerdigt er den gefallenen Freund und erweist ihm in stillem Gedenken die letzte Ehre. Nun weiß er sich frei von aller Schuld und würdig für seine Auszeichnung.

Ury gelingt es in dieser Erzählung, die nächtliche Stimmung nach dem lauten Kampfgetümmel des Tages in eindrucksvollen Bildern einzufangen, die das gesamte Grauen der Schlacht, die Schrecken des Krieges widerspiegeln, und die Gewissensqualen des Protagonisten überzeugend darzustellen. Immer wieder werden die kriegsbegeisterten und hurrapatriotischen Reaktionen der Kämpfenden gebrochen und relativiert durch die zutiefst menschlichen Gefühle der Hauptperson, ihre inneren Kämpfe und auch das Entsetzen des russischen Gegners, als er den Studienfreund wiedererkennt. Der alte, zutiefst menschliche Konflikt zwischen Pflicht und Neigung wird von Ury realitätsnah und weitgehend unsentimental dargestellt, ohne dabei nationale Vorurteile zu schüren.

In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass in ihrem Werk fast ausschließlich das Kampfgeschehen an der Ostfront thematisiert wird (Lieb Heimatland, Flüchtlingskinder, Lilli Liliput, Nesthäkchen und der Weltkrieg), was die Vermutung nahelegt, dass sie auf persönliche Berichte/Erfahrungen aus ihrem Verwandten- oder Freundeskreis zugreifen konnte. Eine Ausnahme bilden drei Details aus Nesthäkchen und der Weltkrieg (die Arbeit von Dr. Braun in einem französischen Lazarett, die Internierung seiner Frau in England und der Aufenthalt von Onkel Heinrich in einem Lazarett an der Westfront). Alle Weltkriegsdarstellungen Urys werden vor 1916 geschrieben, also vor der Kriegswende 1917 durch den Eintritt der USA in das Kriegsgeschehen. Die differenzierte Darstellung des Kriegsgeschehens in der Erzählung passt gut zur politischen Haltung der Redaktion der New Ulm Post, Minnesota zu dieser Zeit, was vielleicht auch ein Grund für das Erscheinen des Textes in diesem Publikationsorgan sein könnte.

Knecht Ruprechts Irrtum

Das Digitalisat des „Prager Tagblatts“ vom 6. Januar 1918 findet sich hier

In bewährt märchenhaftem Ton erzählt Ury in Knecht Ruprechts Irrtum von 1918 für einen unbekannten „Onkel Franz“, wie man Kindern die Ankunft eines neuen Geschwisterchens erklären kann. Die drei Eberhard-Geschwister Hilde, Fritz und Erika dürfen allein über Neujahr zur Großmutter aufs Land fahren, bei der sie sich immer gerne aufhalten. Der jüngsten Schwester wird erzählt, dass Knecht Ruprecht verspätet (zu Neujahr) noch eine Puppe für sie abgegeben habe. Als die Kinder nach einigen Tagen wieder nach Hause kommen, zeigen ihnen die Eltern die neue lebendige Puppe in der Wiege. Als sich herausstellt, dass es sich dabei um ein Brüderchen handelt, lehnt Erika diese „Gabe“ als „Irrtum“ rundweg ab. Die Eltern wollen die lebendige Puppe jedoch nicht „zurückschicken“ und freuen sich, dass aus ihrem Kleeblatt ein vierblättriger Glücksklee geworden ist.

Diese Neujahrsgeschichte im Prager Tagblatt spricht junge Leser an und ist mit einem anderen Text (von Lotte Hannesen) und einer anderen Illustration (von Janne Graffmann)  auf einer Jugendseite vereint. Als Inspiration für diese Geschichte kann die Geburt ihres späteren Lieblingsneffen und Universalerben Klaus Heymann (* 4. Januar 1918) gedient haben. Else Ury benutzt in ihrem Werk häufiger die Gestalt des Knecht Ruprecht (z.B. Knecht Ruprechts Rundfunk, Nesthäkchen im weißen Haar, Der Sandmann kommt) an Stelle des Weihnachtsmanns. Über einen Grund dafür lässt sich nur mutmaßen: Im Brauchtum des nördlichen und mittleren deutschen Sprachraums ist dieser Gehilfe des heiligen Nikolaus verbreitet, allerdings am Vorabend des 6. Dezember als negativer Genosse des positiv besetzten Nikolaus, übernimmt er die drohende/strafende Rolle. Ob Ury auch auf Storms Gedicht Knecht Ruprecht von 1862 rekurriert oder das 1919 erschienene satirische Kindergedicht Paula Dehmels Knecht Ruprecht in Nöten, kannte, mit der sie in Meidingers Kinderkalender zusammenarbeitete, lässt sich nicht sagen. Vielleicht wollte sie besonders die erzieherische Funktion des Knecht Ruprecht betonen. Der Weihnachtsmann vereint sowohl die Eigenschaften des Bischofs Nikolaus von Myra (Symbol des Schenkens) als auch die seines Begleiters Knecht Ruprecht (Symbol für das Strafen). Es ist aber auch gut möglich, dass Ury als jüdisch sozialisierte Autorin die oben genannten Unterschiede der weihnachtlichen Figuren nicht so genau kannte oder unsicher in ihrem Gebrauch war.

Texte aus der Vossischen Zeitung

Da die drei Texte aus der „Vossischen Zeitung“ einem breiteren Publikum wenig bekannt sein dürften, werden sie hier noch einmal kurz wiedergegeben und analysiert, gehören sie doch zu den Texten Urys, die nicht explizit für Kinder bestimmt sind.

Aus dem Arlberggebiet

Königlich privilegierte Berlinische Zeitung (Vossische Zeitung), Nr. 431. Feuilleton. Für Reise und Wanderung, Beilage 14. September 1910

Urys Reisebericht Aus dem Arlberggebiet aus dem Jahre 1910 beschreibt sachkundig, ausführlich und anschaulich diverse Wandertouren der Region mit Schwierigkeitsgrad, aber auch folkloristischen Besonder- und Naturschönheiten aus eigener Anschauung und eigenem Erleben. Viele der Felsformationen, Täler und Gewässer werden mit anthropomorphen Vergleichen dargestellt. Ursprünglichkeit und Schlichtheit von Natur und Menschen wird der technische Fortschritt in Gestalt der Eisenbahn gegenübergestellt, die mit ihren durchdringenden Geräuschen und intensivem Dampf zunächst den Erholungswert für einen neu angekommenen Pensionär im Gasthof zur Post in Frage stellt. Witzig und ironisch schildert sie ihre ersten zwei Nächte unmittelbar neben der Bahnstrecke, um dann in der dritten Nacht erleichtert festzustellen, dass „die Gewohnheit […] uns wie einen Starmatz ab[richtet]“. Zivilisationskritisch äußert sie sich zu den Besuchern, die eine 18minütige Fahrt mit der Bahn durch den 10 249 Meter langen, dunklen Arlbergtunnel den zwar mühseligen, aber doch herrlichen Wanderungen über die verschiedenen Passhöhen vorziehen. Einen Höhepunkt bildet auch die ironische Beschreibung des allabendlichen Almabtriebs, bei dem sich die Großstädter nicht nur darüber wundern, dass selbst kleine Hütejungen mit schlafwandlerischer Sicherheit die eigenen Tiere aus den für die Gäste gleich aussehenden Kühen und Zicklein herausfinden, sondern sich die Pensionäre auch der „geistigen Anstrengung“ des Zählens der Tiere unterziehen. Bedauern äußert sie darüber, dass die Gäste die einheimischen Kulturdarbietungen zu wenig würdigen.

Insgesamt ein amüsanter und sachkundiger Reisebericht in einer Zeit, als das Reisen für bürgerliche Kreise immer üblicher wurde, aber insgesamt nicht mit der heutigen Mobilität zu vergleichen ist.  

Mutterfreuden

Königlich privilegierte Berlinische Zeitung (Vossische Zeitung), Nr. 579. Morgenausgabe, 10. Dezember, 1910

In dem autobiographisch gefärbten Erfahrungsbericht Mutterfreuden von 1910 beschreibt Ury, wie ihr dreijähriger Neffe Fritz Ury (*1906) bei ihr einquartiert wird, nachdem er eine Schwester (Marlene *1909) bekommen hat, um dem Baby bzw. der Mutter mehr Ruhe zu gönnen. Mit guter Beobachtungsgabe schildert sie, wie all ihre theoretischen (Er-)Kenntnisse über konsequente Kindererziehung durch das Verhalten des Knirpses über den Haufen geworfen werden. Ihre Erfahrungen über die unausgesetzten Fragen des Kleinen nach dem „Warum“ aller Handlungen und Phänomene des täglichen Lebens bringen sie an den Rand ihrer logischen Erklärungsmöglichkeiten. Humorvoll stellt sie dar, wie ihr ruhiges Arbeitszimmer sich in ein chaotisches Kinderzimmer verwandelt. Ihre Erzählkünste faszinieren den Neffen, wenn er sich auch nicht damit abfinden kann, dass Geschichten irgendwann zu Ende sind und er schlafen soll. Sie stellt resümierend fest, wie der kleine Gast zunehmend sie erzieht, ihr Geduld beibringt, sie nach seinen Anweisungen handeln, sie auch nachts vor Sorge „nachtwandeln“ lässt. Allerdings kann sie sich nicht mit seinem Schlummertier, einem in ihren Augen scheußlichen Stoff-Dackel, anfreunden. Dass sie mit ihren Erziehungsversuchen kläglich am ausgeprägten Wissensdurst des Jungen scheitert und häufig das Gegenteil dessen erreicht, was sie anstrebt, bringt sie an ihre Grenzen und lässt sie schließlich resignieren.

Mit genauen Detailbeobachtungen, Bewunderung für die Phantasie und den Einfallsreichtum des Jungen, aber auch herzlicher Zuneigung gibt sie detailgetreu und in authentischer Kindersprache die Dialoge zwischen Tante und Neffen wieder, sodass ein lebendiges und lebensechtes Bild der Schwierigkeiten entsteht, vor denen unerfahrene Erwachsene stehen, wenn sie guten Willens sind und Kinder lieben, diese auch angemessen zu betreuen. Es geht auch um den Konflikt zwischen von zu übermittelnden gesellschaftlichen Normen und dem Einfühlungsvermögen in die von Spontaneität, Authentizität und Phantasie geprägte Kinderwelt.

Gestörte Saison

Im Stimmungsbild Gestörte Saison, erschienen am 31. Juli 1914, aus dem böhmischen Kurort Johannisbad am Tag nach der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung an Serbien am 28. Juli 1914 zeigt Ury die ganze Bandbreite der Reaktionen und Auswirkungen auf den normalen Alltag der Menschen in diesem Kurort. Sie erzählt von dem Jammer und Elend, das eine solche politische Entscheidung für ortsansässige Familien, Beschäftigte des Badelebens vom Hotelmajordomus über den Hotelkoch bis zu den Mitgliedern der Kurkapelle, für Gastwirte und Kurgäste darstellt, wie Nachrichtensperre und Priorisierung militärischer Belange für Hektik, Aufregung, Trauer und Schmerz sorgen.

Der Wunsch nach baldigem Frieden steht im Mittelpunkt des Textes, die patriotische Stimmung tritt zurück zugunsten all der negativen Begleiterscheinungen, die die Mobilmachung mit sich bringt. Ury erweist sich auch hier als genaue Beobachterin, für die Mitmenschlichkeit Vorrang vor Patriotismus hat. Die Daten und die detaillierten Ortskenntnisse sprechen dafür, dass Familie Ury wahrscheinlich den Kriegsausbruch in Böhmen oder Schlesien erlebt hat. Else Ury hat ihre Beobachtungen bzw. Erlebnisse direkt aufgeschrieben und damit als Zeitzeugin das zu Papier gebracht, was Historiker später immer wieder beschrieben haben: Die Bevölkerung wurde nach den diversen, glimpflich verlaufenen Krisen des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts von dem tatsächlichen Ausbruch des 1. Weltkriegs vollkommen überrascht. Dass der Kriegsausbruch eine Zeitenwende darstellen sollte, die das 19.Jahrhundert beendete und in eine neue Weltordnung führte, war niemandem bewusst, auch Else Ury nicht. Die Mehrheit glaubte allenfalls an eine „gestörte Saison“.

Alle neun hier behandelten Texte haben als erste äußere Gemeinsamkeit, dass sie in Tages- oder Wochenzeitungen bzw. Zeitschriften erschienen, die nicht explizit für Kinder- und Jugendliche bestimmt sind, sondern für ein erwachsenes, vielseitig interessiertes Publikum. Nur ein Text richtet sich ausdrücklich an Kinder (Text 6), ein weiterer könnte für junge Mädchen gedacht sein (Text 1). Die übrigen sprechen eher oder ausschließlich einen erwachsenen Leserkreis an.

Von den Gattungen her lassen sie sich unterschiedlichen Textsorten zurechnen z.B. Reisebericht, humoristische Skizze, Stimmungsbild, Erzählung. Deshalb kann man sie durchaus verstehen als ein Experimentierfeld, auf dem Themen, Textsorten und deren Wirkungen erprobt werden, als eine Suche nach der vorrangigen „Bestimmung“ der Autorin. Im fraglichen Zeitraum 1906-1918 erschienen neben diesen Zeitungstexten insgesamt 17 Romane und Erzählsammlungen und zahlreiche Einzeltexte für Kinder und Jugendliche, die Urys eigentliche Begabung zeigen. Elemente dieser „Begabung“ z.B. genaue Beobachtungsgabe, Kinderliebe, Humor, märchenhafte Phantasie lassen sich jedoch auch in ihren Zeitungstexten wiederfinden.

Else Ury war eine Vielschreiberin, die alles, was sie sah und bewegte, aufgeschrieben bzw. in literarische Texte umgesetzt hat, wie bereits die stattliche Zahl der bis 1918 publizierten Schriften zeigt. Neben der Selbsterfahrung mit unterschiedlichen Themen und Texten umzugehen, kann auch die materielle Unterstützung ihrer Familie ein wichtiges Motiv gewesen sein, mit möglichst vielen Arbeiten Geld zu verdienen. Hinzu kommt, dass sich ihr aufgrund offenbar weitverzweigter Verbindungen in der jüdischen Community viele Veröffentlichungschancen eröffneten, die sie gern wahrnahm.

Ausblick

Abschließend möchte ich noch ein kurzes Wort zu den Zeitungen/Zeitschriften verlieren, in denen die neu aufgefundenen Erzählungen erschienen sind. Bei der „Montags Revue aus Böhmen“ (1870-1915) handelt es sich um eine politisch und kulturell einflussreiche Wochenzeitung für Politik, Finanzen, Kunst und Literatur, deren Bedeutung im Kulturteil lag. „Das Blatt der Hausfrau“ (1886-1933) war eine Modezeitung mit Schnittmustern und Kinderbeilage des Ullstein Verlags in Berlin, die von 1890-1921 auch in Wien erschien mit dem Titelzusatz „Österreichisch-ungarische Zeitschrift für Angelegenheiten des Haushalts“. Bei dem täglich erscheinenden „Sorabaiasch-Handelsblad“ (1853-1942) handelt es sich um die zweite Zeitung, die in Surabaya in Niederländisch-Indien veröffentlicht wurde und Nachrichten, Themen von allgemeinem Interesse einschließlich Film und Buchbesprechungen als Schwerpunkt behandelte. „De Preanger-Bode“ war eine weitere täglich erscheinende Zeitung in Niederländisch-Indien (1896-1957) und hatte einen gediegenen journalistischen Ruf. Die deutschsprachige „New Ulm Post“ aus Minnesota (1864-1933) erfuhr viele Besitzerwechsel und entwickelte sich von einer eher liberalen zu einer eher konservativen Zeitung. Die aus Prag stammende deutschsprachige Tageszeitung „Prager Tagblatt“ (1876-1939) galt als eine der besten deutschsprachigen, freisinnigen Tageszeitungen Böhmens. Das Spektrum der Zeitungen ist also weit gefächert, es handelt sich in fast allen Fällen um überregionale, hoch angesehene Blätter.   

Ich verdanke die neu gefundenen Texte den vorzüglich aufbereiteten digitalisierten Zeitungsarchiven der Österreichischen Nationalbibliothek mit der unerlässlichen Suchfunktion „Volltextsuche“. Leider können die Bestände der Berliner Staatsbibliothek noch nicht auf diese Art und Weise durchsucht werden. Ich gehe davon aus, dass es dort noch weitere Überraschungen geben wird.