These 1:
Aufgabe der Literaturdidaktik ist es, erzähltheoretische Konzepte, die die Literatur- und Medienwissenschaft bereitstellen, nicht bloß zu adaptieren und zu reduzieren, sondern in eigene Modellierungen zu überführen.

Bezugswissenschaften der Literaturdidaktik sind u. a. die Literatur- und Medienwissenschaft. Deren erzähltheoretisches Begriffsinventar stellt für die im Rahmen der Tagung angestellten Überlegungen einen maßgeblichen Orientierungspunkt dar, weil es Möglichkeiten bietet, den Blick auf Texte, deren Handlungsmuster und Darstellungsweisen sowie -strategien zu lenken. Aufgabe der Literaturdidaktik ist es jedoch nicht, die erzähltheoretischen Theoreme und Kategorien, die die Literatur- und Medienwissenschaft bereitstellen, unverändert zu adaptieren oder didaktisch zu reduzieren, sondern vielmehr, sie mit Blick auf Unterrichtsprozesse in eigene Modellierungen zu überführen.

These 2:
Erzähltheoretisch orientierter Literaturunterricht ist nicht mit einer literaturwissenschaftlichen Propädeutik zu verwechseln.

Wenn die Literaturdidaktik sich erzähltheoretischer Kategorien und Begrifflichkeiten bedient und eine Kartographie des Umgangs mit literarischen Texten vorlegt, dann sollte es dabei nicht darum gehen, auf ein mögliches literaturwissenschaftliches Studium vorzubereiten. Das Ziel sollte vielmehr darin bestehen, SchülerInnen durch die Anwendung erzähltheoretischer Konzepte und Begriffe einen Zugang zu den Eigengesetzlichkeiten narratoästhetischer Medien zu ermöglichen.

These 3:
Der Umgang mit erzähltheoretischen Termini im Literaturunterricht sollte nicht zum Selbstzweck werden. Vielmehr sollte von der Funktionalität der Begriffe für Deutungsprozesse ausgegangen werden. Dazu sollten schon für die Primarstufe Modellbildungen angestellt und in das Handlungswissen der SchülerInnen überführt werden.

Im Literaturunterricht ist es für SchülerInnen häufig wenig transparent, nach welchen Kriterien Deutungen zustande kommen. Ein erzähltheoretisch fundierter Literaturunterricht kann hier Abhilfe leisten, indem SchülerInnen Kategorien und Begriffe als Hilfsmittel an die Hand gegeben werden, um literarische Texte kundig und strategieorientiert zu untersuchen und auf dieser Grundlage zu interpretieren. In einem propädeutischen Sinne sollte schon in der Primarstufe eine Sensibilisierung für erzähltheoretisches Handwerkszeug erfolgen.

These 4:
Im Literaturunterricht sollte nicht nur die Rezeption literarischer Texte und Medien mithilfe von narratologischen Begrifflichkeiten und Kategorien, sondern auch die Produktion eine Rolle spielen.

Eine verstärkte Berücksichtigung der Produktion literarischer Texte und Medien insbesondere in der Sekundarstufe I und II kann u.a. dazu führen, dass den SchülerInnen die Konstruktionsprinzipien dieser in einer Art Learning by doing bewusst gemacht werden​. Die Produkte der Schülerinnen und Schüler können Hinweise darauf geben, welche Strukturen des Erzählens Ihnen schon (implizit) geläufig sind. Eine nach Möglichkeit selbstentdeckende Einführung von Begriffen kann darauf aufbauen. Die Kenntnis von Begriffen kann dann wiederum zu einem Ausbau der produktiven Fähigkeiten beitragen.

These 5: Im Literaturunterricht sollte immer auch thematisiert werden, dass es sich bei erzähltheoretischen Begrifflichkeiten und Kategorien um Konstrukte zur Beschreibung von Textphänomenen handelt, die veränderbar sind und keine Letztgültigkeit beanspruchen.

Narratologische Modelle stellen Begrifflichkeiten und Kategorien zur Beschreibung von Textphänomenen bereit, die sich voneinander unterscheiden, veränderbar sind und unterschiedliche Akzente setzen. Für den Literaturunterricht könnte es vor diesem Hintergrund ertragreich sein, unterschiedliche erzähltheoretische Modelle (z.B. von Stanzel, Genette, Schmid, Petersen etc.) und die Frage, was diese jeweils für die Analyse bzw. Interpretation literarischer Texte (nicht) leisten können, mit SchülerInnen zu diskutieren. Überdies könnten gemeinsam mit den SchülerInnen eigene Modellierungen entwickelt werden, die sich aus den unterschiedlichen zuvor thematisierten erzähltheoretischen Ansätzen speisen.

These 6: Die Literaturdidaktik sollte die von ihr bereitgestellten Modelle zur Vermittlung erzähltheoretischer Begriffe und Kategorien immer wieder (selbst-)kritisch vor dem Hintergrund neuerer Entwicklungen in der Literatur- und Medienwissenschaft sowie empirischer Ergebnisse zum Umgang von SchülerInnen mit Erzähltexten hinterfragen und ggf. überarbeiten.

Ein (selbst-)kritischer Blick ist für die Literaturdidaktik insofern zentral, als ihre Aufgabe u.a. darin besteht, wissenschaftlich fundierte Modelle und Konzepte für die Vermittlung erzähltheoretischer Begrifflichkeiten und Kategorien für die Unterrichtspraxis zu generieren. Diese sollten stets den aktuellen Stand der Forschung in den unterschiedlichen relevanten Bezugsdisziplinen sowie der eigenen Disziplin, aber auch die Eigenlogik der Unterrichtspraxis berücksichtigen.

These 7: Erzähltheoretische Kategorien verstehen sich in der Literaturdidaktik als Werkzeug, das Texte auf- und nicht abschließt. Im Sinne des Eigenwertes ästhetischer Objekte geht es nicht um eine abschließende Charakterisierung und Erfassung der Artefakte, sondern um die Eröffnung differenzierter Zugänge.

Die erzähltheoretischen Termini sind als Werkzeug zur Erstellung einer Analyse und/oder Interpretation zu verstehen. Daraus folgt, dass die Termini ihre Brauchbarkeit am Text erweisen, nicht umgekehrt. Durch die erzähltheoretische Sichtweise wird eine Übersichtlichkeit und Komplexitätsreduktion in die Beschreibung literarischer Texte gebracht. Für die Produktion von Texten bedeutet dies, dass erzähltheoretisches Wissen die eigenen Möglichkeiten der Darstellung erweitern oder Vermittlungsprobleme lösen kann, es aber nie Ziel sein sollte, narratologische Konzepte streng ‚umzusetzen‘. Der Text zeigt, was darstellbar ist, nicht die Theorie.

These 8: Im Literaturunterricht sollten nicht nur Phänomene auf Ebene des discours mithilfe erzähltheoretischer Begrifflichkeiten z.B. von Genette in den Blick genommen werden, sondern auch das Zusammenspiel von discours und histoire sollte Berücksichtigung finden.

Da Interpretationen literarischer Texte immer Phänomene sowohl auf Ebene der histoire (Figuren, Raum etc.) als auch des discours (Perspektive, Zeit etc.) einbeziehen, sollte in der Arbeit mit diesen im Literaturunterricht weder eine einseitige Fokussierung auf den discours noch auf die histoire erfolgen. Stattdessen sollte das Zusammenspiel beider Ebenen verstärkt mitreflektiert und berücksichtigt werden.