Im Folgenden soll das diskursive Machtspiel "Definieren" nicht um einen weiteren Spielzug fortgeführt und eine neue Definition aufgestellt werden. Es wird im Gegenteil davon ausgegangen, dass es eine allumfassende, in jeder Hinsicht und zu allen Zeiten gültige Definition dieses kulturellen Phänomens nicht geben kann und dass es auch gar nicht sinnvoll ist, danach zu suchen.

Der Vielzahl der historisch und aktuell verwendeten Termini – Erziehungsschriften, Kinderschriften, Jugendschrifttum, Jugendbuch, Kinder- und Jugendliteratur, um nur erst einige zu nennen – wie der unterschiedlichen Verwendungen ein und derselben Termini korrespondiert eine Inhomogenität des Gegenstands, die trotz aller Anstrengungen zu keinem Zeitpunkt beseitigt werden konnte. Wir haben es bei der Kinder- und Jugendliteratur nicht mit einem klar umgrenzten Bereich, sondern mit einer Mehrzahl von Bereichen zu tun, die sich zwar in hohem Maße überlappen, doch jeweils verschiedene Ränder aufweisen. Jedem dieser Bereiche entspricht eine eigene Definition. Eine erste Reihe von Definitionen soll im Folgenden entwickelt werden.

1. Kinder- und Jugendliteratur: ein bestimmtes Textkorpus

Die Mehrzahl der im Folgenden entwickelten Definitionen von Kinder- und Jugendliteratur […] stimmt darin überein, dass sie ihren Gegenstand als ein Korpus von Texten, als einen Bestand von literarischen Werken mit bestimmten Gemeinsamkeiten, mit einem oder mehreren identischen Merkmalen ansehen. Nach diesen Definitionen stellt die Kinder- und Jugendliteratur einen Ausschnitt, einem abgegrenzten Teil aus dem literarischen Gesamtangebot dar.

Literarische Werke nach bestimmten Kriterien auszuwählen und zu einem Korpus zusammenzustellen, steht einem jeden nach Belieben zu. Es existieren jedoch auch Korpusbildungen, die intersubjektive Anerkennung genießen, die – mehr noch – von Generation zu Generation weitergereicht werden und dabei zu einer mehr oder weniger feststehenden Einrichtung geworden sind. Textkorpora dieser Art gehören zu den Tatsachen des kulturellen Lebens und der Wissenschaften. Es wird im Folgenden in erster Linie von solchen Korpora die Rede sein.

Dabei geht es zunächst um Korpora, die hauptsächlich von Wissenschaftlern, Sammlern und Bibliographien mit dem Ziel gebildet worden sind, das Gesamtfeld der Kinder- und Jugendliteratur einzugrenzen.

2. Das Korpus der faktischen Kinder- und Jugendlektüre

So ist vorgeschlagen worden, unter Kinder- und Jugendliteratur die Gesamtheit der von Kindern und Jugendlichen tatsächlich konsumierten Literatur zu verstehen. Seinem gesamten Umfang nach dürfte dieser Ausschnitt aus dem literarischen Gesamtangebot wenn überhaupt, dann nur annäherungsweise zu erfassen sein.

Dennoch hat es immer wieder Versuche gegeben, empirisch zu ermitteln, welche Titel von Kindern und Jugendlichen tatsächlich gelesen werden. In der neueren Kinder- und Jugendliteraturforschung hat sich zur Bezeichnung des von Kindern und Jugendlichen faktisch konsumierten Teils des literarischen Gesamtangebots der Terminus "Kinder- und Jugendlektüre" etabliert (Brüggemann 1977, S. 21; Klingberg 1973, S. 25: "die gesamte von Kindern und Jugendlichen konsumierte Literatur"; Scherf 1975, S. 151; Doderer 1977, S. 161).

Um das Gemeinte noch eindeutiger hervortreten zu lassen, soll im Folgenden von faktischer Kinder- und Jugendlektüre die Rede sein. "Lektüre" meint hierbei nicht den Akt der Literaturrezeption, sondern die von einer bestimmten Personengruppe gelesenen Titel. Nach älterem Sprachgebrauch geht es hier um die tatsächlichen Lesestoffe von Kindern und Jugendlichen.

Es hat sich eingebürgert, zur faktischen Kinder- und Jugendlektüre nicht die Schullektüre, d.h. die Unterrichts- und die unterrichtsbegleitende Lektüre, zu zählen. Texte, die im Unterricht eine Rolle spielen, werden jedoch von Kindern und Jugendlichen in Einzelfällen durchaus auch außerhalb des Unterrichts konsumiert, wie umgekehrt Freizeitlektüre von Kindern und Jugendlichen im Schulunterricht aufgegriffen wird. Die Kinder- und Jugendlektüre ist von der Schullektüre folglich allein durch ein situatives Kriterium abzugrenzen.

Mit faktischer Kinder- und Jugendlektüre wäre dann die Gesamtheit der von Kindern und Jugendlichen außerhalb des Unterrichts und auch nicht begleitend zu diesem gelesenen Texte gemeint. Mit dem situativen Kriterium ist eine weitere Eigenschaft verknüpft: Die im Unterricht oder begleitend zu ihm konsumierte Lektüre ist in der Regel Pflichtlektüre. Bei der faktischen Kinder- und Jugendlektüre haben wir es demgegenüber mit einer freiwilligen Lektüre zu tun.

3. Das Korpus der intendierten Kinder- und Jugendlektüre

Ein anderes Textkorpus bildet die Literatur, die Kinder und Jugendliche lesen sollen – und zwar nach der Vorstellung der Gesellschaft, nach Auffassung von Autoren, Verlegern, Kritikern, Buchhändlern, Bibliothekaren, Geistlichen, Lehrern, Erziehern, Eltern etc. Auf diesem Ausschnitt aus dem literarischen Gesamtangebot bezieht sich eine andere Definition: Nach dieser umfasst die Kinder- und Jugendliteratur all die Titel, die von der Gesellschaft als eine geeignete Lektüre für Kinder und Jugendliche angesehen werden. Einem literarischen Werk, einer Gattung oder einem bestimmten Ausschnitt aus dem Gesamtangebot wird seitens der Gesellschaft die Qualität zugesprochen, eine geeignete Kinder- und Jugendlektüre zu sein. Für die Gesamtheit der mit dieser Qualität ausgezeichneten Texte oder Textgruppe wurde bislang eine Bezeichnung gewählt, die oft zu Missverständnissen geführt hat: Gesprochen wurde von intentionaler Kinder- und Jugendliteratur (Brüggemann 1977, S. 21 f.; Brüggemann/Ewers 1982, S. 3 f.; Eckhardt 1987, S. 29; Ewers 1995, S. 13 f.).

Das hier gemeinte Korpus umfasst die Gesamtheit der für Kinder und Jugendliche vorgesehenen Lektüreangebote oder Lesestoffe. Darunter befindet sich zu allen Zeiten eine Vielzahl von Werken, die ursprünglich nicht für diese Adressatengruppe vorgesehen waren. Letztere sind durch Aufnahme in dieses Korpus aber nicht schon zur Kinder- und Jugendliteratur geworden. Es wäre deshalb weniger missverständlich, hier von intendierter Kinder- und Jugendlektüre zu sprechen.

Für die Abgrenzung von der Schullektüre wäre auch hier das oben bereits erwähnte situative Kriterium heranzuziehen. Zur intendierten Kinder- und Jugendlektüre sollten demnach nur Werke gezählt werden, die von Kindern und Jugendlichen in ihrer Freizeit, d.h. außerhalb des Schulunterrichts und auch nicht begleitend zu diesem, gelesen werden sollen – und zwar mehr oder weniger freiwillig.

Zu intendierter Kinder- und Jugendlektüre können ein Werk oder eine Gattung bereits durch eine bloße Leseempfehlung werden. Historisch gesehen existiert dieses Textkorpus zunächst nur als institutionalisierter Lektürekanon, der in Gestalt von Leselisten und Lektüreanweisungen festgehalten und tradiert wird. Mit Ausweitung und Binnendifferenzierung der Buchproduktion wird von der bloßen Lektüreempfehlung zu einer adressatenspezifischen Publikation der betreffenden Werke übergegangen. Die als geeignete Kinder- und Jugendlektüre angesehenen Werke werden nun in speziellen Ausgaben für Kinder und Jugendliche auf den Markt gebracht. Nach älterem Sprachgebrauch haben wir es bei der intendierten Kinder- und Jugendlektüre mit der Gesamtheit der für die Freizeitlektüre von Kindern und Jugendlichen bestimmten Lesestoffe zu tun.

4. Erfolgreiche und nicht erfolgreiche Lektüreangebote; unbeabsichtigte Kinder- und Jugendlektüre

Auch wenn sie miteinander nicht deckungsgleich sind, so überschneiden sich die Textkorpora der intendierten […] und der faktischen Kinder- und Jugendlektüre […] doch in erheblichem Maße. In allen Epochen wird ein großer Teil der für sie bestimmten Literatur von der Zielgruppe tatsächlich auch gelesen. Allerdings pflegen Kinder und Jugendliche nicht alles anzunehmen, was als eine für sie geeignete Lektüre ausgegeben wird. Man könnte mit Blick auf diese Werke von nicht erfolgreichen Lektüreangeboten sprechen, denen die erfolgreichen Lektüreangebote gegenüberzustellen wären. Zu allen Zeiten pflegten Kinder, mehr noch Jugendliche, jedoch auch literarische Werke zu konsumieren, die nicht ausdrücklich für sie bestimmt sind.

Hier bietet es sich an, von einer nicht-intendierten bzw. unbeabsichtigten Kinder- und Jugendlektüre zu sprechen. Die unbeabsichtigte Kinder- und Jugendlektüre bleibt teils gänzlich unbemerkt (heimliche Lektüre), teils wird sie geduldet (tolerierte Lektüre), teils mit propagandistischem Aufwand als "Schmutz und Schund"  bekämpft und aktiv unterbunden (verbotene Lektüre).

5. Sanktionierte und nicht-sanktionierte Kinder- und Jugendlektüre

Hinsichtlich der Festlegung dessen, was als eine geeignete Kinder- und Jugendlektüre gelten darf, genießen keineswegs alle Personen oder Instanzen die gleiche Autorität. Was von Kindern und Jugendlichen gelesen werden soll, bestimmen historisch gesehen zunächst religiöse bzw. kirchliche Einrichtungen, bis sich die Organe der (absolutistischen) Staatsmacht dieses Geschäfts bemächtigen, die es wiederum an Gremien des sekulären Bildungswesens abgeben, die schließlich abgelöst werden von Instanzen der pädagogischen Fachöffentlichkeit.

Wir stoßen je nach Epoche auf andere Instanzen, die in Sachen Kinder- und Jugendlektüre Autorität genießen. Was von diesen gesellschaftlich autorisierten Einrichtungen für geeignete Kinder- und Jugendlektüre gehalten und als solche gekennzeichnet wird, stellt einen ausgesuchten und herausgehobenen Teil der intendierten Kinder- und Jugendlektüre […] dar.

Die hier getroffene Auswahl kann als (positiv) sanktionierte Kinder- und Jugendlektüre bezeichnet werden. Die Formen der Auszeichnung, welche die zu diesem Korpus gehörenden Werke erfahren, reichen von der Nennung in Empfehlungs- oder Bestenlisten über die Auszeichnung mit Preisen aller Art bis hin zur Aufnahme in Klassikerreihen, um nur einige der Auszeichnungsmöglichkeiten zu erwähnen.

Nicht alles, was Kindern und Jugendlichen zur Lektüre empfohlen wird, besitzt den Status (positiv) sanktionierter Kinder- und Jugendlektüre. Leseempfehlungen pflegen auch von Personen oder Instanzen ausgesprochen zu werden, die dazu gesellschaftlich nicht autorisiert sind. Den dazu autorisierten Instanzen wächst frühzeitig – und zwar mit Ausbreitung des literarischen Marktes – eine Konkurrenz heran – in Gestalt nämlich der Verleger, Drucker und Buchhändler, die in der Herstellung und im Vertrieb von separaten Kinder- und Jugendausgaben ein einträgliches Geschäft wittern. Ein Teil von ihnen beginnt die Vorgaben der autorisierten Instanzen zu ignorieren und in der Publikation von Kinder- und Jugendschriften nach eigenem Gutdünken zu verfahren. Je größer dabei der Markterfolg ist, umso mehr wird ihnen von der Gegenseite das Recht streitig gemacht zu entscheiden, was eine geeignete Kinder- und Jugendlektüre sein könne. Die zentrale Begründung lautet, dass Verleger und Buchhändler vorrangig kommerzielle Interessen verfolgen.

Der mehr oder weniger heftig ausgetragene Streit beider Seiten führt zu einer Aufspaltung der intendierten Kinder- und Jugendlektüre […] in die – oben bereits erwähnte – (positiv) sanktionierte Kinder- und Jugendliteratur, die mit den Erwartungen der Geistlichen, der Pädagogen und/oder der literarischen Erzieher konform geht, und eine nicht (bzw. negativ) sanktionierte Kinder- und Jugendlektüre, die von einzelnen Verlegern unter Umgehung oder gar in Missachtung der gesellschaftliche anerkannten Bewertungsinstanzen auf den Markt gebracht wird.

Der Kampf der Literaturpädagogen gegen "Schmutz und Schund" bezieht sich nicht nur auf die unerlaubte, die verbotene Lektüre von Kindern und Jugendlichen; er richtet sich stets auch – gelegentlich sogar mit größerer Heftigkeit – gegen einen Teil der intendierten Kinder- und Jugendlektüre […] – den Teil nämlich, der nicht unter ihrer Kontrolle steht, der sich nicht ihren Normen unterwirft. Dieser Teil ist häufig als kommerzielle Kinder- und Jugendliteratur bezeichnet worden – eine durch und durch polemische Kategorisierung abwertenden Charakters (und deshalb im wissenschaftlichen Kontext nicht verwendungsfähig). Dieser Begriff verschleiert nicht zuletzt, dass auch die (positiv) sanktionierte Kinder- und Jugendliteratur eine kommerzielle Angelegenheit darstellt, ja, oft ein gutes Geschäft sein kann.

6. Das Korpus der originären Kinder- und Jugendliteratur

Bei der Bildung der bisher beschriebenen Textkorpora spielten die Herkunft und die Entstehungsweise der Werke keine Rolle. Es konnte sich um Werke handeln, die bereits publiziert waren und damit schon zum literarischen Gesamtangebot gehörten. Ob sie zuvor von anderen Lesergruppen konsumiert worden sind, war ebenso unerheblich wie die Vorstellungen, die sich ihre Verfasser ursprünglich bezüglich möglicher Zielgruppen gemacht haben.

Zur Kinder- und Jugendlektüre wurden diese Werke erst gewissermaßen nachträglich entweder dadurch, dass sie von Kindern und Jugendlichen gelesen […], oder dadurch, dass sie von der Gesellschaft zu einer geeigneten potentiellen Kinder- und Jugendlektüre erklärt wurden […]. Nach den bisher entwickelten Definitionen stellt sich Kinder- und Jugendliteratur als nachträgliche zielgruppenorientierte Verwendung eines bereits existierenden literarischen Angebots dar.

Die Festlegung, eine potentielle Kinder- und Jugendlektüre zu sein, kann der Hervorbringung eines Textes jedoch vorausgehen. Sie entspringt dann einer Entscheidung des Produzenten, des Verfassers eines Werks. Sie erweist sich in diesem Fall als ein Moment seiner Entstehung, seiner Hervorbringung. Für die von vornherein für Kinder und Jugendliche geschaffene, von Beginn an als potentielle Kinder- und Jugendlektüre vorgesehene Literatur wird hier der Begriff der originären Kinder- und Jugendliteratur vorgeschlagen. Die Entscheidung des Produzenten, wonach der von ihm zu verfassende Text eine geeignete potentielle Kinder- und Jugendlektüre sein soll, hat in der Regel Folgen für die Gestaltung eben dieses Textes.

Text aus "Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in die Grundbegriffe der Kinder- und Jugendliteraturforschung." 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage. München: W. Fink, 2012. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.


Bibliografie

  • Brüggemann, Theodor: Literaturtheoretische Grundlagen des Kinder- und Jugendschrifttums. In: Aspekte der erzählenden Jugendliteratur. Hrsg. von Ernst G. Bernstorff. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 1977. S. 14-34.
  • Brüggemann, Theodor/Ewers, Hans-Heino: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1750-1800. Stuttgart: Metzler, 1982.
  • Doderer, Klaus: Kinder- und Jugendliteratur. In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Klaus Doderer. Band 2. Weinheim, Basel: Beltz, 1977. S. 162-165.
  • Eckhardt, Juliane: Kinder- und Jugendliteratur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1987 (= Erträge der Forschung).
  • Ewers, Hans-Heino: Kinder- und Jugendliteratur. In: Fischer Lexikon Literatur. Hrsg. von Ulfert Ricklefs. Band 2. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag, 1995. S. 842-877.
  • Gäbels, Hubert: Zeitschriften für die deutsche Jugend. Eine Chronographie. Dortmund: Harenberg, 1986.
  • Israel, Walter: Über Wesen und Bedeutung der spezifischen Jugendliteratur. In: Das gute Jugendbuch 17 (1967). H. 2. S. 1-17.
  • Klingberg, Göte: Kinder- und Jugendliteraturforschung. Eine Einführung. Wien, Köln, Graz: Böhlau, 1973.
  • Scher, Walter: Von der Schwierigkeit, die Geschichte der Kinderliteratur zu schreiben. In: Zum Kinderbuch. Hrsg. von Jörg Drews. Frankfurt am Main: Insel, 1975. S. 148-168.