"Erzählst du mir ein Märchen?", bat Momo leise. […] Er legte Momo einen Arm um die Schulter und fing an: "Es war einmal eine schöne Prinzessin mit Namen Momo, die ging in Samt und Seide und wohnte hoch über der Welt in einem Schloss aus buntem Glas." (Ende 2013, S. 38) 

Die Bitte Momos an ihren Freund Gigi Fremdführer, ihr doch ein Märchen zu erzählen, setzt eine Vielzahl von Prozessen in Gang: So markiert sie auf struktureller Ebene den Beginn einer Binnenerzählung und etabliert somit das Verhältnis von Rahmen- und in sie eingeflochtener Binnenerzählung. Schon allein über Gigis einleitende Worte 'Es war einmal…' wird zudem eine intertextuelle Verbindung zur Märchentradition und ebenfalls eine streng genommen intermediale Verbindung zu Michael Endes Theaterstück Das Gauklermärchen geschaffen. Als wäre dies noch nicht genug, inszeniert Gigi Fremdenführer in dieser kurzen Erzählung in der Erzählung sich und Momo metaleptisch als handlungstragende Figuren und wird gleichzeitig nicht nur in die Rolle des Prinzen und Doppelgängers seiner selbst versetzt, sondern auch in die des gleichermaßen intradiegetischen und extradiegetischen Erzählers, der auf der tertiären Ebene eine meta-metadiegetische Geschichte erzählt.

Erzählen als menschliche Kommunikationsform 

Neben den eingangs benannten, auf struktureller Ebene ablaufenden und narratologisch interessanten Prozessen verdeutlicht die zitierte Passage noch eine andere Facette des Erzählens: Es ist die kurze Erzählung des Märchens, mit der es Gigi gelingt, Momos und seine eigene Geschichte durch das Erzählen der fiktiven Ereignisse innerhalb der Fiktion zu ordnen, zu überprüfen, zu deuten und sich über diese Geschichte zum einen mit Momo zu finden:

"Schaute man aber zu zweit hinein, dann wurde man wieder unsterblich. Und das haben die beiden getan." Groß und silbern stand der Mond über den schwarzen Pinien und ließ die alten Steine der Ruine geheimnisvoll glänzen. Momo und Gigi saßen still nebeneinander und blickten lange zu ihm hinauf und sie fühlten ganz deutlich, dass sie für die Dauer dieses Augenblicks beide unsterblich waren. (ebd. S. 54)

Zum anderen findet Gigi darüber auch ein Stück weit sich selbst. Denn es sind die Märchen, die Gigi Momo und sich selbst erzählt, die seinen Geschichten Flügel wachsen lassen (vgl. ebd. S. 43). Die eingebundene Märchenhandlung in Momo erfüllt demnach nicht nur strukturelle oder narratologische Funktionen, sondern führt vielmehr das Erzählen selbst als wichtige Kommunikationsform und menschliche Tätigkeit vor (vgl. Vogt 2016, S. 115): Gigi erzählt gemeinsam mit Momo und erzählt gleichzeitig, um sich und seine Welt zu verstehen.

Erzählen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Zudem spielt die Erzählung in der Erzählung noch mit weiteren grundlegenden Annahmen über das Erzählen. Zum einen wird sie als mündliche zwischenmenschliche Kommunikation inszeniert (vgl. ebd.). Zum anderen präsentiert sie sich dem Lesenden aber als narrativer Text und damit als Abfolge von (schriftlichen) Zeichen, die wiederum eine Abfolge von Ereignissen – im vorliegenden Beispiel die Geschehnisse um Prinzessin Momo und Prinz Girolamo – wiedergeben (vgl. Richter 2009). Über die unterschiedlichen Erzählsituationen, die Ende in Momo inszeniert, wird genau diese Verbindung, die Verbindung von Zeichenfolge und Ereignisfolge deutlich ausgestellt. Übersetzt in narratologische Termini finden sich die Ereignisfolge, die Handlung und die erzählte Welt, in der sie ablaufen, in dem Begriff der Histoire wieder. Die Präsentation der Ereignisse, das Wie der Erzählung im Gegensatz zum Was der Histoire, wird als Discours bezeichnet.

Erzählen als zeitlich und räumlich gebundener Prozess

Gleichzeitig wird über die Erzählung in der Erzählung noch eine weitere wesentliche Eigenschaft des Erzählens dezidiert vorgeführt, die erneut Histoire und Discours gleichermaßen berührt. Ende strukturiert das Märchen zeitlich durch, indem er es in heute, gestern und morgen teilt und diese einzelnen zeitlichen Elemente klar benennt. Das mag in Anbetracht der Bedeutung der Zeit für die Handlung von Momo nur folgerichtig sein. Trotzdem macht die bewusste Ausstellung der zeitlichen Dimension in der Märchenhandlung, die zudem im Rätsel Meister Horas auch über die Binnenhandlung hinaus aufgegriffen wird (vgl. ebd. S. 154), deutlich, dass sowohl das Erleben als auch das Erzählen über das Erlebte zeitlich gebunden sind. Die zeitlichen Markierungen, die Ende setzt, haben zudem eine Funktion auf der räumlichen Ebene. Das Heute, Morgen, und Gestern ist im Märchen eben nicht allein eine temporale, sondern auch eine räumliche Größe und führt die enge Verknüpfung von Zeit und Raum im Erzählen, die Mario Vargas Llosa als untrennbar bezeichnet (vgl. Llosa 2004, S. 59), schon auf Ebene der Histoire vor.

Diese kurze Auseinandersetzung mit Momos Bitte um ein Märchen hat neben der Verdeutlichung der Rolle, die das Erzählen über die Epik hinaus spielt, gezeigt, wie stark das Wie und das Was des Erzählens zusammenhängen. Um genau diese Verbindung deutlich zu machen, werden die Grundbegriffe der erzählenden Literatur oder der Epik auf den folgenden Seiten nicht nur definiert und diskutiert, sondern immer auch an konkreten Beispielen aus dem Bereich der Kinder- und Jugendmedien erläutert. Damit soll – vielleicht unnötigerweise – versucht werden, den Irrtum, dem nach Llosa so viele Romanlesende aufgesetzt sind, zu vermeiden:

Die Trennung zwischen Inhalt und Form oder Thema und Stil und narrativem Aufbau ist künstlich, sie darf nur Veranschaulichung vollzogen werden und hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Was ein Roman erzählt, ist untrennbar verbunden mit der Art und Weise wie es erzählt wird. (ebd. S. 289)


Bibliografie

Primärliteratur

  • Ende, Michael: Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeitdieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Stuttgart/Wien: Thienemann-Verlag, 2013.
  • Llosa, Mario Vargas: Briefe an einen jungen Schriftsteller. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004.

Sekundärliteratur