Explikat

TikTok gehört zum chinesischen Unternehmen ByteDance, das 2017 die US-amerikanische App musical.ly übernahm und sie 2018 mit der eigenen Kurzvideo-App Douyin zu TikTok fusionierte. Die App gilt mit bis dato ca. 2 Milliarden Downloads  weltweit und 700 Mio. Nutzerinnen und Nutzern (in Europa: 100 Mio.) als die am schnellsten wachsende Social Media-Plattform der Welt.

TikTok ist eine Plattform zur Rezeption und Produktion von Kurzvideos mit einer Dauer von (bislang) maximal drei Minuten, die zusätzlich Interaktionsmöglichkeiten von sozialen Netzwerken aufweist. Generell werden die auch TikToks genannten Filme in der App im smartphone-optimierten vertikalen Format und automatisch im Loop abgespielt, sofern man nicht nach oben wischt, um sich den nächsten Clip anzusehen. Obwohl es eine Desktop-Version gibt, zeichnen die Navigation und die Usability die App als Mobile-First-Anwendung aus.

Im Wesentlichen bietet sie zwei Rezeptionsmodi: Der Folge ich-Modus zeigt den Content derjenigen an, denen man folgt. Der Für dich-Modus dagegen zeigt Videos, die auf der Basis der bisherigen Interaktionen von einem Algorithmus kuratiert und zunehmend personalisiert werden.

Zusätzlich ermöglicht die App den Nutzerinnen und Nutzern, als sog. Creator selbst maximal dreiminütige Kurzvideos zu produzieren, zu veröffentlichen und über die App sowie plattformübergreifend zu teilen.

Besonderheiten des Gegenstandes im Kontext von KJM (Kinder- und Jugendmedien)

TikTok wird vor allem von jungen Menschen zwischen 16 und 24 Jahren genutzt. Obwohl die App ihren Nutzerinnen und Nutzern eine lebensweltnahe und niedrigschwellige Teilhabe am Handlungsfeld Film und Social Media ermöglicht und gleichzeitig eine medienkritische Perspektive erfordert, ist ihr Potenzial für die Förderung rezeptiver und produktiver, personaler und funktionaler Kompetenzbereiche (vgl. Frederking/Bayrhuber 2017) bislang von der fachspezifischen mediendidaktischen Forschung kaum wahrgenommen worden.

Grundsätzlich bedarf die kompetente Nutzung der App einer digitalen Textkompetenz (vgl. Frederking/Krommer 2019), die sowohl die multimodal, symmedial und interaktiv strukturierte und semiotisch-semantisch kodierte Textebene als auch deren algorithmische Verarbeitung in den Blick nimmt. Dazu gehört die „Fähigkeit zum rezeptiven Erfassen und produktiven Nutzen der Polymodalität bzw. Symmedialität​“ (ebd., S. 6) der einzelnen Clips auf auditiver, visueller und skriptografischer Ebene: Die Kürze der Videos erfordert zielgerichtete Entscheidungen und Analysen zum Einsatz der Kamera und Montage, zu visuellen Effekten, zu Musik, Sounds und Voice-Over-Optionen sowie zur Ergänzung von Schrift und Filtern. Der Loop als plattformspezifisches ästhetisches Mittel eröffnet eine zusätzliche Rezeptions- und Bedeutungsebene und verdeutlicht gleichzeitig die Logik der Aufmerksamkeitsökonomie des Netzes, denn gerade die Filme, die eine hohe Rewatchability aufweisen, werden vom Algorithmus mit mehr Reichweite belohnt. In diesem Zusammenhang lernen die Schülerinnen und Schüler die Mechanismen der digitalen Distribution verstehen: Hashtags helfen dabei, bestimmte Themen und die Intentionalität des digitalen Textes zu entdecken oder die eigenen Videos in einen bestimmten (Netz-)Kontext zu stellen. Unter #booktok hat sich bspw. eine junge Bücher-Community einen (nicht nur) lesedidaktisch interessanten Bedeutungs- und Kommunikationsraum geschaffen, in dem sie Einblicke in ihr Leseverhalten und ihre Leseerfahrungen eröffnet und Buchzusammenfassungen, Leseempfehlungen und -kritiken teilt und lebhaft diskutiert.

Die Fähigkeit „zum Erfassen und Nutzen der Textsorten- bzw. Gattungsspezifik eines digitalen Textes“ (Frederking/Krommer 2019, S. 8) lässt sich über Auseinandersetzung mit medienhistorischen Parallelen anbahnen. Im Vergleich von TikToks mit dem frühen Stummfilm können Lernende erkennen, „dass selbst die jüngsten Netzphänomene nicht unabhängig von einer medienkulturgeschichtlichen Tradition stehen. In diesem Sinne kann TikTok als synkretistisches Phänomen verstanden werden, indem Funktionen, Erzählpraktiken und Ästhetiken des Stummfilms reproduziert, neu kombiniert und schließlich den eigenen Bedürfnissen und den spezifischen Netzkontexten entsprechend erweitert werden“ (Albrecht 2021).

Nicht zuletzt erlauben die Duett- und die Stitch-Funktionen der App produktive und kreative Interaktionen mit anderer Nutzerinnen und Nutzer und deren Content. Eine kompetente Partizipation an den daraus resultierenden Netzphänomenen erfordert Wissen über die dynamische Memekultur, über Hypes, Challenges, Sounds, Insider-Jokes und andere intermediale Bezüge im Netz und fordert letztlich einen kompetenten rezeptiven und produktiven Umgang mit der Konnektivität, der Hypermedialität sowie dem Interaktivitätspotenzial der TikToks und deren semiotisch-kommunikativen Besonderheiten. Diese Formen der medialen Kommunikation machen deutlich, dass TikTok die Prinzipien der ‚Kultur der Digitalität‘ (vgl. Stalder 2017) – Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität – prototypisch in sich vereint. Den Lernenden muss bewusst werden, dass jedes Video auf TikTok aufgrund der Bedeutung des Algorithmus eine große Reichweite erhalten kann, die wiederum eine Vielzahl an Interaktionen und (nicht nur erfreulicher) digitaler Anschlusskommunikation nach sich zieht. Hierfür müssen sie zumindest im Ansatz verstehen, wie der Algorithmus von TikTok funktioniert: Im Vergleich mit anderen sozialen Medien spielt die Anzahl der Followerinnen und Follower eines Accounts eine geringere Rolle für die Reichweite der Videos. Dagegen werden Videos, die geliket, geteilt, kommentiert, bis zum Schluss oder sogar mehrmals angesehen werden, die sich auf bestimmte Challenges und Trends oder Effekte und Sounds beziehen und die von aktiven Accounts stammen, die regelmäßig virale Videos produzieren, vom Algorithmus begünstigt und haben eine größere Chance, sich in kurzer Zeit weit zu verbreiten (vgl. Bösch/Köver 2021, S. 11ff.). Dabei lernt der Algorithmus stetig dazu, um den eigenen Feed möglichst optimal und personalisiert an die individuellen Vorlieben und Interessen der jeweiligen Nutzerinnen und Nutzer anzupassen. „Somit könnte nach jedem Wisch ein «lohnendes» Video auftauchen – ein dem Glücksspiel ähnliches Prinzip, das dank ausgeklügeltem Algorithmus zu bisweilen verwirrend langen TikTok-Sessions führt“ (ebd., S. 11). Da dieses ‚addictive Design‘ letztlich darauf ausgelegt ist, die Userinnen und User möglichst lange und werbewirksam auf der Plattform zu halten, ist der Erwerb von Selbstregulations- und -steuerungskompetenz sowie von medienreflexiven und medienkritischen Fähigkeiten ein wichtiger Bestandteil einer TikTok-Literacy. In der Reflexion der Auswirkungen der Navigation, Kommunikation und Interaktion innerhalb der App auf den Algorithmus und den eigenen Feed, auf die eigene Identitätspositionierung und -gestaltung, auf die eigene Sichtbarkeit und Wirkung und schließlich auf das eigene Selbst- und Weltverhältnis wird deutlich, wie verschränkt funktionale und personale digitale Kompetenzen in der Kultur der Digitalität sind. Kritisch zu hinterfragen ist, welche Macht der Algorithmus auf die persönliche Meinungsbildung, auf die Sichtbarkeit von bspw. kultureller, sexueller, ethnischer und sozialer Diversität, auf die Reichweite politischer Kommunikation und den jeweiligen „Wahrheitsanspruch“ (Frederking/Krommer 2019, S. 12) etc. hat und welche Intentionalität damit verbunden ist. So gab es in der Vergangenheit immer wieder Fälle von Zensur und Shadowbanning, also der künstlichen Beschränkung und Deckelung der Reichweite von politisch sensiblen Accounts, von Vertreterinnen und Vertretern von (z. B. ethnischen, sexuellen oder sozialen) Minderheiten oder von Menschen mit Behinderung, die auf diese Weise auf der Plattform quasi unsichtbar gemacht wurden. Ebenso wurde TikTok für seinen Umgang mit Datensicherheit und für mangelnden Jugendschutz kritisiert. Auch Vorfälle von Cybermobbing und Hatespeech gehören zu den Schattenseiten des Netzwerks und verdeutlichen die Notwendigkeit der „Fähigkeit zum Umgang mit den ethisch-normativen Aspekten“ (ebd. S. 11) des Netzwerks.

Und zugleich können junge Menschen TikTok als Ort für sozialen Aktivismus, für Differenz-, Alteritäts- und Ambiguitätserfahrungen, für Selbstwirksamkeit und die Aushandlung von Identitätspositionen, für kulturelle und politische Kommunikation erfahren, was am prominenten Beispiel von Feroza Aziz zu sehen ist. Die rezeptive und produktive Beschäftigung mit den Inhalten und Verbreitungswegen der App trägt so zur Meinungs- und Wertebildung, zur gesellschaftlichen Teilhabe, zur kulturellen Selbstverständigung,  und schließlich zur digitalen wie ethischen Bildung bei.

Literaturverzeichnis

Albrecht, Christian: Stummfilmästhetik auf TikTok – Attraktion und Narration. In: 54books. 2021 https://www.54books.de/attraktion-und-narration-aesthetiken-des-stummfilms-auf-tiktok/ (23.07.2021)

Bösch, Markus/Köver, Chris: Schluss mit lustig? TikTok als Plattform für politische Kommunikation. Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2021. https://www.rosalux.de/fileadmin/images/publikationen/Studien/Studien_7-21_Schluss_mit_lustig_TikTok_web__1_.pdf (23.07.2021)

Frederking, Volker/Bayrhuber, Horst: Fachliche Bildung. Auf dem Weg zu einer fachdidaktischen Bildungstheorie. In: Auf dem Weg zu einer allgemeinen Fachdidaktik. Hrsg. von Bayrhuber, Horst/Abraham, Ulf/Frederking, Volker/Jank, Werner/Rothgangel, Martin/Vollmer, Helmut Johannes. Band 1. Münster: Waxmann. 2017. S. 205–247.

Frederking, Volker/Krommer, Axel: Digitale Textkompetenz. Ein theoretisches wie empirisches Forschungsdesiderat im deutschdidaktischen Fokus. 2019. https://www.deutschdidaktik.phil.fau.de/files/2020/05/frederking-krommer-2019-digitale-textkompetenzpdf.pdf (15.11.2021)

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. 2. Auflage. Berlin: Suhrkamp, 2017.

Statista: TikTok. 2021. https://de.statista.com/statistik/studie/id/70123/dokument/tiktok/ (26.07.2021)