Explikat

Die Apostrophe ist eine rhetorische Figur, die sich durch die (scheinbare) Abwendung der sprechenden oder erzählenden Figur vom ursprünglichen Publikum und die Hinwendung zu einem ggf. fiktiven Zweitpublikum auszeichnet (vgl. ebd.). Die Apostrophe tritt häufig als Ausruf oder rhetorische Frage auf und ist damit in der Regel ein Stilmittel emphatischer oder pathetischer Rede. Der Rezipient kann demzufolge über die Apostrophe Erregung oder emotionale Erschütterungen beim Sprechenden oder Erzählenden wahrnehmen (vgl. ebd.). Die Hinwendung des Redners oder Erzählers kann dabei unbelebte und gegebenenfalls personifizierte Dinge ("Liebes Schreinerhaus, bitte finde uns nett." [Lindgren 1992, S. 31]), abwesende oder auch fiktive Personen betreffen (vgl. Spörl 2007). 

So wird in Kalle Blomquist die Anrede an einen fiktiven Richter in die Erzählung eingeflochten: 

Herr Richter! In der Nacht zum 20. Juni kletterte der Mann, den wir jetzt auf der Anklagebank sehen, durch ein Fenster im obersten Stockwerk des Hauses von Bäckermeister Lisander hier in der Stadt, stieg die Feuerleiter hinunter, ging zu einem im Garten des gleichen Bäckermeisters gelegenen Geräteschuppen, und danach… (Lindgren 1982, S. 52)

Die Dialoge des Meisterdetektivs Blomquist mit seinem 'eingebildeten' Zuhörer stellen ebenfalls eine Apostrophe dar:

"Leben Sie wohl, junger Mann", sagte Meisterdetektiv Blomquist. "Fräulein Lisander hat mich gerufen, und – nebenbei gesagt – sie ist die junge Dame, mit der ich die Ehe einzugehen beabsichtige." (Lindgren 1982, S. 170-171)

Auch die explizite Anrede des auktorialen Erzähler an den (fiktiven) Leser des Textes kann als Apostrophe gelten. So bittet beispielsweise der auktoriale Erzähler in Astrid Lindgrens Immer dieser Michel den fiktiven Leser sich das Armenhaus in Lönneberga vorzustellen und durchbricht damit die Illusion der Fiktion: 

Wenn du dir eine häßliche alte Hütte mit einigen Zimmern darin vorstellen kannst und die ganze Hütte voll mit armen, verbrauchten alten Menschen, die dort zusammen wohnen - in einem einzigen Durcheinander von Dreck und Schmutz und Läusen und Hunger und Elend, dann weißt du, wie damals diese Armen in einem Armenhaus lebten. (Lindgren 1972, S. 84)

Erich Kästners auktoriale Erzähler wenden sich bisweilen ebenfalls direkt und sehr explizit an den Leser und die Leserin: 

Wertgeschätzte kleinere und größere Leserinnen und Leser! Jetzt wird es, glaube und fürchte ich, allmählich Zeit, dass ich auch ein ein wenig von Luises und Lottes Eltern berichte, vor allem darüber, wie es seinerzeit zu der Scheidung zwischen ihnen kam. (Kästner 2000, S. 64)

Die Anrede des fiktiven Lesepublikums trägt dabei bisweilen sogar der Mehrfachadressierung kinderliterarischer Texte Rechnung: 

Sollte euch an dieser Stelle des Buches ein Erwachsener über die Schulter blicken und rufen: 'Dieser Mensch! Wie kann er nur, um alles in der Welt, solche Sachen den Kindern erzählen!' (ebd.)


Bibliografie

Primärliteratur

  • Kästner, Erich: Das doppelte Lottchen. Hamburg: Cecilie Dressler Verlag, 2000.
  • Lindgren, Astrid: Immer dieser Michel. Hamburg: Verlag Friedrich Oetinger, 1972.
  • Lindgren, Astrid: Kalle Blomquist: Hamburg: Verlag Friedrich Oetinger, 1982.
  • Lindgren, Astrid: Ferien auf Saltokran: Hamburg: Verlag Friedrich Oetinger, 1992.

Sekundärliteratur