Inhalt

Der Sammelband ist in fünf Teile gegliedert, welche die Themenblöcke Theoriebildung, Teilhabe und Kanonisierung, Vermittlungskontexte und Fragen bzw. Interviews mit Spezialisten zu diversen populärkulturellen Schwerpunkten im Vermittlungskontext abdecken. Den Band rundet ein besonders hilfreiches Modell zur systematischen Analyse, Auswahl und Bewertung populärkultureller Gegenstände für den Deutschunterricht ab. In ihren einführenden Worten verweist Grimm zunächst darauf, dass die Wurzeln von populärkulturellen Wiederholungen von Altem oder Bekanntem bereits in der Bibel liegen. Zudem stellt sie fest, dass populärkulturelle Inhalte langsam aber sicher die strikte Trennung zwischen U- und E-Kultur überwinden. In diesem Kontext wird insbesondere zu Recht angemerkt, dass ein zeitgemäßer Literatur- und Medienunterricht derartige Werke als kritischen Untersuchungsgegenstand integrieren sollte. Diese These stützen die unterschiedlichsten, intermedial ausgerichteten Beiträge.

Kritik

Im ersten Kapitel zur Theoriebildung plädiert Rosebrock für eine Aufhebung der Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur gerade mit Blick auf die Kinder- und Jugendliteratur. In diesem Kontext fokussiert sie Texte, die aufgrund der starken Präsenz in Medienverbünden eine Aufwertung hinsichtlich der interindividuellen Bedeutungsebene erfahren haben. Hierbei betont sie, dass der Untersuchungsgegenstand in Bezug auf didaktische Perspektiven zum technischen Erlernen von Lesefertigkeiten und einer Lektüreauswahlkompetenz, welche die eigenen Interessen anspricht, zentral sei. Zudem können populärkulturelle Medien im Deutschunterricht auch den Enkulturationsprozess von Heranwachsenden fördern. Schließlich resümiert Rosebrock, dass eine populärkulturelle Lektüre ein Gewinn für die Schule sei, um nicht nur die kulturelle Teilhabe der Schülerinnen und Schüler, sondern auch deren Motivation für die Lektüre zu stärken. Aus praktischer Sicht eines Deutschlehrers an einem bayerischen Gymnasium kann ich diesen Thesen nur uneingeschränkt zustimmen. Bisweilen ist es in der Schulpraxis eher das Problem, dass populäre Best- und Longseller von einigen Schülerinnen und Schülern bereits im Privaten gelesen wurden. Hierbei empfiehlt es sich gerade in der Unter- und Mittelstufe, den Heranwachsenden eine Vorauswahl an (populären) Texten zu präsentieren, über die dann demokratisch abgestimmt wird. Manchmal kann man auch auf weniger verbreitete Nachfolgereihen ausweichen, wenn die Hauptserie bereits von zu vielen Heranwachsenden gelesen wurde: z.B. könnte anstatt eines Bandes aus der Percy Jackson-Serie auch einer aus den Folgeserien Helden des Olymp oder den Abenteuern des Apollo ausgewählt werden.

Zur diachronen Erweiterung des Blickfelds auf die populäre Literatur fokussiert Ewers das 18. und 19. Jahrhundert und kommt dabei zu der Erkenntnis, dass jugendliterarische Klassiker aus dieser Zeit wie Robinson Crusoe oder Alice im Wunderland durch unzählige Bearbeitungen, bei denen oftmals die literarische Qualität enorm variiere, Teil der Populärkultur würden. Diesen ersten Themenbereich schließt Marci-Boehncke ab, die sich nach einem Überblick über frühkindliche Erfahrungen und Nutzungsgewohnheiten von (digitalen) populären Medien für eine staatlich gelenkte Enkulturation von Kindern mit Blick auf die Medienkultur einsetzt, um dem Aufbau von "Bildungsungerechtigkeiten früh vorzubeugen" (S. 73).

Den zweiten Teil des Sammelbandes über Teilhabe und Kanonisierung eröffnet Schlachter. Sie untersucht Reflexionsplattformen zu populären KJL-Serien, die, wie hier am Beispiel der Tribute von Panem ersichtlich wird, besonders Heranwachsende nutzen. Anhand eines umfassenden non-reaktiven Datensatzes aus dem Internet zeigt sie auf, dass rein fiktionale Texte die Rezipienten offensichtlich veranlassen, sich Gedanken über anthropologische Grundfragen und Ethikdiskurse zu machen. Derartige Foren seinen laut Schlachter "integraler Bestandteil des kulturellen Feldes der Serialität" (S. 96). Nübel arbeitet am Beispiel eines in der Praxis umgesetzten Live-Hörspiels zu Agatha Christies Krimi Und dann gab’s keines mehr heraus, dass mithilfe eines offenen Literaturbegriffs die Teilhabe und Transformation von populärkulturellen Inhalten für Heranwachsende als Gemeinschaftserlebnis erfahrbar wird. Sander und Jäger stellen den postmodernen Roman Faserland in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen und entwerfen für Schülerinnen und Schüler eine sinnvolle, aber die Zielsetzung unnötig verkomplizierende Lernaufgabe über wichtige Kriterien kanonischer Literatur. Durch dieses empirisch noch nicht überprüfte Verfahren sollen Heranwachsende eine ausgeprägte Kritikkompetenz entwickeln. Müller-Carstens widmet sich den seriellen Transformationsversuchen zur klassischen Schullektüre der Vorstadtkrokodile und kommt dabei zu dem gut durchdachten Schluss, dass diese gerade wegen ihrer fragwürdigen Qualität ein interessanter Unterrichtsgegenstand zum Nachweis der kommerziellen Mechanismen der Filmbranche sein könnten (vgl. S. 157f.). Somit sind diese Verfilmungen auch gerade Gegenstand medienkritischen Lernens mit Blick auf die Produktionsbedingungen, welche sich u.a. in den Features der thematisierten Filme auf DVD finden.

Den dritten Teil zu Populärkultur(en) für Vermittlungskontexte eröffnet Staiger, der in seinem Aufsatz zur Teen-Drama-Serie Veronica Mars dafür plädiert, dass im Deutschunterricht "die Komplexität und Qualität des gegenwärtigen und des historischen seriellen Erzählens" (S. 179) fokussiert werden sollte, wofür jedoch ein konkreter Umsetzungsvorschlag in der Praxis fehlt. Für eine ausführliche und tiefgehende Thematisierung von anspruchsvollen Serien mangelt es an weiterführenden Schulen aufgrund der beschränkten Stundensituation und der Pflicht des Abarbeitens von Schulaufgabenstoffen leider fast gänzlich an Zeit. Am Jahresende, wenn dann endlich mehr Spielraum vorhanden wäre, erweist sich die Motivation der Schülerinnen und Schüler für derartig aufwändige mediale Analyse-Projekte in der Regel als bescheiden. Zudem fallen sodann auch wieder jede Menge Deutschstunden aufgrund von Sonderveranstaltungen und Exkursionen aus.

Schilcher und Scheubeck zeigen anhand eines zielführenden und gut in der Praxis umsetzbaren Unterrichtskonzepts zu dem aufstrebenden Deutschrapper Materia, der in seinem bekannten Clip "OMG!" mit allen gängigen Klischees der sonst so aggressiven, patriarchalen, misogynen und homophoben Rapper-Szene bricht, dass Musikvideos anhand ihrer überstrukturierten Songtexte zur Förderung einer systematischen Gedichtanalysekompetenz auf mehreren Ebenen eingesetzt werden können. Dies demonstrieren sie anhand von verschiedenen praxiserprobten Aufgabenstellungen unter dem Fokus der Subkompetenz "Grundlegende semantische Ordnungen erkennen" (S. 194) und weiteren fünf zentralen Aspekten, welche auf dem profunden Modell literarischen Lernens von Schilcher und Pissarek fußen. Das gesamte Konzept wurde in einer elften Klasse erprobt und die operatorgestützten Fragen auf unterschiedlichen Niveaustufen können als Vorlage für das eigene Unterrichtskonzept dienen. Wicke beschränkt sich auf die rein auditive Ebene und analysiert drei Beispiele der sehr beliebten und aufwändig produzierten Hörspielreihe der drei ???. Anhand einer Untersuchung des Spannungsbogens kommt er zu dem Ergebnis, dass Schüler bei der Ausgestaltung auditiver Spannung in Hinblick auf die Kombination von Stimme, Musik und Geräusche geschult werden sollten. Dies würde auch die Rezeptionspräferenzen der Heranwachsenden berücksichtigen und somit zu einem motivierenden Deutschunterricht führen. Wie der Beitrag von Staiger bleibt auch dieses stichhaltige Konzept zu sehr im Theoretischen verhaftet. Ebenfalls zum Thema Hörspiele äußert sich Pfäfflin am Beispiel von Rico, Oskar und die Tieferschatten und plädiert für eine intermediale Lektüre des Bestsellers, durch die das "Symbolverstehen, das Verstehen und Nachvollziehen von Figurenperspektiven, die Mittel der Spannungserzeugung im Rahmen der Kriminalhandlung oder die Charakteristika der literarischen Figuren im gezielten Medienwechsel anhand von Hörspiel, Roman und Film gemeinsam untersucht und erläutert" (S. 239) würden. Auch dieses Konzept ist in einem Kapitel für Vermittlungskontexte zu theoretisch ausgerichtet.

Im Gegensatz zu den rein auditiven Untersuchungsgegenständen von Wicke und Pfäfflin zeigt Steinhauser anhand von Unterrichtsbausteinen für die 1.-6. Klasse zur Realverfilmung von Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, wie der Fokus in populären Verfilmungen im Gegensatz zur gesellschaftskritischen und technikaffinen Lektüre verändert wird. Steinhausers kritischer Blick auf die Verfilmung behandelt diese nach Maximen der traditionellen Didaktik zu sehr wie ein minderwertiges Ergänzungsprodukt zum Roman. Dadurch erscheint der Film weniger als eigenständiges Kunstwerk nach dem Vorbild einer kartographierten Heldenreise à la Der Hobbit. Den Abschluss des Kapitels bildet der Beitrag von Boelmann und Radvan, die anhand einer beeindruckend konzisen qualitativen empirischen Studie am Beispiel von Percy Jackson zeigen, dass bei Adaptionen als Hörbuch zahlreiche Kürzungen vorgenommen werden, die sich in erster Linie auf die Charakterisierungen von Figuren und die metaphorisch-stilistische Textebene auswirken, sodass die Metaebene des Narrativs mit Blick auf die textuelle Inszenierung von Percys Aufmerksamkeitsdefizitssyndroms betroffen ist, weniger jedoch die Handlungsebene. Konsequenzen für die Unterrichtspraxis werden leider nur sehr knapp im Nachklapp skizzenhaft geliefert. Nach cameoartigen Interviews zu didaktischen Perspektiven zum Einsatz populärkultureller Medien im Unterricht mit Experten, die teilweise auch Beiträger in diesem Band sind, rundet Grimm diesen Sammelband mit einem systematisch durchdachten Konzept zur kritischen Beurteilung populärkultureller Medien (im Deutschunterricht) ab. Dabei postuliert sie fünf Dimensionen, welche thematisch-inhaltliche, künstlerisch-ästhetische, rhizomatische, gegenstandsspezifische und populärkulturell-spezifische Beurteilungskriterien enthalten, die auch genauer exemplifiziert sind. Dieses Schema zu einem systematischen Kompetenzerwerb mit Populärkultur wird sodann tabellarisch auf alle Beiträge dieses Bandes angewendet, sodass Rezipienten dieses Werks auf einen Blick sehen, welches Potenzial die vielseitigen Aufsätze mit unterschiedlichsten populärkulturellen Gegenständen für den Deutschunterricht entfalten. Dadurch werden alle Fäden am Ende nochmals gebündelt.

Fazit

Insgesamt ist ein sehr lesenswerter Band entstanden, welcher der Populärkultur endlich den literaturwissenschaftlichen, didaktischen und schulpraktischen Stellenwert einräumt, den diese Werke schon viel früher verdient hätten. Durch die zahlreichen Zugriffsweisen und Ansätze zeigen die allermeisten Beiträgerinnen und Beiträger, dass populärkulturelle Medien zu Unrecht in eine negativ behaftete Schublade gesteckt wurden und z.T. noch immer werden. Dem hohen Anspruch des Bandes, der anhand von didaktischen und ästhetischen Perspektiven offensichtlich den Bogen von der Wissenschaft zur Praxis mit konkreten und erprobten Unterrichtskonzeptionen schlagen möchte, werden jedoch nicht alle Aufsätze gerecht, auch wenn jeder für sich wissenschaftlich auf hohem Niveau steht. Insgesamt ist dieser durchdacht konzipierte Sammelband für alle empfehlenswert, die sich literaturwissenschaftlich-didaktisch mit der Populärkultur auseinandersetzen wollen.

Titel: Varianten der Populärkultur für Kinder und jugendliche
Herausgeber:
  • Name: Grimm, Lea
  • Name: Rosebrock, Cornelia
Erscheinungsort: Baltmannsweiler
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: Schneider Verlag
ISBN-13: 978-3-8340-1885-4
Seitenzahl: 348
Preis: 24,00 €
Grimm, Lea/Rosebrock, Cornelia (Hrsg.): Varianten der Populärkultur für Kinder und Jugendliche