Jana Mikota: Frau Kranz, Sie sind eine der Expertinnen fürs Vorlesen. Warum ist Vorlesen so wichtig?

Christine Kranz: Schon Goethe bezeichnete Vorlesen als die Mutter des Lesens. Und das trifft genau den Punkt! Kinder, denen von klein auf viel vorgelesen wird, erhalten ein stabiles Literacy-Fundament – d. h. bei ihnen werden gute Grundlagen geschaffen, für späteres eigenständiges Lesen und vor allem den Spaß daran! Vorlesen ist eine wunderbare und dabei auch noch ganz einfache Möglichkeit, ein Gefühl für Sprache sowie Fantasie, Wortschatz und auch soziale Kompetenz zu fördern. Bilderbuchgeschichten laden ja zum genauen Hinschauen, Fragen, Benennen und Weitererzählen ein und bieten meist auch Identifikationspotenzial für die kleinen Betrachter und Zuhörer.

Was muss beim Vorlesen beachtet werden?

Vorlesen sollte in der Familie als festes Ritual etabliert werden, am besten abends, wenn Kinder zur Ruhe kommen und das gemeinsame Entdecken von Büchern und Geschichten besonders genießen. Es kommt gar nicht darauf an, dass da stundenlang vorgelesen wird – die Regelmäßigkeit zählt. Außerdem sollte lebendig und in angemessenem Tempo vorgelesen und dem Betrachten der Illustrationen, Fragen und Weiterspinnen ausreichend Raum gegeben werden. Und natürlich ist beim Vorlesen auch der Papa gefragt – als wichtiges Lesevorbild, insbesondere für die Jungs!

Jetzt leben wir in einer Zeit, in der in Familien immer weniger vorgelesen wird und engagierte Lehrerinnen und Lehrer die Aufgaben des Vorlesens übernehmen. Worauf müssen sie achten?

Grundlage ist immer die eigene Freude an Geschichten – dann springt der Funke auch über. Aber: Der persönliche Lesegeschmack ist der eigenen Lesesozialisation, den individuellen Vorlieben geschuldet – und natürlich sollten die Interessen und Medienerfahrungen der Zuhörer ebenfalls berücksichtigt werden. Man kann übrigens auch ein Star Wars-Buch ausgezeichnet vorlesen, ein spannendes Sachbuch oder sogar einen Comic. Oft motiviert dann das Interesse des Zuhörers auch den Vorlesenden – und man macht überraschende Entdeckungen!

Immer mehr Flüchtlingskinder sind in Schulklassen und auch ihnen sollte vorgelesen werden. Aber nicht alle Lehrerinnen/Lehrer sind mehrsprachig oder können Eltern bitten, um in mehreren Sprachen vorzulesen. Gibt es Hinweise, wie man hier mit Kindern arbeiten und ihnen die Freude vermitteln könnte?

Besonders geeignet sind textfreie Bilderbücher! Sie bieten Kindern – völlig unabhängig vom jeweiligen Hintergrund – Gelegenheit zum Wieder- oder Neu-Entdecken, Nachfragen und Lernen. So werden Sprachkenntnisse, aber auch einfach der Spaß an Geschichten gefördert – und alle Kinder haben die gleichen Bedingungen. In einem Buch wie Die Reise von Aaron Becker (siehe Empfehlungen unten) findet man bei jedem erneuten Betrachten Dinge, die man zuvor gar nicht wahrgenommen hat. Auch schön illustrierte Sachbücher, etwa zum Thema Tiere, interessieren fast alle Kinder. Von den schon erwähnten Büchern, die auf Filme oder Computerspiele zurückgehen, ganz abgesehen. Fast jedes ältere Kind – egal wo es herkommt – kennt Batman, Superman oder Yoda. Ganz wichtig: Wenn Texte genutzt werden, sollte man dialogisch vorlesen und somit die Kinder einbeziehen, etwa indem man sie fragt, wie die Geschichte weitergehen könnte.

Stiftung Lesen hat eine Medienbox für Flüchtlinge initiiert. Wie wurde die Literatur ausgewählt?

Die Medienbox basiert auf den Empfehlungen der Kinderliteratur-Experten der Stiftung Lesen sowie auf den Ideen und Anregungen von Pädagoginnen/Pädagogen und Ehrenamtlichen, die mit Kindern mit Migrations- bzw. Fluchthintergrund arbeiten. (Mehr Informationen finden Sie hier.)

Und wie suche ich geeignete Bücher zum Vorlesen aus? Vor allem dann, wenn ich mehrsprachige Klassen habe.

Geeignet sind Bücher mit wenig Text, vielen aussagekräftigen Illustrationen und kulturübergreifenden Themen: Tiere, Märchenhaftes, an Medien Anknüpfendes, Mitmachbücher, Kreativ-Bücher, Gesprächsbücher (z.B. Frag mich! von Antje Damm). Unbedingt sollten die großartigen Bilderbücher, die der Markt bietet, auch für die Grundschule genutzt werden – viele richten sich ohnehin an ältere Kinder. Ich könnte mir aber auch einen Vorlese-Klassiker wie Latte Igel von Sebastian Lybeck gut vorstellen – wenn er lebendig und dialogisch angeboten wird.

Und wenn Vorlesen (noch) nicht funktioniert: Wimmelbücher sind ein guter Einstieg – insbesondere wenn sie unseren Alltag thematisieren (z. B. Unser Zuhause von Doro Göbel und Peter Knorr). Auch digitale Angebote sind eine Option. Eine Auswahl besonders geeigneter Titel für verschiedene Altersgruppen finden Interessierte auf der Seite der Stiftung Lesen.


Empfehlungen für Vorlesebücher:
 

Für jüngere Leserinnen und Leser:

Doro Göbel und Peter Knorr: Unser Zuhause. Eine Wimmelbilder-Geschichte.
Beltz & Gelberg 2015. 16 Seiten. 12,95€. Ab 3 Jahren. ISBN 978-3-407-79598-4

Was ist Zuhause? Diese Frage greift das Wimmelbilderbuch Unser Zuhause auf und entwirft ein buntes Panorama des Miteinanders. In farbenfrohen und detailreichen Bildern können Betrachterinnen und Betrachter sehen, wie bunt unsere Welt ist. Und das ist auch gut so! Man begegnet einer binationalen Familie mit drei Kindern und dem Großvater Jussim ebenso wie der alleinerziehenden Mutter Luise mit ihrer Tochter Nelli oder der klassischen Kleinfamilie mit zwei Kindern und einer Katze. Mit Piet und Henk wird ein homosexuelles Elternpaar entworfen und mit Tim schließlich ein Kind im Rollstuhl. Multikulturalität und Inklusion charakterisieren unseren Alltag und werden in Unser Zuhause in farbenfrohe Bilder gebannt. Neben einem harmonischen Familienleben sehen die Leserinnen und Leser aber auch Streitigkeiten. Unser Zuhause ist ein Wimmelbilderbuch, das sich Gesprächsanlässen öffnet und die Vielfalt des Miteinanders unterstreicht.

Susanne Weber: Paul & Papa. Vorlesegeschichten.
Mit Illustrationen von Susanne Göhlich.
Mixtvision 2015. 70 Seiten. 11,90€. Ab 5 Jahren. ISBN 978-3-95854-027-9

In zwanzig kurzen, aber spannenden Vorlesegeschichten wird vom Familienalltag des Kindergartenkindes Paul und seinem Vater erzählt: Bagger fahren, Dinosaurier, Sterne gucken, Regale bauen oder Abendessen kochen. Die Geschichten nehmen die Interessen der männlichen Leser auf. In der Geschichte "Männertag" nimmt sich z. B. der Vater frei, um den Tag mit Paul zu verbringen. Sie besuchen das Naturkundemuseum. Doch dort begegnen sie einer Schulklasse voller Mädchen, die Paul auslachen. Doch auch hier weiß der Vater Rat: Pommes und ein Film über Dinos helfen in fast jeder Situation. Doch sie schauen auch Sternschnuppen oder Paul erfährt etwas über die Arbeit seines Vaters. Pauls Vater hört seinem Sohn genau zu, nimmt seinen Standpunkt ernst und spricht mit ihm. Egal, ob es um den nächsten Urlaub oder um den Besuch in seinem Büro geht. Es sind Geschichten, die bewusst für Väter und ihre Söhne konzipiert wurden und sich zum Vorlesen eignen. Die Illustrationen von Susanne Göhlich vervollständigen die Geschichten. Ein rundum gelungener Vorlesespaß.

Aaron Becker: Die Reise.
Gerstenberg Verlag 2014. 32 Seiten. 14,95€. Ab 5 Jahren. ISBN 978-3-8369-5784-7

Ein Mädchen sitzt traurig auf einer Treppe umgeben von Wolkenkratzern. Dann folgt ein Blick ins Zimmer des Mädchens. Doch auch das wirkt aufgrund der Grautöne nicht fröhlich. Das Mädchen jedoch malt sich eine rote Tür an die Zimmerwand und macht eine Reise in eine andere Welt. Die Betrachterinnen und Betrachter befinden sich zunächst in einem Wald voller Leben, reisen dann mit einem gemalten Boot auf einem Wasserlauf und befinden sich dann in einer prächtigen Stadt. Entworfen wird eine zauberhafte Welt ganz ohne Worte! Das Bilderbuch mit literarischen Vorbildern wie Die Chroniken von Narnia ist nicht nur für jüngere Kinder geeignet, sondern auch für den Grundschulbereich. Man kann immer wieder etwas Neues entdecken und sich über die Bilder sowie die Geschichte austauschen.

 

Sachwimmelbilderbücher für jüngere Leserinnen und Leser:

Christine Henkel: Mein extragroßes Natur-Wimmelbuch.
Esslinger 2015. 72 Seiten. 14,99€. Ab 3 Jahren. ISBN 978-3-480-23241-3

Im Wald, am Bach, im Moor und selbst im Obstgarten wimmelt es nur so. In großen und farbigen Bildern zeigt sich die Vielfalt der heimischen Natur. Der Winter fehlt ebenso wenig wie der Komposthaufen und bringt kleine und große LeserInnen zum Staunen. Mit Mein extragroßes Natur-Wimmelbuch ist Christine Henkel ein wunderbares Bilderbuch gelungen, der das Warten in der Weihnachtszeit fast vergessen lässt.

Katarzyna Bajerowicz: Schau, was krabbelt im Wald?
Loewe Naturkind 2015. 28 Seiten. 8,95€. Ab 3 Jahren. ISBN 978-3-7855-8122-3

Im Mittelpunkt des großformatigen Pappbilderbuchs steht das Leben der Ameisen. Man begleitet sie in ihrem Bau, schaut ihnen beim "Frühjahrsputz" zu und sieht, wie sie im Winter zu Ruhe kommen. Aber auch andere Insekten wie Marienkäfer oder Spinnen krabbeln selbstverständlich auf den Seiten und laden so zum Verweilen. Suchaufgaben und Rätsel vervollständigen das Bilderbuch.

 

Flucht in der Kinder- und Jugendliteratur für ältere Leserinnen und Leser:

Claude K. Dubois: Akim rennt
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel.
Moritz-Verlag 2013. 90 Seiten. 12,95. Ab 7 Jahren. ISBN 978-3-896565-268-4

Akim baut in seinem Zimmer ein kleines Schiff, läuft damit zum See und möchte mit seinen Freunden spielen. Der Krieg, so informiert uns der Text fast beiläufig, ist von Akims Dorf weit weg. Es wird eine Alltagsszenerie entworfen, in der Kinder noch Kinder sein können. Die Bilder unterstreichen die friedliche Atmosphäre, Vögel sind am Himmel, es ist sonnig und fast meint man die Brise am Wasser zu spüren. Plötzlich sind keine Vögel zu sehen, sondern Flugzeuge, die sich dem Dorf nähern und von den Kindern fasziniert beobachtet werden. Doch dann geschieht das Unfassbare: Noch während des Spiels kommt der Krieg ins Dorf. Flugzeuge bombardieren die Häuser und auch Akim steht vor den Trümmern seines Zuhauses. Das unfassbare Leid, das Akim erlebt, bannte Claude K. Dubois in sehr unterschiedliche Zeichnungen und zeigt so das individuelle Schicksal eines Flüchtlingsjungen. Neben den Grausamkeiten, die nicht ausgeblendet werden, trifft Akim auch immer wieder auf Menschen, die ihm helfen und die inmitten der Grausamkeit Menschlichkeit bewahrt haben. Erzählt wird aus Akims Perspektive. Es ist das Schicksal des Kindes, das im Vordergrund steht. Erklärungen für die Ereignisse liefert der Text nicht. Akim rennt leistet im Kontext aktueller Debatten einen wichtigen Beitrag zum Thema Flüchtlinge.

Uticha Marmon: Mein Freund Salim
magellan 2015. 158 Seiten. 13,95. Ab 9 Jahren. ISBN 978-3-7348-4010-4

Hannes und seine jüngere Schwester Tammi treffen einen Jungen, der eine rosa Jacke trägt, kaum spricht und sich seltsam verhält. Sie beobachten ihn, kommen sich näher und können doch nicht miteinander reden. Salim spricht kein Deutsch, beobachtet die Kinder schweigend und Hannes selbst fühlt sich in seiner Gegenwart zunächst unsicher. Warum benimmt er sich so merkwürdig? Was möchte er? Hannes und seine Schwester möchten Antworten. Sie beobachten den Jungen und langsam nähern sich die Kinder an. Mein Freund Salim ist ein ungewöhnlicher und ein wichtiger Kinderroman, der sich einem schwierigen Thema nähert und die Geschichte von Salim behutsam und kindgerecht erzählt. Zugleich verzichtet Uticha Marmon nicht auf spannende Elemente, sodass die Freundschaftsgeschichte zugleich auch eine Abenteuergeschichte ist.

Ingeborg Kringeland Hald: Vielleicht dürfen wir bleiben
Aus dem Norwegischen von Maike Dörries.
Carlsen 2015. 108 Seiten. 9,99€. Ab 10 Jahren. ISBN 978-3-551-55597-7

Vielleicht dürfen wir bleiben ist mit 108 Seiten ein fast schon unscheinbares Bändchen zwischen all den Jugendromanen, die immer umfangreicher werden. Aber es ist ein unglaublich dichtes und beeindruckendes Buch, dem man viele Leserinnen und Leser wünscht. Im Mittelpunkt steht der elfjährige Albin, der vor fünf Jahren mit seiner Mutter und seinen jüngeren Schwestern aus Bosnien nach Norwegen floh, läuft aus einem Flüchtlingsheim davon. Er hofft, so lange er verschwunden ist, dürften weder seine Schwestern noch seine Mutter abgeschoben werden. Obwohl in Bosnien Frieden herrscht, sind sie nach wie vor als Moslems bedroht und fürchten die Rückkehr. Albin versteckt sich in einem Auto, fährt in die Berge und findet im tiefsten Winter eine einsame Hütte. Er streift durch die Wälder, beobachtet zwei Mädchen mit ihren Großeltern, hungert und friert. In Rückblenden erinnert er sich an sein Zuhause in Bosnien, an die Ermordung seines Vaters und die Flucht der Familie. Sie erlebten all die Brutalitäten, die den meisten Leserinnen und Lesern aus der Zeitung bekannt sein dürften. Albin möchte in Oslo bleiben, hat bereits Freunde gefunden und spricht auch die Sprache. Doch die Regierung sieht es anders. Vielleicht dürfen wir bleiben ist sprachlich und thematisch ein literarisch anspruchsvoller Roman, der zum Nachdenken anregt und mit jugendlichen Leserinnen und Lesern gemeinsam erarbeitet werden sollte. Eine Anschlusskommunikation ist notwendig, denn die Autorin scheut sich in ihrem Romandebut nicht, auch die brutale Seite des Krieges mit willkürlichen Erschießungen und Vergewaltigungen zu zeigen.