Allgemein

Der historische Roman Die schwarzen Brüder entsteht 1938 im Schweizer Exil, wo Lisa Tetzner (1894-1963) mit ihrem Ehemann Kurt Kläber (Ps. Kurt Held, 1897-1959) seit 1933 lebt. Er wird zunächst in Schweden veröffentlicht, 1940/41 in der Schweiz. Lisa Tetzner hat ihn zwar zusammen mit Kurt Kläber, der vor allem mit seinem Klassiker Die rote Zora und ihre Bande (1941) bekannt geworden ist, geschrieben, veröffentlicht ist der Roman jedoch nur unter ihrem Namen, weil Kurt Kläber in der Schweiz Publikationsverbot und den Status eines politischen Flüchtlings hat. Erst mit der Roten Zora tritt er unter dem Namen Kurt Held  erneut als Schriftsteller auf und verfasst seinen ersten eigenständigen Jugendroman. Sein Schreiben für Kinder erklärt sich ebenfalls biografisch: Er löst sich von der Kommunistischen Partei und verändert daher sein Erzählmuster. Kinder werden für ihn ähnlich wie bereits für Lisa Tetzner Hoffnungsträger und Vorbilder einer besseren Zukunft. Lisa Tetzner selbst ist vor allem mit ihren Märchen sowie ihrer neunbändigen Reihe Die Kinder aus Nr. 67 bekannt geworden. Sie sammelt in den 1920er Jahren Märchen und reist als Märchenerzählerin durchs Land. Aber sie hat aber auch Kinderliteratur geschrieben, die "zu den herausragenden Zeugnissen der Exilliteratur" (Wrobel 2010, S. 177) gezählt werden kann.

Der Roman Die schwarzen Brüder lässt sich nicht nur als ein historischer Roman lesen, sondern ist auch im Kontext der Exilliteratur verortet und sollte daher im zeitgeschichtlichen Kontext besprochen werden. Ähnlich wie in der Kinderodyssee und der Roten Zora schreiben Lisa Tetzner und Kurt Held einen antifaschistischen Kinderroman, der für Solidarität und Menschlichkeit steht und damit auch heute noch aktuell ist.

Handlung

Die Handlung der Schwarzen Brüder greift einen historischen Stoff auf. Lisa Tetzner bezieht sich in ihrer Geschichte auf einen Bericht in einer Chronik aus dem Jahre 1832, in dem von den "kleine[n] Schweizer Sklaven" berichtet wird (Tetzner 1998, S. 7). Sie greift den Bericht auf, um ihn gemeinsam mit Kurt Held zu einem Roman zu verarbeiten.

Im Mittelpunkt steht der zu Beginn der Handlung fast dreizehnjährige Giorgio. Er lebt mit seinen Eltern und Geschwistern in den Tessiner Bergen und  seine Familie gehört zu den ärmsten Bewohnern. Daher verkaufen ihn seine Eltern 1838 an Antonio Luini, der Kinder nach Mailand bringt:

"Ihr habt einen Sohn?"
"Ja", Giorgios Vater trank wieder.
"Er ist dreizehn?"
"Er wird dreizehn."
"Ich suche solche Knaben."
"So", Roberto trank wieder einen Schluck.
"Ich bringe sie für ein halbes Jahr nach Mailand", fuhr der Mann fort, "ich gebe sie dort  in Dienst. Der Vater bekommt dreißig Franken für seinen Sohn." (Tetzner 1998, S. 29)

Noch wehrt sich der Vater gegen den Verkauf, doch nach einem Jahr voller unglücklicher Umstände muss Giorgio verkauft werden und er tritt die beschwerliche Reise gemeinsam mit anderen Jungen an. In Mailand arbeiten sie unter schwersten Bedingungen als Kaminfeger. Unterwegs nach Mailand trifft Giorgio auch auf Alfredo, der sein bester Freund wird. Gemeinsam schwören sie, wie Brüder zusammenzuhalten und sich gegenseitig zu unterstützen. Während Giorgio kaum lesen oder schreiben kann, kann Alfredo beides und bereits zu Beginn wird deutlich, dass er aufgrund seiner Bildung die sozialen Zustände hinterfragt. 

In Mailand erfährt Giorgio Armut, Misshandlung und Krankheit. In Mailand kommt er bei Meister Rossi unter, der im Gegensatz zu seiner Frau gutmütig ist. Beide haben eine Tochter und einen Sohn, und es ist vor allem der Sohn Anselmo, der Giorgio schikaniert und ihn des Diebstahls bezichtigt. Schließlich muss Giorgio aufgrund der Lügen und der Bosheit von Anselmo fliehen. Doch es ist nicht nur sein 'Zuhause', was Probleme bereitet. Die Arbeit ist schwer und immer wieder kommt es zu Kämpfen zwischen den Kaminfegern und einer Gruppe Mailänder Jungen, die sich die 'Wölfe' nennen, diese nehmen den Kaminfegern, die sich 'die schwarzen Brüder' nennen, die Trinkgelder. Auch die anderen Jungen kommen ebenfalls aus ärmlichen Verhältnissen: 

Giorgio sah sich inzwischen die anderen an. Die meisten waren in seinem Alter und in seiner Größe, auch fast so arm und zerlumpt wie er. Sie hatten kaum etwas über den mageren, knochigen Körpern und waren dünn, schlank und hölzern wie Stecken. (Tetzner 1998, S. 110)

Es ist schließlich Alfredo, der immer wieder die Lebensumstände kritisiert und den Jungen klar macht, dass Zusammenhalt und Solidarität wichtig sind. 

Die Banden werden jedoch im Laufe der Handlung zu Freunden: Durch diese Darstellung der Solidarität und entstehenden Freundschaft der verfeindeten Gruppierungen werden Kinder somit – ähnlich wie in ihrer Kinderodyssee Kinder aus Nr. 67 oder in der Roten Zora – zum Hoffnungsträger einer besseren Zukunft. Der Gedanke des gemeinsamen Kampfes gegen Ausbeutung und Armut wird den Lesern in diesem historischen Kinderbuch präsentiert. Doch Giorgio muss auch erleben, dass Alfredo stirbt und nicht mehr erlebt, wie sich die Situation verändert. Schließlich beschließen die Jungen Mailand zu verlassen und sich so die Freiheit zurückzuholen. Sie fliehen zurück in die Schweiz, die als ein Land der Freiheit dargestellt wird. Sie finden Zuflucht bei einem Arzt, der ihnen bereits in Mailand Hilfe versprochen hat. Die Flucht erinnert an die Fluchten zahlreicher Exilierter über die so genannte 'grüne Grenze'. Fluchthelfer unterstützen die Kinder. In der Schweiz kann Giorgio sogar studieren und kehrt als Lehrer in sein Heimatdorf zurück:

"Du wirst jetzt also unser erster Schullehrer", sagte der Vater, nachdem sie sich alle wieder um den Tisch gesetzt hatten und eine Flasche Nostrano tranken. "Ja, im Oktober beginne ich mein neues Amt", antwortete Giorgio. (Tetzner 1998, S. 475)

Damit bekommt Giorgio durch den Lehrerberuf die Möglichkeit, positiv die Erziehung der Kinder zu beeinflussen und ihnen andere Möglichkeiten anzubieten als er selber als Kind bekommen hatte. 

Analyse

Dieses Erzählmuster ist durchaus charakteristisch für das Werk Tetzners, denn auch in Hans Urian oder Die Geschichte einer Weltreise (1929) äußert die Hauptfigur den Wunsch, als Erwachsener die Welt zu verbessern, Thymian aus Was am See geschah (1935) wird ebenfalls Lehrer und Erwin aus der Kinderodyssee möchte nach Kriegsende nach Deutschland zurückkehren, um das Land aufzubauen. Bildung scheint, so deutet es zumindest Tetzners und Helds Werk an, eine Möglichkeit, später die Welt zu verändern. Ähnlich wie Kurt Kläber/Held glaubt auch Tetzner an freie Bildung und Erziehung und sieht darin die "Grundlage für die Genesung der Gesamtgesellschaft" (Hoffmann 2013, S. 110). Kurt Kläber schreibt schon 1925:

Vielleicht würde dann durch das Heranwachsen des Kindes unsere ganze heutige Zeit durchbrochen, nicht gewaltsam, sondern durch eine freiheitliche Erziehung, die die Grundlagen für Besserung und Erneuerung in sich trägt. (Kläber 1925, S. 36).

Diese Ideen über Erziehung und Bildung finden sich auch in den Romanen von Lisa Tetzner und Kurt Kläber/Held wieder. Ihre literarischen Texte sollen neben der Schule dazu beitragen, Leser zum Nachdenken anzuregen und zu eigenständig denkenden Menschen zu erziehen. 

Ähnlich wie auch in ihren anderen Romanen möchten Lisa Tetzner und Kurt Held auch in den Schwarzen Brüdern die Solidarität der Kinder nutzen, um sie kindlichen Lesern als Vorbild anzubieten. Der Roman setzt sich mit Hunger, Armut und Kinderarbeit auseinander, zeigt die Verzweiflung der Tessiner Familien, die ihre Kinder verkaufen müssen. Erst der Zusammenhalt der Jungen sowie eine gute (Aus-)Bildung können die Lebensumstände verändern und auch verbessern.

Der Verleger H.R. Sauerländer kritisierte nach der Lektüre des Romans die grausame Brutalität, die das Ehepaar schildert, um Not und Verzweiflung der Jungen zu zeigen. Im Roman wird die Armut mit allen Konsequenzen drastisch und schonungslos beschrieben. Tetzner und Held machten jedoch deutlich, dass u.a. Autoren wie Charles Dickens als Vorbild dienten: "Auch er führte seine jungen und alten Leser immer bis an den Rand der menschlichen Höllen, ja sogar hinein." (Tetzner an Sauerländer, Carona 19. März 1939, hier zit. nach Bolius 1997, S. 241). Lisa Tetzner gehört zu jenen Autorinnen, die sich in ihren Werken mit der realen Welt der Kinder auseinandergesetzt hat und auf die Darstellung einer 'heilen Welt' verzichtet.

Populäre Rezeption

Die schwarzen Brüder blicken auf einen umfassenden Medienverbund zurück und werden auch in Schulen gelesen. Laut Dieter Wrobel avancierte der Roman jedoch "schnell weltweit zu einem der meistgelesenen Jugendbücher" (Wrobel 2010, S. 181). Mittlerweile existieren ein Hörspiel, zwei Verfilmungen (1984, 2012), ein Anime (1995), eine Graphic Novel (2002) sowie ein Musical (2007). Die Verfilmung von 2012 erhielt den Goldenen Spatz von der Kinderjury, wurde jedoch von Filmkritikern aufgrund der Harmlosigkeit kritisiert, denn er schafft es nicht, die Kritik an Kinderarmut und -arbeit auf die Leinwand zu transportieren. Anders dagegen die Graphic Novel von Hannes Binder: Obwohl die Schwarz-Weißen-Zeichnungen dominieren und der Text stark gekürzt wurde, geht die Gesellschaftskritik keineswegs verloren, sondern findet sich in den Zeichnungen wider. Diese greifen die Angst der Jungen auf und adaptieren eindrucksvoll die Geschichte in Bildern. Die Serie wurde 1984 im Auftrag des WDR produziert und besteht aus 12 Folgen, die sehr nah am Roman sind. Auf der Internet Plattform Antolin findet sich zudem auch eine Rezension zum Roman, der mittlerweile auch in Schulen gelesen wird.

Wissenschaftliche Rezeption

Im Mittelpunkt einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Lisa Tetzner steht ihre Kinderodyssee Die Kinder aus Nr. 67, die immer wieder von der Forschung rezipiert wird. Auch in der Biografie Lisa Tetzner. Leben und Werk (1997) von Gisela Bolius werden Die Schwarzen Brüder nur auf wenigen Seiten zusammengefasst. Eine Vernachlässigung verwundert, gehörten Die Schwarzen Brüder doch zu den wichtigsten historischen Romanen der Exilliteratur. In der Forschungsliteratur zu Kurt Kläber/Held steht sein Roman Die rote Zora im Mittelpunkt, auch hier werden Die Schwarzen Brüder nur am Rande erwähnt. Eine Auseinandersetzung mit dem Roman wäre jedoch wünschenswert, da er, so zumindest Gisela Bolius, auch großen Einfluss auf die Kinder- und Jugendliteratur in der Schweiz hatte.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Kläber, Kurt (1925): Begabung der Massen. In: Held, Kurt: Empörer! Empor! Gedichte, Skizzen, Reiseberichte. Der Syndikalist: Berlin, S. 23-37.

 Tetzner, Lisa (1998): Die schwarzen Brüder. Unionsverlag: Zürich. (EA: 1941).

Sekundärliteratur

Bolius, Gisela (1997): Lisa Tetzner. Leben und Werk. Dipa-Verlag: Frankfurt am Main.

Hoffmann, Julia (2013): Kurt Held, Die rote Zora und ihre Bande (1941). In: Bräuer, Christoph/Wangerin, Wolfgang (Hg.): Unter dem Wunderschirm. Lesarten klassischer Kinder- und Jugendliteratur. Wallstein: Göttingen, S. 101-113.

Koppe, Susanne (1997): Kurt Kläber – Kurt Held: Biographie der Widersprüche? Zum 100. Geburtstag des Autors der "Roten Zora". Sauerländer: Frankfurt am Main.

Wrobel, Dieter (2010): Lisa Tetzner: Die Kinder aus Nr. 67 (Erwin und Paul/Das Mädchen aus dem Vorderhaus). Dilemmageschichten aus dem Vorkriegs-Berlin. In: Wrobel, Dieter: Vergessene Texte der Moderne. Wiederentdeckungen für den Literaturunterricht. Wissenschaftlicher Verlag Trier: Trier, S. 176-191.

Internetquellen

http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/kino/Schweizer-Sklavenbuben/story/30881794 (zuletzt abgerufen am 11.07.2014)