In den 1960er Jahren rückte 'die Jugend' ins Zentrum des politischen und kulturellen Diskurses der DDR, womit die Jahrgänge adressiert wurden, die ihre entscheidende Persönlichkeitsprägung bereits nach 1945 in Ostdeutschland erfahren hatten. Mit dieser Gruppe verbanden sich besondere Hoffnungen und Forderungen. Man erwartete eine starke Identifikation mit dem jungen Staat und einen aktiven Beitrag zur Realisierung der sozialistischen Gesellschaft; recht besitzergreifend ist in der offiziellen Kommunikation stets von "unserer Jugend" die Rede. An der wechselweise auf mehr Eigenverantwortung und mehr Kontrolle zielenden Jugendpolitik der 1960er und 1970er Jahre lässt sich ein Ringen um diese politischen Ansprüche, aber auch um die Gunst der jungen Generation erkennen, die sich oftmals am westlichen Lebensstil orientierte.
Die Integration der jungen Generation sollte die FDJ leisten und sie tat dies ab den 1960er Jahren verstärkt auf dem Feld der Kultur. Literatur wurde dabei als ein Mittel der Bewusstseinsbildung begriffen, und insbesondere die stark mit Subjektivität assoziierte Lyrik wurde eng mit politisch-pädagogischen Konzepten verknüpft. So kanalisierte die FDJ die durch Stephan Hermlins berühmt gewordenen Lyrikabend (Junge Lyrik – unbekannt und unveröffentlicht) vom 11.12.1962 angestoßene sog. Lyrikwelle und förderte durch Veranstaltungen und Publikationen (wie die Anthologie-Reihen Auswahl oder Offene Fenster) eine 'junge Lyrik', die das "sozialistische Lebensgefühl unserer Jugend", d.h. ein spezifisches Verhältnis zur Gegenwart und zum Aufbau des sozialistischen Staates gestalten sollte. Um 1970 kam es zu einer Intensivierung dieser Bemühungen in der von der FDJ organisierten 'Poetenbewegung', die einerseits auf systematische Talentförderung und andererseits auf sozialistische Persönlichkeitsbildung durch literarisches Schreiben zielte. Dazu dienten neben den jährlich stattfindenden Zentralen Poetenseminaren in Schwerin unzählige Schreibzirkel und Lyrikklubs, Wettbewerbe, Publikationen und regionale Seminare. Wie attraktiv dieses Programm war, belegt die Tatsache, dass sich bis zum Ende der DDR viele Tausend junge Menschen daran beteiligten und auch manche Autorinnen- und Autorenkarrieren dort ihren Ausgang nahmen. Offensichtlich nutzten junge Menschen diese Angebote aus ganz verschiedenen und durchaus 'eigen-sinnigen' Interessen.
Der Workshop, der im Rahmen des DFG-Projekts Die 'Sammlung Kratschmer/Würtz' und die Jugendlyrik in der DDR an der Friedrich-Schiller-Universität Jena stattfindet, möchte Forscherinnen und Forscher, die sich aus literaturwissenschaftlicher oder sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive mit dem skizzierten Gegenstandsbereich beschäftigen, miteinander ins Gespräch bringen. Leitend ist die Frage nach dem Verhältnis von politisch-programmatischen Zielsetzungen der Jugend- und Literaturpolitik (auch nach deren Einheitlich- oder Uneinheitlichkeit) und der kulturellen Praxis, damit auch den Interessen, mit denen sich Akteurinnen und Akteure auf mittlerer Ebene (Zirkelleiter, Redakteure, Funktionäre etc.) sowie die Schreibenden an diesem Programm beteiligten. Denkbar sind Beiträge
- zu einzelnen Institutionen (FDJ, Poetenseminare, Lyrik-Klubs, Arbeitsgemeinschaften junger Autoren, Verlage, Wettbewerbe etc.),
- zu einzelnen Zeitschriften und Anthologien,
- zum Lyrikdiskurs (Wie schreibt man ein Gedicht?),
- zu den in diesem Rahmen entstandenen Texten, einzelnen Autorinnen und Autoren, typischen Schreibweisen sowie Themen
- oder auch vergleichende Blicke auf Jugendlyrik-Wettbewerbe und Schreibförderprogramme in der Bundesrepublik.
Bitte senden Sie ein Abstract von max. 1 Seite von Ihrem (ca. 25 min.) Referat bis zum 30.09.2022 an Prof. Dr. Gregor Streim (
[Quelle: Call for Papers]