Wie sind Sie dazu gekommen, Bilder zur Unendlichen Geschichte für den Thienemann-Verlag zu illustrieren?

Der Weg zu diesem Projekt wurde durch zwei Bücher ermöglicht. Einerseits die von mir mit Ölbildern illustrierte Ausgabe des Wind in den Weiden vom Nord-Süd-Verlag. Andererseits die illustrierten Harry Potter-Ausgaben von Jim Kay. Meine Lektorin vom Thienemann Verlag war in meinem Berliner Atelier zu Besuch und sehr interessiert daran, ebenfalls ein mit Ölbildern illustriertes Buch von mir bei Thienemann zu platzieren. Wir haben über die illustrierten Harry Potter-Ausgaben gesprochen und so kam eins zum anderen.

Welche Vorarbeiten bzw. Vorstudien haben Sie dazu absolviert?

Mir war es wichtig, eine illustrierte Ausgabe zu gestalten, welche möglichst den Vorstellungen Michael Endes entsprochen hätte. So lag es nahe, mit dem Erben Roman Hocke Kontakt aufzunehmen, welcher mich nach Italien einlud, nach Genzano bei Rom, wo Ende lebte und das Buch geschrieben hat. Hier wurden mir unendlich viele Orte beschrieben, die Ende inspiriert hatten, von welchen ich lange nicht alle besuchen konnte. Außerdem zeigte Herr Hocke mir eine von Gustave Doré illustrierte Ausgabe des Orlando Furioso, welche Ende besessen hatte. Beim Forschen durch seine Bildwelt aus Kunstgeschichte und Literatur begegneten mir viele aus Phantasien vertraute Orte und Figuren.

Haben Sie die Bilder aus der weltbekannten, wenn auch fragwürdigen Verfilmung von Wolfgang Petersen inspiriert, eingeschränkt oder haben Sie diese erst nach Ihren großformatigen Leinwandzeichnungen angesehen?

Erst hatte ich Sorge, dass sie mich zu sehr ablenken oder blockieren könnte. Aber als ich das Buch noch einmal las und sah, wie wenig und auf unkorrekte Weise eigentlich im Film umgesetzt wurde, war dies kein Problem mehr. Michael Ende konnte sehr detailreich beschreiben, wie Phantasien aussah. Am Ende war es eher problematisch aus den vielen Bildideen einige auszuwählen...

Küken auf Illustrationsbogen, (c) Sebastian Meschenmoser

Küken in Bananenkiste, (c) Sebastian Meschenmoser

Ein Loser-Huhn, das zum Fuchsschreck durch Superheldenträume wird: Wie sind Sie auf die Idee zu ihrem aktuellen und polyvalenten Bilderbuch Chick gekommen?

Es gab verschiedene Auslöser für Chick. Meine Frau arbeitet an einer Kreuzberger Schule (in Berlin) als Naturpädagogin und hatte einen Wettbewerb gestartet, den Schulhühnern Namen zu geben. Kinder durften Vorschläge einreichen. Ein Namensvorschlag für den Hahn war "Bosshuhn". Ich fand diesen Namen zunächst grandios, allerdings erklärte meine Frau mir, dass dies nicht ginge, da somit die üblichen Rollenbilder, vom "Mann als Boss" bedient würden. Der Seidenhahn wurde letztendlich ˮPuschelˮ genannt. Dies passte viel besser und ohnehin hatte eine Henne in diesem Rudel das Sagen, was nicht ungewöhnlich für Hühner ist.

Später hat der Stadtfuchs leider alle Hühner geholt, worauf die Idee aufkam, Küken zu Hause großzuziehen, damit sie sich an den Menschen gewöhnten und somit auch besser zur Arbeit mit den Kindern geeignet seien. Allerdings war es nicht möglich, zu unterscheiden, welches Küken einmal Hahn oder Henne werden würde. So entstand die Geschichte.

Sebastian Meschenmoser mit schwarzem Huhn auf der Schulter, (c) Sebastian Meschenmoser

Zeichenkasten von Sebastian Meschenmoser, (c) Sebastian Meschenmoser

Sehr beeindruckend, dass Sie für dieses Projekt tatsächlich Küken aufgezogen haben. Auch für die Bilder zur unendlichen Geschichte sind Sie auf den Spuren Michael Endes gewandelt. Ist eine aufwändige Auseinandersetzung mit der Realität für Sie wichtig, um kreative Prozesse in Gang zu bringen?

Die Realität ist immer Auslöser für meine "Fiktionen". Ich mag es, Fragestellungen aus dem echten Leben auf einer Kinderbuchebene zu behandeln. Hier lassen sich die Perspektiven leichter ändern. Vielleicht kann ein Buch dann wiederum die Realität verändern…

 

Sebastian Meschenmoser in seinem Arbeitszimmer, (c) Sebastian Meschenmoser

Sebastian Meschenmosers Hühnerstall, (c) Sebastian Meschenmoser

In Ihren Märchen-Parodien über Rotkäppchen oder die sieben Geißlein lesen Sie traditionelle Erzählungen gegen den Strich. Könnte dies als ein Anstoß für ein Umdenken in Bezug auf stereotype Rollenmuster angesehen werden?

Klassische Märchen behandeln in der Regel immer die Stereotypen von Gut und Böse, männlich und weiblich und eignen sich somit besonders dazu, parodiert zu werden und Fragen aufzuwerfen. Grundsätzlich finde ich es wichtig, gerade im Bilderbuch Rollenmuster aufzubrechen, da dies ja die erste Berührung mit Literatur darstellt. Ich merke selber ab und zu, wie sehr man in Rollen gesteckt wird oder sonderbare Prägungen, gerade durch die Populärkultur, erfahren hat. Hier muss man aufmerksam weiterarbeiten, allerdings halte ich wenig von zu didaktischer Literatur, da die Geschichte ja auch gut und packend sein muss, damit sie überhaupt mehrfach gelesen wird.

Was meinen Sie genau mit sonderbaren Prägungen der Populärkultur? Frauen als lebende Barbie-Puppen mit "Duck-Faces" und Männer als mutige Beschützer- und Kämpfertypen mit Body-Builder-Figur?

"Duck Face" ist ein gutes Stichwort, denn in einer Comicsequenz bei Chick bediene ich mich tatsächlich der Ästhetik der Donald Duck Comics der 80er und 90er, mit denen ich aufgewachsen bin. Hier erleben hauptsächlich die männlichen Figuren spannende Abenteuer, während Daisy und Minnie Schleifchen tragen und Schmuck wollen oder einfach entführt werden. Dies ist nur eines von vielen Beispielen von Rollenbildern in Print, Film und Fernsehen aus dieser Zeit. Inzwischen ist es ein wenig besser geworden.

In diesem Kontext würde mich interessieren, was Sie als Autor von der aktuellen Gender-Debatte halten. Genderwahn oder kritisches Hinterfragen von patriarchalen Wertesystemen?

Der überzogene Begriff "Wahn" im Kontext zum Gendern zeigt ja schon eine gewisse Angst diesem Thema gegenüber. Ich finde es wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Gender Studies ist ja ein eigenes komplexes Studienfach mit diversen neuen Begriffen und Sichtweisen, die für viele Menschen völlig neu und daher noch schwer verständlich sind. Hier wünsche ich mir etwas mehr Geduld, damit von Experten genauer erklärt werden kann, was, warum und wie gemeint ist, da nicht bei allen Menschen die studiumsbedingte Fachterminologie vorausgesetzt werden kann.

Ich finde das Thema selbst schwierig, da ich Angst habe, jemandem auf die Füße zu treten, oder etwas nicht korrekt auszudrücken, was sich allerdings immer schwer vermeiden lässt. Grundsätzlich müssen patriarchale Wertesysteme erkannt und umgekrempelt werden. Das bedeutet Veränderung. Aber Veränderung ist etwas Natürliches.

Sie denken also, dass zu abgehobene und akademisch überfrachtete Begriffe die Masse in diesem Thema verunsichern? Vielleicht können Sie uns ein Beispiel nennen.

Ich glaube nicht einmal, dass Begrifflichkeiten akademisch überfrachtet sind. Die Definitionen sind einfach unterschiedlich. Die wenigsten sehen sich selber als Sexistinnen und Sexisten an, obwohl ihr Verhalten aus Sicht der Gender-Debatte sexistisch ist. Hier sollte mehr aufgeklärt werden, bevor angegriffen wird.

In Ihrem bisherigen Oevre beschäftigen Sie sich viel mit (sprechenden) Tieren, die durch Ihre anthropomorphen Verhaltensweisen verschiedenste Versuche unternehmen, um ihre Grenzen zu überschreiten. Wieso dieses zentrale Thema?

Tiere sind relativ neutral. Hautfarbe, alter, Herkunft spielen fast keine Rolle, sodass ich mich völlig auf die Geschichte konzentrieren kann. Außerdem bringen verschiedene Tiere bereits Grundeigenschaften mit, welche ich dann nicht aufwändig beschreiben muss. Ein Eichhörnchen ist hektisch, ein Bär strahlt Ruhe aus.

Meine vermenschlichten Tiere sind natürlich Projektionsflächen und erörtern Fragestellungen, die mich interessieren. Sie erleichtern allerdings den Zugang zu diesen Themen.

Haben Sie sich in diesem Kontext auch mit Aesops Fabeln im Vorfeld auseinandergesetzt? Auch Ihre Werke über Tiere enthalten m. E. nicht selten eine (unaufdringliche und implizite) Moral.

Mit Aesops Fabeln habe ich mich nicht explizit auseinandergesetzt. Ich kenne diverse Tierfabeln und bediene mich natürlich an ihrem Grundmechanismus. Moral versuche ich vordergründig immer zu vermeiden. Im Schnitt kann man sagen, dass es fast immer irgendwie um Freundschaft geht.

Ihre Zeichnungen sind häufig mit Blei- und Buntstiften angefertigt und wirken sehr ehrlich und authentisch. Welche digitalen Schritte beziehen Sie bei Ihrer Zeichenarbeit ein und wieso bevorzugen Sie scheinbar diese Art der Kunst. (Außer bei der Unendlichen Geschichte: Bei diesem Projekt haben Sie geniale Ölfarben auf die Leinwände gezaubert.)

Tatsächlich vermeide ich jegliche digitalen Schritte. Zum einen, weil ich es nicht kann. Zum anderen, weil ich es mag, zu sehen, wenn etwas "handwerklich" mit Material hergestellt wurde. Bleistift und Buntstift sind sehr leicht zugänglich, sodass Kinder die Ästhetik leicht selbst erzeugen können. So etwas animiert, denke ich, zum Selberzeichnen.

Neben der Betätigung als Bilderbuchillustrator kreieren Sie auch sehr kunstvolle Öl-Auf-Leinwand-Gemälde. Gibt es Synergieeffekte zwischen diesen beiden Tätigkeitsbereichen?

Grundsätzlich ist es sehr entspannend, nicht über eine neue Geschichte nachdenken zu müssen, weil ich an Ölbildern arbeite. So kommen mir die meisten Geschichten einfach aus Versehen zugeflogen. Wenn ich male, freue ich mich immer auf ein neues Buchprojekt und wenn ich ein Buch abschließe, freue ich mich wieder darauf zu malen.

Die Arbeit an der Unendlichen Geschichte hat obendrein mein Farbempfinden verändert. Irgendwie beeinflusst sich alles gegenseitig. Ich finde es wichtig, in Bewegung zu bleiben.

Inwiefern genau hat diese Arbeit ihr Farbempfinden verändert?

Eine Zeitlang war die durchschnittliche Farbigkeit meiner Bilder im Bereich "Erbsensuppe". Die Unendliche Geschichte hat mir mit der "Wüste der Farben" oder dem "Nachtwald Perelín" ganz andere Vorgaben gemacht, die mir aber gut gefallen.

Auf Ihren Bildern, die Sie als Maler erschaffen, finden sich einige Szenen, die sich um den Kampf zwischen Mensch und Tier drehen, wobei nicht selten einige Tierkadaver zu sehen sind. Ich würde diese als subtile Kritik an der menschlichen Gier, sich der Tierwelt vollends zu bemächtigen, lesen. Wie wichtig ist Ihnen Artenvielfalt?

Diese Bilderserie ist tatsächlich ein, wenn auch flacher, Kommentar zum uralten Konflikt Mensch-Natur. Der zivilisierte Mensch hat immer noch die verquere Vorstellung, die Natur sei ihm "Untertan" und sie müsse sich nach seinen Regeln richten. Allein der Begriff "Klimaschutz" drückt dies aus. Es müsste "Menschenschutz" heißen. Die Natur findet ihren Weg und im Endeffekt sind wir nur Biomasse mit einem Egoproblem. Auf Natur achten heißt, auf sich selbst zu achten.

Auf welche Bilderbücher oder Projekte dürfen wir uns in naher Zukunft freuen?

Es wird im Herbst ein sechster Teil des Herr Eichhorn (Herr Eichhorn und die unvergessliche Nuss, September 2021) erscheinen. Außerdem möchte ich mich in Ruhe noch einmal mit meinen Forschungsreiseergebnissen aus Kolumbien auseinandersetzen. Und noch weitere Buchprojekte sind am Start. Darüber hinaus eröffnet voraussichtlich am 03. September meine nächste Einzelausstellung in der Galerie Greulich in Frankfurt am Main.

Illustration eines Eichhörnchens vor einer Walnuss. (c) Sebastian Meschenmoser/Thienemann Esslinger Verlag

Besten Dank für das sehr aufschlussreiche und umfassende Interview, Herr Meschenmoser! Wir freuen uns sehr auf den nächsten Band Ihrer quirligen Eichhorn-Reihe und sind gespannt, welche kuriosen naturnahen Entdeckungen er dieses Mal machen wird.

Sebastian Meschenmoser mit Hühnern und einem Leseexemplar von "Tschick", (c) Sebastian Meschenmoser

 

Auf der Homepage von Sebastian Meschenmoser finden Sie weitere Informationen über den Künstler und sein Werk.

 

Alle Fotos: (c) Sebastian Meschenmoser. Verwendung mit Erlaubnis des Autors.