Inhalt

Rosa ist die "Schneiderin des Nebels" – sie fängt Nebel ein, um daraus Stoffe für Kleidungsstücke, Teppiche und Vorhänge zu spinnen. Ihre Kreationen sind vergänglich und sehr begehrt, denn die Menschen benutzen sie, um die Realität vor sich selbst zu verbergen. Das führt so weit, dass das ganze Land von einem dichten Schleier bedeckt wird.

Alles ändert sich, als Rosa einen Brief von ihrem Vater erhält. Sie erinnert sich an Lachen und Liebe in ihrer Familie, aber auch an Streit und Trennung. In dem Brief kündigt ihr Vater an, dass er sie besuchen wird – und dass er immer für sie da ist. Rosas Herz ist von den Worten so berührt, dass diese ihr ganzes Leben verändern. Rechtzeitig zur Ankunft des Vaters hat Rosa nicht nur ihr Haus geputzt, sondern auch eine große Decke aus Sonnenstrahlen gewebt, die sie ihm schenkt. Glücklich halten sie sich in den Armen und ihr Vater verspricht, alle Zeit der Welt für sie zu haben. Der Nebel draußen schwindet vor dem Sonnenlicht und die Schneiderin beschließt, für das ganze Land Kleidung aus Sonnenstrahlen zu weben.

Kritik

Das Cover zeigt die kleine Protagonistin mit einem Korb zum Nebelsammeln auf den Schultern, die Augen geschlossen. Dadurch wirkt sie in sich gekehrt, abgetrennt von der übrigen Welt. Am Anfang der Geschichte sehen die Rezpierenden Rosa immer wieder aus der Ferne, als kleine Gestalt, fast verloren in der weiten Landschaft.

Mit dem Brief des Vaters lernt man mehr über Rosa und sieht sie nun aus der Nähe. Der Wandel in Rosas Leben wird auch durch unterschiedliche Farben und einen Übergang von Dunkelheit zu Licht angezeigt: Während zu Beginn die Landschaft blau-grau und andere Menschen schwarz-weiß dargestellt werden, dominiert am Ende eindeutig Gelb. Etwa in der Mitte des Buchs sieht man das Mädchen, wie sie ihr Haus putzt, Vorhänge von den Fenstern nimmt und sich auf die Ankunft des Vaters vorbereitet – hier weichen die dunklen Farben einem hellen Gelbton.

Die Bilder sind zumeist einfach und eindrucksvoll: Zum Beispiel sieht man Rosas Gestalt in gelber Kleidung in weißem Licht und mit gelbem Hintergrund, als die Worte ihres Vaters sie erreichen. So können ihr Gesichtsausdruck und ihre Körperhaltung auf den Lesenden wirken. Immer wieder tauchen transparente Seiten mit feinen Zeichnungen auf, die zur zarten Geschichte und dem Nebel bzw. Sonnenschein sehr gut passen. Dadurch gehen Text und Bilder ineinander über. Außerdem wirkt es fast, als würde man sich als Leserin oder Leser durch den Nebel, durch Zeit und Ort bewegen.

Auf dem Höhepunkt der Geschichte liegen sich Vater und Tochter in den Armen und schmiegen sich aneinander, der Vater von einer riesigen goldgelben Decke umhüllt. Sterne baumeln von der Decke und beide sehen glücklich und geborgen aus. Man fragt sich allerdings: Sollte nicht das kleine Mädchen von der Decke umhüllt sein oder zumindest mit dem Vater unter der Decke sein? Die Szene erweckt ein wenig den Eindruck, als wären die Rollen vertauscht.

Die Autorin bedient sich einer einfachen Symbolsprache: Sonne steht für die Liebe und den Zusammenhalt in der Familie, Nebel für Vergänglichkeit, Einsamkeit und Verdrängung. Man könnte die Geschichte der Schneiderin auch so deuten, dass  Menschen ihrer Umwelt immer etwas Positives oder etwas Negatives "geben" können. Am Ende steht eine positive Botschaft: Vater und Tochter werden mit der Macht der (geschriebenen und gesprochenen) Sprache wieder vereint.

Insgesamt ist die Sprache der Autorin einfach genug, dass auch kleine Kinder gut mitkommen, vielleicht mit einer Ausnahme: Die Schilderung der Trennung der Eltern und die darauffolgende "Leere" in Rosas Leben dürfte für kleine Kinder schwer nachvollziehbar sein. Die Scheidung wird nur oberflächlich auf einer Seite berührt: Es gibt Streit, Rosa hält sich die Ohren zu, "um nichts hören zu müssen", und die Kleidung des Vaters verschwindet aus dem Kleiderschrank. Daraufhin werden nur noch ein Umzug und das Schweigen der Mutter über den Vater erwähnt. Es gibt also keine positive Kommunikation innerhalb der Familie und die Beziehung mit der Mutter (Wo ist diese mittlerweile? Warum lebt sie nicht bei Rosa?) wird überhaupt nicht thematisiert. Um das Thema Scheidung explizit zu behandeln, ist das Buch also nicht zu empfehlen, es könnte sogar kontraproduktiv sein. Es wäre möglicherweise sinnvoller gewesen, einen weniger traumatischen Grund für die Trennung zu finden, wenn man die Vorgeschichte nicht in den Vordergrund rücken möchte.

Der Text richtet sich an geübte Leserinnen und Leser, die bereits längere Textpassagen eigenständig lesen können. Andres' Buch eignet sich zudem sehr gut zum Vorlesen und ermöglicht durch die ganz-, mitunter doppelseitig angelegten Illustrationen eine gleichzeitige Betrachtung. Die Bilder laden allein für sich genommen und auch einzeln betrachtet zum Verweilen ein und verstehen es, den Betrachtenden zu unterhalten.

Fazit

Die Schneiderin des Nebels ist eine poetische, liebevoll gestaltete Geschichte über Familie, Liebe und die Macht der Worte. Die Gründe für Rosas Einsamkeit, die Trennung der Eltern und deren Folgen, werden jedoch kaum behandelt und wirken dadurch problematisch. Die Geschichte eignet sich für kleine Kinder ab sechs Jahren und für Erwachsene mit einem Herz für Buchkunst. Um das Thema Scheidung oder Einsamkeit zu besprechen, sollte man jedoch nicht zu diesem Buch greifen.

Titel: Die Schneiderin des Nebels
Autor/-in:
  • Name: de Lestrade, Agnès
Originalsprache: Französisch
Originaltitel: La fileuse de brume
Übersetzung:
  • Name: Taube, Anna
Illustrator/-in:
  • Name: Docampo, Valeria
Erscheinungsort: München
Erscheinungsjahr: 2018
Verlag: mixtvision
ISBN-13: 978-3-95854-130-6
Seitenzahl: 48
Preis: 17,90 €
Altersempfehlung Redaktion: 6 Jahre
de Lestrade, Agnès/Docampo, Valeria: Die Schneiderin des Nebels