Inhalt

Paul lebt in dem Land der großen Wörterfabrik, in dem man Wörter kaufen und schlucken muss, bevor man sie aussprechen kann. Sprechen ist also teuer und nur wenige können es sich leisten. Im Frühjahr gibt es einen Schlussverkauf, doch dort kann man meist nur relativ unbrauchbare Wörter erwerben und auch in den Mülleimern findet man nur Wörter wie 'Hundekacka' oder 'Hasenpipi'. Paul hat jedoch Glück und kann an einem der Tage, an denen Wörter durch die Luft fliegen, drei Begriffe mit seinem Schmetterlingsnetz einfangen: Kirsche, Staub und Stuhl. Er möchte sie Marie, die er sehr gerne hat, zum Geburtstag schenken. Am liebsten würde er ihr sagen, wie lieb er sie hat, aber diese Wörter kann er sich nicht leisten.  Als Paul bei Marie eintrifft, ist bereits Oskar bei ihr, dessen Eltern sehr reich sind und weswegen er ihr mit vielen schönen Wörtern seine Liebe gestehen kann. Obwohl Paul zunächst niedergeschlagen ist, nimmt er seinen ganzen Mut zusammen und schenkt ihr die drei eingefangenen, kostbaren Wörter. Marie erkennt die Ehrlichkeit in seinen Worten, lächelt, und gibt ihm einen Kuss auf die Wange.

Kritik

Auf 16 Doppelseiten erzählen Agnès de Lestrade und Valeria Docampo eine wunderbare Geschichte von dem Wert der Wörter. Die Einführung in das Land der großen Wörterfabrik ähnelt der eines Märchens: "Es gibt ein Land, in dem die Menschen fast gar nicht reden. Das ist das Land der großen Wörterfabrik." (S. 1) Märchenhaft mutet auch die ganze Erzählung an. Eine Wörterfabrik voller gesichtsloser Roboter arbeitet Tag und Nacht und durch die Luft fliegende Wörter können mit Schmetterlingsnetzen gefangen werden. Die Autorinnen verlieren dabei jedoch nie den Bezug zur Lebenswelt ihrer Leserinnen und Leser, in dem sie viele Elemente dieser entnehmen und auf ihre Erzählung übertragen, um einen Realitätsbezug herzustellen. So gibt es auch in Pauls Welt Mülleimer, in denen sich kaum nützliche Wörter finden lassen (S. 9), einen alljährlichen Schlussverkauf im Frühling (S. 11) und Paul sammelt sein Geld in einer Spardose (S. 15) Um die vorausgesetzten Lesenden auch auf die Unterschiede zwischen Pauls und der unseren Welt hinzuweisen, liefern die Gestalterinnen an verschiedenen Stellen Erklärungsansätze für das Verhalten ihrer Protagonisten. So wird auf der Doppelseite, auf der Paul  Marie lediglich anlächelt, statt etwas zu sagen, erläutert:  "Er kann nicht sagen: "Hallo, wie geht’s?", weil er diese Wörter nicht hat." (S. 18) Maries Reaktion auf Pauls Geschenk wird folgendermaßen erklärt: "Marie lächelt nicht mehr. Sie blickt ihn an. Weil sie keine Wörter hat." (S. 29)

Die vielen kurzen Sätze erzeugen eine poetische Wirkung, was unter anderem durch den großen Gebrauch von Metaphern und Vergleichen erreicht wird. So werden beispielsweise die drei Wörter 'Kirsche, Staub und Stuhl' verglichen mit kostbaren Kieselsteinen, in Oskars Augen blitzt regelrecht Selbstbewusstsein auf und Pauls Worte sind klitzeklein (S. 23).

Das Bilderbuch lässt sich in zwei Teile gliedern: Bis zur Hälfte des Buches wird das Land der großen Wörterfabrik mit all seinen Eigenheiten vorgestellt (1.Teil) und erst danach die Geschichte von Paul und Marie erzählt (2.Teil). In beiden Teilen liegt eine Bild-Text-Parallelität vor. In der ersten Hälfte des Buches werden zu den erklärenden Erläuterungen bezüglich der Funktionsweise des Lands der großen Wörterfabrik einzelne Szenen aus dem Alltag der dort lebenden Bevölkerung in den Bildern gezeigt, die im Text keine Erwähnung finden. So wird beispielsweise auf der vierten Doppelseite zu der Erklärung, dass Sprechen teuer sei, eine arme Familie gezeigt, die behutsam eine Buchstabensuppe löffelt (S.7/8). Bild und Text erzählen so die Geschichte gemeinsam und das Bild vertieft lediglich das im Text Erklärte um die Fantasie der Betrachtenden anzuregen.

In der zweiten Hälfte des Bilderbuches wird die Bild-Text-Parallelität durch einen 'geflochtenen Zopf' aus Bild-und Textsträngen kurzzeitig gegen Ende der Geschichte unterbrochen, wenn Paul Marie seine Liebe gesteht und die drei magischen Worte "Kirsche, Staub und Stuhl" regelrecht zu ihr hinüberfliegen (S. 23). Dabei setzt sich der 'geflochtene Zopf' aus darstellenden (Bild) und handlungsbezogenen (Text) Strängen zusammen, wie dies "gemäß der allgemeinen Tendenz des Bildes, zu zeigen und darzustellen, und der des Textes, Handlung voranzutreiben" üblich ist. (Thiele 2003, S. 75)

Die Bilder sind von Valeria Docampo durch die Verwendung und Bedeutung der Farben und Formen sehr ausdrucksstark gezeichnet worden. Negativ assoziierte Personen und Gegenstände werden durch verschiedene Brauntöne gekennzeichnet, während positiv assoziierte Personen und Gegenstände durch  freundliche Rot- und Weißtöne dargestellt werden. Bereits auf der ersten Doppelseite erscheinen die reichen Menschen in der Einkaufszone ganz in braun  und gleichen damit dem trist wirkenden, ebenfalls in Brauntönen dargestellten Hintergrund. Die armen Menschen hingegen sind daneben sofort erkennbar durch die freundliche Gestaltung in rot und weiß. Besonders dunkle Brauntöne erhalten die Wörterfabrik und Pauls Konkurrent Oskar, wobei letzterer im Treppenhaus derart dunkel gezeichnet ist, dass der Leser/die Leserin ihn auf den ersten Blick gar nicht erkennen kann. Oskar trägt einen Umhang und ein Kopfbedeckung aus Wörtern und ist im Gegensatz zu Paul und Marie sehr eckig und kantig gezeichnet worden, was eine bedrohliche Wirkung hervorruft. Der Betrachter/die Betrachterin kann seine Augen nicht erkennen und sein Mund wird als eine Art 'schwarzes Loch' dargestellt (S. 21).

Paul und Marie sind durchgehend in Rot und Weiß gezeichnet worden. So trägt Marie an ihrem Geburtstag beispielsweise ein "kirschrotes Kleid". (S. 18) Die drei Wörter, die Paul ihr schenkt, fliegen auf den Bildern regelrecht zu ihr hinüber und plötzlich erscheint selbst der Hintergrund rot und ist damit vollständig in die Farbe der Liebe getaucht. Die schwebenden Wörter sind umringt von vielen kleinen, durch die Luft fliegenden Buchstaben, die wie eine Illustrierung der zuvor im Text erwähnten "kostbaren Kieselsteine" (S. 23) anmuten. Pauls Hände liegen dabei auf seinem Herzen und auch Marie nimmt auf der nächsten Doppelseite die gleiche Haltung ein. Während Pauls Worte also scheinbar magisch zu Marie fliegen, wirken Oskars vollständige Sätze allein schon durch die Typographie unromantisch wie aus Zeitungspapier ausgeschnitten (S. 21).

Pauls Worte wirken auf den Leser/die Leserin ehrlich und allein schon durch dessen Gestik wie aus dem Herzen gesprochen, während Oskars Aussage kalt und unehrlich zu sein scheint. An dieser Stelle muss man sich jedoch fragen: Können reiche Menschen nicht auch wahrhaftig einen anderen  Menschen lieben und ist es ihnen nicht erlaubt, dies auch der geliebten Person mitzuteilen? In dem Bilderbuch wird eine Welt in Schwarz und Weiß (oder besser gesagt: in Braun und Rot) gezeichnet. Die reichen Menschen sind böse und die armen ausnahmslos gut, weswegen Oskars Worte natürlich nicht ernst gemeint gewesen sein können. An dieser Stelle wird erneut deutlich, wie viele Charakteristiken des europäischen Volksmärchens das vorliegende Bilderbuch aufweist. In Die große Wörterfabrik lässt sich sowohl eine Eindimensionalität, also das Ineinanderübergehen von phantastischer und realistischer Welt, als auch ein abstrakter Stil, welcher durch das Prinzip der Kontraste (Schwarz-Weiß-Malerei) gekennzeichnet ist, feststellen. Des Weiteren spiegeln die Themen und Motive des Bilderbuches (Liebe, Feindschaft, unverschuldete Armut/Reichtum, soziale Ungerechtigkeit und Benachteiligung, Ehrlichkeit und Heuchelei) "die ganze Fülle menschlicher und zwischenmenschlicher Beziehungen wider" (Lange/Ziesenis 2012, S. 232), welche Lüthi als "Welthaltigkeit" bezeichnet. Damit erfüllt das Bilderbuch bereits drei der fünf von Max Lüthi 1985 herausgearbeiteten Wesensmerkmale des Volksmärchens (vgl. Lange/Ziesenis 2012, S. 232).

Die Lesenden werden, wie auch in Märchenbilderbüchern, in ihrer Entscheidung, für welchen der Charaktere sie Sympathie empfinden sollen, allein durch die Farbwahl und die Bildgestaltung stark beeinflusst und gelenkt. Mit Oskar, der rein äußerlich mehr einem Roboter als einem Menschen zu gleichen scheint, ist eine Identifizierung nahezu unmöglich, während Paul und Marie so liebevoll gezeichnet werden, sodass der Leser/die Leserin geradezu Sympathie für sie empfinden muss.

Diese Schwarz-Weiß-Malerei ist jedoch als nebensächlich zu betrachten, da dem Leser/der Leserin, egal ob jung oder alt, am Ende des zauberhaften Bilderbuches klar geworden ist, um was es eigentlich geht: den unschätzbaren Wert der Wörter sowie den der kleinsten Gesten, wenn sie von Herzen kommen.

Fazit

Voller Poesie und unterstützt durch wunderbar gearbeitete und ausdrucksstarke Bilder erzählt Die große Wörterfabrik eine Geschichte über die Kostbarkeit der Wörter. In einer liebevollen Sprache vermittelt dieses märchenhaft anmutende Bilderbuch, dass keine großen Worte nötig sind, um echte Gefühle auszudrücken.

Literatur: 

Lange, Günter/Ziesenis, Werner: Märchen. In: Kinder-und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Hrsg. von Günther Lange. 2., korrigierte und ergänzte Auflage. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 2012; Thiele, Jens: Das Bilderbuch. Ästhetik – Theorie – Analyse – Didaktik - Rezeption. 2. erweiterte Auflage .Oldenburg: Isensee Verlag, 2003.


Titel: Die große Wörterfabrik
Autor/-in:
  • Name: de Lestrade, Agnès
Originalsprache: Französisch
Originaltitel: La Grande Fabrique de Mots
Übersetzung:
  • Name: Taube, Anna
Illustrator/-in:
  • Name: Docampo, Valeria
Erscheinungsort: München
Erscheinungsjahr: 2010
Verlag: mixtvision
ISBN-13: 978-3-93943-556-2
Seitenzahl: 40
Preis: 8,95 €
Altersempfehlung Redaktion: 3 Jahre
de Lestrade, Agnès (Text)/Docampo, Valeria (Bild): Die große Wörterfabrik