Inhalt

Wütend erzählt die Geschichte eines kleinen, sehr wütenden Mädchens, das sich durch eine stürmische, wilde Landschaft bewegt, die ihr Inneres widerspiegelt. „Ich sehe rot“ (o. S.), heißt es in der ersten Zeile des in Versform und Reimen verfassten Buches, wobei das Wort „rot“ in selbiger Farbe aus dem sonst schwarzen Schriftbild hervorsticht. Diese warnende Farbe dominiert zudem das dazugehörige Bild, auf dem das Mädchen in einen blutroten, wolkenverhangenen Himmel schaut. Ihre Gefühlswelt wird nach außen gekehrt, es wütet ein Sturm.

Die emotionale Reise des namenlos bleibenden Mädchens wird auf den kunstvollen, ausdrucksstarken Illustrationen durch eine tatsächliche Reise ausgedrückt: über Wiesen, durch den Himmel, übers Meer. Dabei durchläuft sie verschiedene Metamorphosen: zum Drachen, Wirbelsturm und Seeungeheuer. Dunkle Erdtöne und die vier Elemente bringen auf den Bildern die düstere Stimmung der Heldin zum Ausdruck. Meist unterstützen die Illustrationen den Text, manchmal stehen sie aber auch wortlos für sich; dann wieder dominieren große Lettern auf einem einfarbigen, schlichten Hintergrund eine Doppelseite. 

Den größten Teil der Reise meistert das Mädchen alleine, gegen Ende begleitet sie eine schwarze Wildkatze, auf deren Rücken sie einen Teil der Strecke reitet. Die Bilder werden langsam heller: Der strahlende Mond taucht die Landschaft in ein warmes Gelb und mit der aufgehenden Sonne folgt ein hellblauer, nun ruhiger Himmel. Die Wildkatze zieht von dannen und das Mädchen sieht sich zum Ende des Bilderbuchs am Beginn einer neuen Reise, denn „eine Tür steht nun auf“, so die letzte Zeile.

Kritik

Wütende Menschen werden in der Regel als unangenehm und grenzüberschreitend empfunden, und so überrascht es nicht, dass Wut lange eine ausschließlich negativ konnotierte Emotion war, die es loszuwerden galt. Diese Tendenz zeigen nicht nur Elternratgeber, sondern auch literarische Texte, wie etwa Christine Nöstlingers Kinderbuch Anna und die Wut aus dem Jahr 1990. In den letzten Jahren ist Wut jedoch zunehmend zu einem Politikum geworden; es wird anerkannt, dass viele Menschen gute Gründe haben, wütend zu sein, und dass Wut auch als produktiver Motor dienen kann. Einen entsprechend differenzierteren Umgang mit Wut zeigt auch die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur: bspw. Nanna Neßhövers Wenn ich wütend bin (2019), das ein Buch zum Mitmachen und Abreagieren ist, das Bilderbuch Heute habe ich Wut im Bauch (2022) von Anna Böhm und Tim Warnes, welches die Emotion normalisiert, oder auch die vom Loewe Verlag herausgegebenen Anthologie Wut (2019), deren Kurzgeschichten für Jugendliche vor allem gesellschaftspolitische Themen, wie etwa Armut und Diskriminierung, beleuchten. Britta Teckentrups Wütend (2021) sticht aber aus verschiedenen Gründen besonders heraus: aufgrund von Form, Fokus und positiver Umdeutung.

Der Text ist in Endreimen (meist im Schema xaxa) verfasst und erhält dadurch einen rhythmischen, musikalischen Klang, der das laute, betonte Vorlesen zu einer besonderen Freude werden lässt. Schon eingangs wird deutlich, dass mit der Wut eine Veränderung initiiert wird: „Ich bin blind vor Wut, / doch ich sehe ganz klar: / Nichts wird so bleiben, / wie es mal war!“ Dabei wird das metaphorische Blindwerden vor Wut als Paradoxon dem Klarsehen gegenübergestellt – und Wut so zum Erkenntnismedium. 

Dass die Protagonistin Wut als selbstermächtigend erlebt, machen etwa die folgenden Verse deutlich: „Ich bin laut, ich bin stark. / Mache, was mir gefällt. / Ohne Regeln und Grenzen, / erober die Welt.“ Da (abgesehen von der Wildkatze) keine weiteren Figuren auftreten, wird auf die Perspektive anderer, die ihre Wut als unangenehm empfinden könnten, verzichtet und ein Ablehnen selbiger Emotion konsequent ausgespart. Der Fokus liegt einzig auf dem Mädchen. Zwar wird ihre Wut nicht konkret begründet, doch bringt die Protagonistin zum Ausdruck, dass sie als letzter Ausweg aus zu langem Schweigen resultiert: „Ich war zu lange still, / bitte sieh mich doch an. / Ich bin nur so wütend, / weil ich nicht anders kann.“

Sicherlich ist es auch nicht unbedeutend, dass in Wütend eine weibliche Figur im Zentrum steht, die in ihrer Namenlosigkeit als Stellvertreterin fungiert. Denn Wut ist eine Emotion, die in der Regel genderspezifische Zuschreibungen erfährt: Während Jungen zugesprochen wird, wild und wütend zu sein bzw. sein zu dürfen, erhalten Mädchen häufig die Aufforderung, brav zu sein und zu lächeln. Noch heute finden sich etwa auf Kinderkleidungsstücken, die für Mädchen entworfen sind, vielfach Aufschriften wie „Smile“ oder „Happy“ – Wut schickt sich für Mädchen vermeintlich nicht.

In Teckentrups Geschichte wird Wut hingegen positiv aufgewertet, wenn das kleine Mädchen feststellt: „Die Wut gibt mir Kraft. / Die Wut tut mir gut! / Die Wut macht mich stark. / Die Wut gibt mir Mut.“ Als der innere und damit auch der äußere Sturm vorbei ist, fühlt die Protagonistin sich wieder frei. Sie stellt fest: „Nichts soll bleiben, wie es mal war!“ und markiert damit einen Neuanfang, den ihre Wut als treibende Kraft initiierte. Zu diesem Ausgang der Handlung passt auch das Zitat der Schweizer Menschenrechts-Aktivistin Anni Lanz, das Teckentrup ihrem Buch hinten angefügt hat und das als feministischer und/oder politischer Kommentar gelesen werden kann: „Man muss eine Wut so umsetzen, dass sie Veränderung bewirkt.“

Fazit

Teckentrups poetisches wie kunstvoll illustriertes Buch ist für jede Altersklasse eine Freude, für kleine Kinder ab ca. 4 Jahren ebenso wie für erwachsene Vorlesende. Die selbstermächtigende Zuschreibung, die Wut hier erfährt, lädt alle Lesenden zur Reflektion und Umdeutung dieser Emotion ein.

Titel: Wütend
Autor/-in:
  • Name: Teckentrup, Britta
Illustrator/-in:
  • Name: Teckentrup, Britta
Erscheinungsort: München / London / New York
Erscheinungsjahr: 2021
Verlag: Prestel
ISBN-13: 978-3-7913-7493-2
Seitenzahl: 48
Preis: 18,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 4 Jahre
Britta Teckentrup: Wütend (Cover)