Inhalt

Mit aufsteigender Zahl – von null über fünfundsechzig, hundert und eintausend bis zu siebeneinhalb Millionen – zeigt Alle zählen Menschen auf Wimmelbildern in unterschiedlichen Alltagssettings. Lesende und Schauende begleiten dabei Figuren, die wie alte Bekannte auf unterschiedlichen Seiten immer wieder auftauchen. So kann es zu einem Spiel werden, diese unter anderem in der Familie, in der Schule, im Gemeinschaftsgarten, im Einkaufszentrum, in der Bibliothek, im Gefängnis, am Strand und an vielen anderen Orten zu entdecken. Auf jeder Seite ist – ähnlich wie eine Seitenzahl unten platziert – eine Zahl abgebildet, die derjenigen der abgebildeten Personen auf der Seite entspricht, sowie ein kurzer Text, der zur Suche auf der jeweiligen Seite anregt. Während auf der ersten Seite (0) noch "Niemand" (o. S. ) zu sehen ist – außer einem friedlich trinkenden Reh an einem Waldsee, sind bald "Fünfundvierzig Menschen im Straßenverkehr [sichtbar]. Zwei sind auf der Flucht. Einer tut etwas sehr Riskantes. Einer träumt von einem größeren Auto". Und schließlich betrachten die Lesenden siebeneinhalb Milliarden Menschen aus dem Weltall: "Siebeneinhalb Milliarden Menschen zusammen auf einem Planeten. Jeder einzelne hat seine persönliche, einzigartige Geschichte. Alle zählen. Und einer von ihnen bist du!". Ein zunächst namenloser Junge mit blauen Haaren, der sich auf den Zusatzseiten am Ende des Buches als Thomas entpuppt, begleitet uns dabei auf fast jeder Seite. Das Buch findet seinen Abschluss mit einer Reihe von Detailbildern, die Ausschnitte aus den vorangegangen Seiten zeigen und mit Fragen wie "Was glaubst du, wovon träumt er?", "Wie viele Personen haben dieses Buch mit an den Strand genommen?", oder "Wofür demonstriert sie?" zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Buch anregen. Diese konkreten Fragen zu Geschehnissen und "Geheimnissen" im Buch werden unterbrochen von philosophischen Fragen in hellblauen Kacheln wie "Wer bist du? Wer weiß am meisten über dich?" oder "Was, glaubst du, geschieht nach dem Tod?" und dienen somit als Gesprächsanregung über den Inhalt des Buches hinaus. Einige der "Geheimnisse" werden schließlich auf der letzten Doppelseite gelüftet – andere kann man über einen zugehörigen QR-Code entschlüsseln.

Kritik

Alle zählen macht deutlich, wie selten wir individuelle Schicksale von Personen kennen, denen wir im Alltag begegnen. Und wie sehr es sich lohnt, sich ab und an doch die Zeit zu nehmen, um auf Details zu achten. Denn wer dies in Alle zählen beherzigt, wird die gleichen Personen nicht nur immer wieder auf den nächsten Seiten bemerken, sondern auch entdecken können, wer sich ineinander verliebt, welche Hobbies unterschiedliche Menschen ausüben, wer nicht nur im Fahrstuhl, sondern auch im Auto auf sein Handy schaut, und wie viele Personen am Strand das gleiche Buch lesen.

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Abb. 1: Alle zählen regt zur philosophischen Auseinandersetzung an und bildet Menschen unterschiedlicher Körperformen und -größen und mit unterschiedlichen Hilfsmitteln und Kleidungsstilen ab.


Dieser Fokus auf die Menschen und ihre Geschichten wird schon auf den ersten Blick durch die farbliche Gestaltung der Seiten ersichtlich. Alle Menschen sind in satten, kräftigen Farben gezeichnet: in unterschiedlichen Kleidungsstilen, mit und ohne Nikab, Rollstuhl oder Brille, mit langen, glatten Haaren; mit Afro, Punkfrisur, kurzen und bunten Haaren, mit Hut oder mit Turban, mit Sonnenbrand, dick und dünn, groß und klein, in unterschiedlichen Lebenslagen, Altersstufen und mit unterschiedliche Emotionen (s. Abb. 1). Gebäude, Pflanzen und Gegenstände, die die Menschen nicht direkt auf dem Körper tragen – etwa eine Handtasche oder ein Handy – werden hingegen immer im gleichen Hellblauton und dünnen Strichen gehalten. Der Hintergrund selbst bleibt weiß. Das erlaubt eine Konzentration auf Aktivitäten und Emotionen der abgebildeten Personen und hebt sie sofort hervor (s. Abb. 2).Die sehr kurzen Texte in Alle zählen machen neugierig auf die nächsten Seiten, indem sie schon auf spätere Ereignisse verweisen, die es zu entdecken gilt. Etwa wenn es heißt, dass einer von neun Menschen „bald sehr unzufrieden sein“ wird oder „eine heimliche Freundin“ hat. Andere Texte wiederum regen weniger zum Entdecken im Buch an, sondern vielmehr zum Nachdenken (s. Abb. 1): Eins von zwanzig Kindern zum Beispiel „denkt an alle Menschen, die vor uns gelebt haben“ (o. S.) oder daran „wie viele Menschen in diesem Augenblick dieselben Sterne sehen“ (o. S.), und keiner von eintausend Menschen „kann genau sagen, was der Sinn des Lebens ist“ (o. S.). Zur alleinigen Auseinandersetzung von Kindern mit diesen Gedanken fehlen dem Buch mehr kindgerechte, erklärende Texte, doch mit pädagogischer oder elterlicher Unterstützung können die Fragen für philosophisch interessierte Kinder sicherlich spannend sein. Andere werden in Alle zählen vermutlich so viel zu entdecken haben, dass sie die philosophischeren Fragen und Gedanken einfach überlesen können.

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Abb. 2: Menschen unterschiedlichen Geschlechts werden in Sorgearbeit abgebildet. Hintergrund und Gegenstände sind in hellblau gehalten und erlauben einen Fokus auf die Menschen im Wimmelbuch.


Obwohl Alle zählen zum Ende auf die Gesamtheit der „[s]iebeneinhalb Milliarden Menschen zusammen auf einem Planeten“ (o. S.) verweist und Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben, mit Nikab und Turban abbildet, sind die dargestellten Szenen doch in überwiegend westlich zu lesenden Settings abgebildet. Auch eindeutige Paarkonstellationen mit ausgetauschten Zärtlichkeiten lassen sich – soweit das zu beurteilen ist – nur heterosexuellen Konstellationen zuordnen. Trotz diversitätsbewusster Abbildungen sollte hier also kein Buch erwartet werden, das explizit Heteronormativität aufbricht oder über die Heterogenität westlicher Gesellschaften hinaus unterschiedliche kulturelle Hintergründe abbildet. Doch während in älteren Wimmelbüchern teilweise noch sehr stereotype Szenen abgebildet werden, was vor allem die Geschlechteraufteilung betrifft, so bietet Alle zählen hier immerhin erfrischende Abwechslung: Personen unterschiedlichen Geschlechts werden in Sorge- und Erwerbsarbeit (s. Abb. 2) dargestellt und zeigen unterschiedlichste Emotionen; es gibt zudem durchaus Figuren, die offene Geschlechtszuschreibungen zulassen. Dass in Alle zählen von Beginn an immer wieder das gleiche Kind mit blauen Haaren zu sehen ist, knüpft in guter Tradition an ältere Wimmelbücher an: Ähnlich dem Wimmelbuchklassiker Wo ist Walter kann auch das aktuellere Alle zählen zum modernen Suchspiel werden. Statt Walter im alten Ägypten sucht man hier Thomas im Einkaufszentrum, am Strand oder in der Schule. Neben Thomas tauchen aber auch andere Figuren immer wieder auf und bieten so einen Blick in ihr Leben an verschiedenen Orten. Die Suche nach Figuren kann damit weitaus diverser ausgelegt werden als in Wo ist Walter.

Fazit

Alle zählen ist ein modernes Wimmelbuch, das auf menschliche Beziehungen, philosophische Fragen sowie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Menschen fokussiert und damit einen angenehm zeitgenössischen Gegenentwurf zu vielen bisherigen Wimmelbüchern bietet. Es wird dabei sowohl philosophisch interessierte Kinder ab einem Alter von fünf Jahren begeistern als auch Kinder, die viel Spaß am visuellen Entdecken und an kleiner Detektivarbeit haben. Das Potenzial eines neuen Klassikers entdeckte auch die Jury des deutschen Jugendliteraturpreises, für den Alle zählen im Jahr 2022 nominiert ist. Denn auch die Jury sieht in Alle zählen ein "außergewöhnliches Wimmelbuch", das "komplexe Fragen nach sich" zieht.

Abb. 1: Alle zählen regt zur philosophischen Auseinandersetzung an und bildet Menschen unterschiedlicher Körperformen und -größen und mit unterschiedlichen Hilfsmitteln und Kleidungsstilen ab.
Abb. 2: Menschen unterschiedlichen Geschlechts werden in Sorgearbeit abgebildet. Hintergrund und Gegenstände sind in hellblau gehalten und erlauben einen Fokus auf die Menschen im Wimmelbuch.

Titel: Alle zählen
Autor/-in:
  • Name: Kristin Roskifte
Originalsprache: Schwedisch
Originaltitel: Alle sammen teller
Übersetzung:
  • Name: Maike Dörries
Illustrator/-in:
  • Name: Kristin Roskifte
Erscheinungsort: Hildesheim
Erscheinungsjahr: 2021
Verlag: Gerstenberg
ISBN-13: 978-3-8369-6036-6
Seitenzahl: 64
Preis: 18
Altersempfehlung Redaktion: 5 Jahre
Roskifte: Alle zählen, Cover