Inhalt

Das kleine Zirkuspony Otis hat genug von seinem bisherigen Dasein und den täglichen Zirkus-Vorstellungen, in denen es aus einer Kanone durch die Manege geschleudert wird und in einer Wanne Zuckerwatte landet. Außerdem wird es vom Zirkusdirektor und den anderen Tieren gepiesackt. Mithilfe der zuvor peinigenden Zirkuskanone gelingt ihm eines Morgens die Flucht in die Welt außerhalb des Bretterzauns, wo es panisch durch den Wochenmarkt rennt und vor der erstbesten Haustür halt macht. Das Klingelschild mit dem Namen „Apfel“ scheint das richtige Pony-Frühstück zu versprechen.

Ein zweiter Handlungsstrang stellt uns Otilie Apfel vor, eine alleinstehende ältere Dame mit Rollator, falschem Gebiss, falschem Dutt und Hörgerät, die sich eigentlich nur auf ihren alltäglichen Gang zum Bäcker machen will. Diese Routine wird durch das Pony durchbrochen, das für allerlei Verwirrung sorgt und Frau Apfel mehrmals zwingt, es vor dir Tür zu befördern, weil sie Tiere nur in der Bratpfanne gern hat. Erst als der Zirkusdirektor mit den Feinden des Ponys anrückt, versteckt Otilie Otis bei sich und gewährt ihm schließlich ein neues Zuhause.

Kritik

Mit ihrem neuesten Bilderbuch legt uns Nina Dulleck wieder ein gelungenes Werk in ihrem ganz eigenen Illustrationsstil vor, das die kleinen Dinge lebenslustig und detailverliebt feiert und gleichzeitig ein augenzwinkerndes Plädoyer für Toleranz und Verantwortung darstellt. Man kann Rosalie – Ein Abenteuer zum Frühstück als Vorgänger-Band sehen, denn es geht um dieselben Hausbewohner, allerdings wird hier unter anderem aus dem Blickwinkel von Rosalies Nachbarin Frau Apfel erzählt.

In beiden Bilderbüchern geht es darum, eine alltägliche Routine zu durchbrechen und etwas Neues zu wagen, möglicherweise sogar ein paar Vorurteile abzulegen. Während das kleine Zirkuspony nur seinen Wunsch nach Freiheit und Äpfeln verfolgt, muss Frau Apfel ihre Abneigung gegen Tiere überwinden. Ihre Einsamkeit, in der sie seit dem Tod ihres Mannes lebt, kann sie nur durch Routine und Vorsicht vor allem Fremden (mithilfe von Pfefferspraydosen und Wasserpistolen) füllen. Ihre Vorsicht gegenüber den Nachbarn entpuppt sich als falsch – hier haben wir einen Gastauftritt von Rosalie, die von Frau Apfel als Trampeltier empfunden und gemieden wird.

Den Reiz dieses Bilderbuches macht die interessante Mischung aus anderen Genres aus, die medienübergreifend eingesetzt werden. So arbeitet Dulleck hier mit filmischen Erzählmitteln und Stilmitteln des Comics. Filmisch wirken die Bilder, wenn der Anfang und das Ende einer Szene auf derselben Seite erkennbar sind, wenn Bewegungen mitverfolgt werden können oder ganze Gedankengänge der Figuren aufgezeigt werden – damit gehen auch Vor- und Rückblenden einher. Mit dem Comic-Wortschatz der lautmalerischen Wörter wie „klack, klack“, „kawumms“, „Riiiinnnggg“ (in geschlängelter Form, um das Vibrieren der Klingel zu verbildlichen) wird das Buch um die Ebene der Geräusche bereichert, die den Filmeffekt perfektionieren.

In klassischem Dulleck-Stil ist das Bilderbuch sehr reich, bunt und detailverliebt gestaltet – in den Straßenansichten gibt es viele kleine Szenen und Geschichten nach Art der Wimmelbücher zu entdecken, Pläne und Checklisten sind minutiös gezeichnet, die Innenausstattung (Tapeten, Teppiche, Balkon) genau ausgearbeitet. Die Straßen mit den einzelnen klassizistischen Häusern, alten Schildern, Litfaßsäulen und Kopfsteinpflaster erinnern an alte Disneyfilme, zum Beispiel an die ersten Szenen aus 101 DALMATINER (1961), wo Pongos Haus vorgestellt wird und er die Hunde-Besitzer-Paare vorübergehen sieht. Die Zirkusmanege erinnert an DUMBO (1941) und die Geschichte des kleinen Elefanten an die des kleinen Ponys.

Zielgruppe des Bilderbuches sind vorrangig Grundschulkinder, die selbst lesen und die Fülle an Geschichten, Details und Informationen aufnehmen und erkennen können, da man die einzelnen Seiten teilweise auch kreuz und quer lesen kann. Nach bester Wimmelbuch-Manier kann man es immer wieder anschauen und lesen, um jedes Mal etwas Neues zu entdecken.

Fazit

Nina Dulleck spricht mit ihrem neuen Bilderbuch selbst Kinder an, die sich sehr viel mit verschiedenen Medien befassen und deren Reizüberflutung gewohnt sind. Mit ihren medienübergreifenden, detailverliebten Illustrationen weiß sie filmische Mittel gekonnt umzusetzen und lässt jede Buchseite zum Abenteuer werden. Unsere gewohnte Umgebung und den Alltag peppt sie künstlerisch mit einer faszinierenden Begegnung zwischen einem Zirkuspony und einer einsamen alten Frau auf, die sich von ihrer Routine befreien lässt. Empfohlen sei das quirlige Bilderbuch für Kinder ab acht Jahren.

Titel: Otis und Otilie. Ein Pony zum Frühstück
Autor/-in:
  • Name: Nina Dulleck
Illustrator/-in:
  • Name: Nina Dulleck
Erscheinungsort: Würzburg
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: Arena Verlag GmbH
ISBN-13: 9783401606491
Seitenzahl: 96
Preis: 12,00
Altersempfehlung Redaktion: 8 Jahre
Dulleck, Nina: Otis und Otilie. Ein Pony zum Frühstück