Inhalt

In einer umfangreicheren Einleitung ordnet Bernhardt, derzeit Vertretungsprofessor für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd, den Motivkomplex nachvollziehbar in die Kinder- und Jugendliteratur und in die Entwicklung des problemorientierten Kinder- und Jugendromans der 1970er Jahre ein. 

Zudem definiert Bernhardt, was und wie "Ausreißen" im Rahmen des Sammelbandes verstanden werden soll. Es geht einerseits um "den Vorgang des Davonlaufens oder Ausrückens" (5), also um eine "Bewegung im Raum" (6), und andererseits um Figuren, die äußerlich und/oder innerlich aus ihrem bisherigen Leben ausbrechen und ausreißen. Das Ausbrechen kann sich im Rahmen der gewählten Beispiele auf ganz unterschiedliche Weise darstellen, sei es durch reale äußere Fluchten, d. h. durch das tatsächliche räumliche Verlassen (bspw. des Elternhauses, des Heimatlandes), oder durch innerliche Fluchten, also durch ein nur gedankliches Ausbrechen aus dem gewohnten Umfeld. Zudem kann es unterschiedlichste Ursachen für das Ausreißen geben, etwa als Loslösungsprozess von den Eltern, als Ausbruch aus bedrohlichen Zuständen oder als Suche nach einer besseren Zukunft.

Der Band eröffnet mit den Beiträgen von Lea Grimm und Eva-Maria Dichtl, die sich dem Ausreißer-Motiv im Bilderbuch widmen. Lea Grimm analysiert intertextuelle Bezüge und die Variationen des Ausreißer-Motivs am Beispiel von Peter Sís’ Robinson (2017). Sie zeigt Möglichkeiten seiner didaktischen Modellierung als Sehnsuchtsort auf und konzipiert eine Unterrichtseinheit für die Fächer Deutsch und Kunst in den Klassen 3/4. Der Beitrag wird durch Abbildungen, eine Vergleichstabelle und ein Schülerbeispiel besonders veranschaulicht. 

Eva-Maria Dichtl gestaltet eine Unterrichtseinheit für Kindergarten und Vorschule anhand Pija Lindenbaums Greta haut ab (2017). Sie liefert eine genaue Werkanalyse zur Bild- und Textsprache und markiert die didaktischen Potenziale für bildliches und literarisches Lesen. 

Susanne Drogi, Jana Mikota, Jessica Vogt und Christel Meier widmen sich dem Ausreißer-Motiv im Kinderbuch und entwickeln dementsprechend didaktische Vorschläge für die Klassen 3-6. Drogi stellt mit Martin Musers Kannawoniwasein (2018) einen kinderliterarischen Roadtrip mit intertextuellen Bezügen zu Erich Kästners Emil und die Detektive (1929) und Herrndorfs Tschick ins Zentrum, während Mikota in ihrem Beitrag zu Benjamin Tientis Unterwegs mit Kaninchen (2019) aufzeigt, dass Ausreißen hier nicht als Abenteuer, sondern als Hilferuf des kindlichen Protagonisten zu verstehen ist. Vogt thematisiert Ausreißen als Heimkommen: Sie analysiert die Funktion des Ausreißens für die Figur Wilhelmina in Katherine Rundells Zuhause redet das Gras (2012), einem Kinderroman, der mit den Schauplätzen Simbabwe und England nicht notwendigerweise die Lebenswelt der Schüler*innen repräsentiert. Christel Meier schließlich liefert eine fachwissenschaftlich sowie didaktisch überzeugende Analyse zu Sabine Bohlmanns Wie ich Fräulein Luise entführte und mit ihr eine geheime Reise unternahm (2016) und unterbreitet gut begründete Vorschläge für die unterrichtliche Arbeit mit dem Buch.

Die nachfolgenden zehn Beiträge und damit das Gros der Unterrichtsvorschläge basieren erwartungsgemäß auf jugendliterarischen Texten und richten sich an Lehrkräfte der Klassen 7-10. Dem Beitrag von Raphaela Tkotzyk zu Davide Morosinottos Mississippi Bande (2016) ist allerdings anzumerken, dass die Autorin den gewählten Titel, der Teil einer actionreichen und aufregenden Abenteuerreihe ist, nur schwer unter dem Aspekt des Ausreißer-Motivs legitimieren kann. Die Geschichte spielt in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Hauptfiguren geraten in ein Abenteuer und befinden sich daher auf der Flucht vor skrupellosen Erwachsenen. Ausreißen ist also ein spannungserzeugendes Merkmal der Abenteuer- und Verbrecherjagd per se und damit überwiegend rein genrekonstituierend begründet. Die Geschichte richtet sich verlagsseitig an 10-jährige Leser*innen, wird von Tkotzyk aber jugendliterarisch zwischen Abenteuer- und Adoleszenzroman verortet und für den Einsatz in den Klassen 7 und 8 vorgeschlagen. Selbstkritisch verweist die Autorin auch auf die hohe Seitenzahl des Bandes für leseschwache Schüler*innen. 

Schließlich erscheint die intensive Thematisierung des Ausreißer-Motivs im Rahmen des Unterrichtsmodells etwas konstruiert, wenn die Autorin andererseits darauf verweist, dass der historische Kontext und die vielfältigen Themen des Buches (Rassismus, Armut, Ausgrenzung) in fächerübergreifenden Ansätzen zum Tragen kommen müssten.

In Mark Lowerys Wie ein springender Delphin (2017) wird Ausreißen auf äußerer und innerer Ebene verhandelt. Nicola König arbeitet die Ausreißer-Thematik klar als Bindeglied zwischen Abenteuer- und Adoleszenzroman heraus und entwickelt nachvollziehbare didaktisch-methodische Konkretisierungen. Dass König bei den Sekundärquellen auf Beiträge von vor zwanzig Jahren zurückgreifen muss, ist ebenso bedauerlich wie die Tatsache, dass der zugrundeliegende Jugendroman mittlerweile nur noch antiquarisch oder als E-Book erhältlich ist. Sebastian Bernhardt widmet sich dem vielfach preisgekrönten Roman Tanz der Tiefseequalle (2017) von Stefanie Höfler. Er stellt anhand einer differenzierten Analyse der beiden ungleichen Protagonisten Sera und Niko eine Unterrichtseinheit für die Klassen 6-8 vor. Im Zentrum von Inger Lisons Beitrag steht ein nur vorgestelltes Ausreißen der Protagonistin Emma in Susan Krellers Roman Elektrische Fische (2019). Lison kann für ihre fundierte literaturwissenschaftliche Analyse das Modell der Heldenreise nach Joseph Campbell gewinnbringend nutzen, bleibt in der didaktisch-methodischen Umsetzung aber etwas vage. Kirsten Kumschlies versteht Tankstellenchips (2018), den handlungsstarken Roadtrip von Antonia Michaelis, als Initiationsgeschichte und (gebrochene) Heldenreise und entwickelt methodisch-didaktische Ansätze u. a. zur Raumanalyse, zur Heldenreise und zur thematischen Interkulturalität für die Klassen 8/9.

Die Beiträge von Andy Sudermann, Ines Heiser, Monika Hernik-Mlodzianowska und Florian Hesse sind für die Klassenstufen 8, 9 und 10 konzipiert. Sie widmen sich den Jugendromanen von Karin Koch (Am Freitag sehen wir uns wieder, 2017), Elisabeth Etz (Morgen ist woanders, 2019), Martin Schäuble (Endland, 2017) bzw. Neal Shusterman (Kompass ohne Norden, 2015). Koch und Etz zeigen Ausreißer, die nicht in die Fremde fliehen, sondern im weitgehend vertrauten Umfeld bleiben, um Neues für sich zu entwickeln, während Shusterman mit dem Protagonisten Caden einen Jugendlichen mit psychischer Erkrankung ins Zentrum rückt. Hesse liefert zu Shustermans komplexem Text einen gut strukturierten Beitrag mit fundierter literaturwissenschaftlicher Analyse, klaren Fragestellungen und differenzierten Begründungen, hält die methodisch-didaktischen Vorschläge aber eher allgemein.

Hernik-Mlodzianowska widmet sich mit Endland ebenfalls einem höchst komplex erscheinenden Roman, den sie hinsichtlich der Gattungstypologie, der erzählerischen Vermittlung sowie der Raum- und Figurengestaltung genau unter die Lupe nimmt. Im Verhältnis dazu werden die Zusammenhänge zum Ausreißer-Motiv nur vage und die abschließenden methodisch-didaktischen Überlegungen nur knapp dargelegt.

Im Zentrum des vorletzten Beitrags steht ein in vielerlei Hinsicht außergewöhnlicher und kontrovers diskutierter Primärtext. Sarah Crossans Eins, 2016 in deutscher Übersetzung erschienen, ist ein über 400 Seiten starker Versroman mit hohem ästhetischem und inhaltlichem Anspruch. Er erzählt von den 16-jährigen siamesischen Zwillingen Grace und Tippi, die aufgrund eines Herzfehlers von Grace operativ getrennt werden müssen, wobei Tippi an den Folgen der OP stirbt. Gegen den Rat der Ärzte brechen die Zwillinge vor der OP zu einem kurzen Roadtrip auf. Diesen sieht Judith Leiß als Knotenpunkt des Romans und stellt ihn ins Zentrum ihres Unterrichtsmodells zur Ausreißer-Thematik, obwohl die dazu ausgewählten Szenen nur ca. zehn Seiten des umfangreichen Romans ausmachen. Leiß sieht das literaturdidaktische Potenzial des Romans für die Klassen 9 und 10 im Bereich des literarischen Lernens, der Wertebildung und der Leseförderung. Sie setzt sich deutlich von Susanne Helene Beckers Bedenken zum Roman ab, die u.a. aufgrund der drastischen und detaillierten Beschreibungen körperlicher Merkmale und medizinischer Prozeduren (vgl. 359) den Roman auf keinen Fall für alle Schüler*innen verpflichtend in der Schule behandeln würde. Leiß deutet diese Schilderungen als Textmerkmale mit textimmanenten und wirkungsästhetischen Funktionen und entwickelt nachfolgend eine gut strukturierte methodisch-didaktische Konkretisierung. Richtigerweise betont sie aber, dass die Auseinandersetzung mit dem Roman hohe Anforderungen an Lehrkörper und Lerngruppe stellt.

Der letzte Beitrag des Bandes hebt sich in zweierlei Hinsicht ab. Zum einen richtet er sich als einziger Beitrag des Bandes dezidiert an die Sekundarstufe II. Zum anderen wählt Laura Lewald-Romahn nicht ein erzählendes Jugendbuch, sondern legt ihrem Unterrichtsentwurf mit der bissig-düsteren Coming-of-Age-Serie The End oft he F+++ing World (2017) eine filmische Adaption des gleichnamigen Kurzcomics von Charles S. Forsman zugrunde (vgl. 375).

Der Autorin ist bewusst, dass das verantwortungslose Verhalten, die drastische Sprache und die Thematisierung eines jugendlichen Protagonisten mit schwerer Persönlichkeitsstörung vom Lehrkörper eine hohe didaktisch-pädagogische Sensibilität erfordern und zudem die rechtlichen und technischen Voraussetzungen zur medialen Einbettung der Serie im Unterricht gut organisiert sein müssen. Die Dimensionen des Ausreißens und die Figurenanalyse werden durch tabellarische Darstellungen anschaulich strukturiert.

Kritik 

Das Motiv des Ausreißens, Abhauens, Davonlaufens, der inneren oder äußeren Fluchten wird in Sebastian Bernhardts Sammelband auf vielfältige Weise thematisiert. Die Einzelbeiträge sind lesefreundlich nach einem weitgehend einheitlichen Schema strukturiert. Einem einleitenden inhaltlich-thematischen Zugang folgt idealiter eine intensive literaturwissenschaftliche Analyse mit Fokus auf die Bedeutung des Ausreißer-Motivs, eine didaktische Kommentierung der Ausreißer-Thematik, sowie eine methodisch-didaktische Konkretisierung im Rahmen eines Unterrichtsmodells. Die Ausführungen werden zum Teil durch Grafiken, Schaubilder oder Bildbeispiele gewinnbringend veranschaulicht. Der Band lässt zudem neben etablierten Forschenden auch den wissenschaftlichen Nachwuchs zu Wort kommen. Ein Verzeichnis der Beitragenden  am Ende des Bandes erleichtert die Ein- und Zuordnung.

Im Sammelband sind Unterrichtsbeispiele von der Vor- und Grundschule bis zur Sekundarstufe I und II, sowie vom Bilderbuch über das Kinderbuch bis zum Jugendroman zu finden. Allerdings konzentrieren sich die meisten Unterrichtsvorschläge auf die erzählende Kinder- und Jugendliteratur und hier insbesondere auf die erzählende Jugendliteratur. Sie sind erwartungsgemäß für die Sekundarstufe I konzipiert. Im Zentrum steht erstaunlicherweise ein eher eng verstandener Literaturbegriff. Nur drei der siebzehn Beiträge widmen sich mit dem Bilderbuch bzw. dem Film anderen medialen Darstellungsweisen. Viele Unterrichtsmodelle arbeiten zudem eng am und mit dem literarischen Text. Repräsentationen der Texte in anderen Medien, bspw. in Medienverbundsystemen, werden eher selten methodisch eingesetzt. Im Rahmen der didaktischen Umsetzungen werden insbesondere Ansätze zum literarischen Lernen, aber auch zur literarischen, interkulturellen oder gendersensiblen Kompetenzbildung genutzt und bspw. im Rahmen von Perspektivübernahmen, szenischen Darstellungen, Figuren- oder Raumanalysen konkretisiert.

Der Grad der Differenziertheit, in der die Beiträge die literaturwissenschaftlichen Analysen bzw. die methodischen Konkretisierungen ausgestalten, schwankt. In Einzelfällen wird mitunter nicht überzeugend genug begründet, warum und wie das Ausreißer-Motiv anhand des gewählten Textes thematisiert werden soll.

Der Sammelband strebt einen Blick auf die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur an. Die gewählten Primärtexte sind überwiegend in den Jahren 2016-2019 erstmals erschienen. Mitunter reichen ihre Ersterscheinungsdaten aber bis zu zehn Jahre zurück (vgl. Katherine Rundells: Zuhause redet das Gras). Manche Texte sind vermutlich nur deshalb noch auf dem Markt, weil sie von der Kritik wahrgenommen, prämiert und daher nochmals neu aufgelegt wurden (vgl. Rundell, 2. Aufl. 2015 und Höfler, 9. Aufl. 2021). Es ist aber zu befürchten, dass manche Primärtexte bald nicht mehr lieferbar sind, und dass damit das Potenzial des Bandes, dass er von Lehrenden konkret im Unterricht genutzt werden kann, ggf. kürzer ist, als man der Sache wünschen möchte. So ist Mark Lowerys Wie ein springender Delphin nur noch antiquarisch oder per E-Book erhältlich. Es ist daher zu fragen, ob man zukünftig die Klassenlektüre elektronisch lesen will und wie die mitunter über 300 Seiten starken Bücher als gebundene Ausgaben im Klassensatz für alle angeschafft werden können. 

Fazit 

Der Sammelband bietet viele differenzierte Analysen, entwickelt fundierte didaktische Perspektiven und stellt anhand der ausgewählten Texte einen großen Fundus an Ideen zur methodischen Umsetzung des Ausreißer-Motivs im Deutschunterricht für verschiedene Klassenstufen zur Verfügung. Es ist zu wünschen, dass Lehrende, die sich der Ausreißer-Thematik zuwenden wollen, davon noch lange profitieren können, u. a. indem die zugrundeliegenden Primärtexte auf dem Buchmarkt verfügbar bleiben.

Titel: "Ausreißen" in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur. Analysen und didaktische Perspektiven
Herausgeber:
  • Name: Sebastian Bernhardt
Erscheinungsort: Baltmannsweiler
Erscheinungsjahr: 2021
Verlag: Schneider-Verlag Hohengehren
ISBN-13: 978-3-8340-2152-6
Seitenzahl: 406
Preis: 38,00€
Buchcover 'Ausreißen' in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur