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Als ein neuer Bär in den Zoo kommt und Fragen stellt, reagieren die anderen Tiere reserviert. Natürlich nehmen auch sie den riesigen Schornstein wahr, aus dem der unerträgliche Gestank kommt, und sie sehen, wie die 'Gestiefelten' ihre Herrschaft gegenüber den 'Gestreiften' ausüben. "Also, ich erklär dir mal, wie das hier läuft", sagt Papa Pavian, der Wortführer der Tiere im Zoo, zum Bären. "Die Gestiefelten sind die Bosse und die Gestreiften sind gar nichts" (11:09). Für ihn ist klar, dass es nur Ärger bringt, wenn man sich einmischt: "Lieber gar nicht erst auffallen. Und keine Fragen stellen. Sonst geht's dir wie dem Nashorn" (11:37). Der Pavian arrangiert sich mit den Zuständen, ohne sie zu hinterfragen, und weiß, dass es den Tieren im Zoo gut geht, solange sie sich an die Regeln halten. Doch der Bär denkt anders. Er kann nicht wegsehen, er mischt sich ein und er wird etwas tun.

Kritik

"Die Tiere haben es tatsächlich sehr schön in Buchenwald", schreibt Karl Barthel (1946, 48), der zwischen 1937 und 1945 im dortigen Konzentrationslager inhaftiert war, in seinen Erinnerungen Die Welt ohne Erbarmen. Mit Blick auf den Zoologischen Garten resümiert er: "Buchenwald, das Paradies der Tiere! Buchenwald, Hölle und Tod der Menschen". Auch Eugen Kogon erwähnt den Zoo in seiner Studie Der SS-Staat und beschreibt, wie die Anlage von Gärtnern kunstvoll ausgestaltet und die Tiere mit Lebensmitteln verwöhnt wurden, die man den Gefangenen vorenthielt. "Häftlinge in den Bärenzwinger zu werfen und zerfleischen zu lassen, war unter dem Regiment des Kommandanten Koch ein neronisches SS-Vergnügen" (Kogon 1946, 295).

Die wenigen Quellen, die es zum Zoologischen Garten im KZ Buchenwald gibt, haben Jens Raschke zu einem Text inspiriert, der aus der Perspektive der Tiere auf das Geschehen blickt – ohne dass Begriffe wie 'Konzentrationslager', 'Nationalsozialismus', 'SS' oder 'Juden' fallen. Vielmehr ist von den 'Gestiefelten' und den 'Gestreiften' die Rede, Hörspiel und Theatertext werden in ihrer Sprache niemals eindeutig, sondern bieten einen parabelhaften und metaphorischen Blick auf die tödlichen Mechanismen, mit denen Menschen von Menschen gequält, gedemütigt und ermordet werden. Eindeutig hingegen ist die Botschaft, wenn das Murmeltiermädchen berichtet, was der Bär im Traum geschrien hat: "Schaut doch hin, schaut doch hin! Seht ihr nicht, was sie mit den Gestreiften machen! Bald werden die alle tot sein. Und ihr und ich, wir sind die Nächsten" (27:19).

Die Form des Hörspiels kommt den poetischen Bildern, die Raschke entwickelt, dabei ebenso zugute wie der Erzählstruktur des Textes. Über die Kasseler Inszenierung des Theaterstückes (2017, Regie: Philipp Rosendahl) heißt es in einer Rezension: "In weiten Teilen wird die Handlung nicht gezeigt, sondern erzählt. Das hat etwas von einem szenisch dargestellten Hörspiel" (Dessauer 2017). Und die Möglichkeiten des Hörspiels werden in der Produktion unter der Regie von Götz Fritsch wirkungsvoll eingesetzt; kunstvoll illustrieren sie die innere Bühne des Mediums, ohne auf leere Effekte abzuzielen.

Gleich im Opener erzählen verschiedene Kinderstimmen von einem Zoo, und machen dabei den fiktionalen Status des Als-ob deutlich: "Stell dir einen Zoo vor. Vor vielen Jahren. Aber einen kleinen Zoo. Eher einen Eigentlich-nicht-der-Rede-wert-Zoo" (00:00). Die jungen Stimmen belehren nicht, sie sprechen ohne künstliches Pathos und Betulichkeit, sondern orientieren sich in ihrem Ausdruck an den jeweiligen Situationen. Trotz der düsteren Grundierung gibt es nämlich – einfühlsam von der Musik Martin Zrosts unterstrichen – durchaus leichte und komische Momente, etwa wenn Frau Mufflon ihren Mann mit 'Muffischatzi' anredet und ihm eine offensichtlich bewährte Einschlafhilfe vorschlägt: "Geh doch raus und renn gegen das Gatter, dann geht's dir gleich wieder besser" (30:33).

Auch der Zoo wirkt anfangs idyllisch: Er liegt auf einem Berg und bietet einen herrlichen Ausblick. Rehe und einen Hirsch, eine Entenfamilie, Eichhörnchen und Mufflons gibt es hier. Die unterschiedlichen Vorstellungen eines Zoos werden durch Löwengebrüll und Geflügelgeschnatter, aber auch durch die Musik, die hier mit Bassklarinette und Gitarre experimentiert, verdeutlicht. Doch allmählich kommen Zweifel auf, denn zwischen den schönen und den hässlichen Häusern, die es in der Umgebung gibt, steht ein Zaun:

Ein summender, brummender Zaun ist das. Voller elektrischer Wut. Wehe, du fasst ihn an. Ein Zaun mit Stacheldraht oben drauf und Wachtürmen alle paar Meter. Den Zoo dürfen sich die Menschen in den hässlichen Häusern nur von Weitem angucken, durch den summenden, brummenden Zaun. Aber eigentlich dürfen sie nicht mal das. Eigentlich dürfen sie gar nichts. Denn die Stadt, die nur aussieht wie eine Stadt, ist in Wahrheit ein Gefängnis (01:33).

Das Brummen des Elektrozauns verleiht der Szene eine schwer zu fassende, gleichwohl unbehagliche Wirkung, Musik, Geräusch und Stimme gehen untrennbar ineinander über. Die Stimmung ist bedrohlich, das Sounddesign dröhnend, die Musik gibt einen dumpfen, straffen Rhythmus vor. Schließlich fällt eine Tür ins Schloss. Stille.

Für die unterschiedlichen Gefühlslagen, die beim Hören entstehen, sorgen auch die poetischen Bilder, so erzählt der Bär von seinem letzten Abend in Freiheit und davon, dass seine Mutter zum Himmel sah und ihm und seiner Schwester die Sternbilder des großen und kleinen Bären zeigte. Aber auch in den Traumerzählungen werden die Grausamkeit im Lager sowie die Ängste der Menschen und Tiere metaphorisch kondensiert.

Das Besondere an Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute ist die Perspektive. Neuere Texte über den Holocaust stammen naturgemäß nicht von Zeitzeuginnen und -zeugen, nicht mehr von denjenigen, die den Nationalsozialismus erlebt haben. So wie in John Boynes Der Junge im gestreiften Pyjama (2006/dt. 2007) ein Kind erzählt, das viele Zusammenhänge nicht versteht und die Kleidung der Gefangenen für Schlafanzüge hält, führt bei Jens Raschke der Blickwinkel der Tiere zu Momenten der Fremdheit und Verfremdung. Auch der Bär hält die Gefangenen wegen ihrer gestreiften Lagerkleidung zunächst für Zebras. Der Text vermittelt aber weder die Perspektive der Täterinnen und Täter noch die der Opfer, es ist eine dritte, die zugleich die anderen Perspektiven spiegelt und auffächert. Sowohl durch die wechselnde Erzählstruktur als auch durch die Sicht der unterschiedlichen Tiere, die durchaus menschliche Wesenszüge tragen.

"Jedem das Seine" steht auf einem Schild über dem Haupttor zum Konzentrationslager Buchenwald. Und "Jedem das Seine" (30:20) sagt Papa Pavian im Hörspiel, wenn er erläutert, wie er mit den Zuständen im Zoo sowie im angrenzenden Lager umgeht. Er hält sich raus und ist der typische Mitläufer, der sonntags brav Männchen macht. Der Bär hingegen beweist Zivilcourage, er ist Aktivist, er kann nicht wegschauen und will es nicht. Er steigt auf den Schornstein und bringt ihn schließlich zum Einsturz.

Gegenüber dem Theatertext ist in der Hörspielbearbeitung von Heidi Knetsch und Stefan Richwien der Schluss allerdings markant geändert, hier kommt es zur Befreiung: "An diesem Tag hört das Gefängnis auf, ein Gefängnis zu sein und der Zoo ist kein Zoo mehr" (46:29). Das ist zwar ein nicht unerheblicher Eingriff in das dramaturgische Konzept, der aber wohl der Rezeptionsweise des Hörspiels geschuldet ist. Während man ein Theaterstück als Publikum kollektiv erlebt und die Aufführung meist von Eltern, Schule oder den theaterpädagogischen Angeboten begleitet wird, kann das Hören von Hörspielen ein einsamer Akt sein, der somit abgemildert wird.

Fazit

Es ist es sicher ein gewagtes Projekt, Kinder ab zehn Jahren mit dem Holocaust zu konfrontieren, andererseits hat Jens Raschke auch in Schlafen Fische? gezeigt, dass er einen angemessenen Ton für sensible Themen – hier der Tod des kleinen Bruders der Erzählerin – findet. Und angemessen heißt für Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute, dass Raschke durch die ungewöhnliche und unsentimentale Perspektive der Tiere einen Weg findet, der einfühlsam ist, ohne zu verharmlosen, und drastisch, ohne zu überfordern.

Schaut hin, dieser Imperativ ist keineswegs ein historischer Warnruf. Zwar geht Jens Raschkes Text von den Grauen im Konzentrationslager Buchenwald aus, doch er wird nicht eindimensional im Nationalsozialismus verortet. Der Balanceakt zwischen historischer Wirklichkeit und poetischer Abstraktion einer überzeitlichen Wahrheit, zwischen klarer Botschaft und ungewöhnlicher Perspektive machen Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute zu einem höchst aktuellen Text, der seine Wirkung mit den Mitteln des Hörspiels mindestens so gut entfaltet wie auf der Theaterbühne.

Literatur

  • Barthel, Karl: Die Welt ohne Erbarmen. Bilder und Skizzen aus dem K. Z. Greifenverlag: Rudolstadt, 1946.
  • Dessauer, Maik: Tiere, die auf Nazis starren. In: HNA vom 28.03.2017.
  • Kogon, Eugen: Der SS-Staat. Das System der Deutschen Konzentrationslager. 5. Aufl. Europäische Verlagsanstalt: Frankfurt/Main, 1946.
  • Raschke, Jens: Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute. Bühnenmanuskript. Theaterstückverlag: München, 2013.

 

Titel: Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute
Regie:
  • Name: Götz Fritsch
Autor/Bearbeitung:
  • Name: Jens Raschke
  • Name: Heidi Knetsch
  • Name: Stefan Richwien
Sprechende: Valentin Wilczek, Lena Meyer und Brid Johnen (Die drei Erzählstimmen). Marvin Weiß (Bär), Lou Tillmanns (Murmeltiermädchen), Jörg Schüttauf (Papa Pavian), Timo Dierkes (Herr Mufflon), Constanze Becker (Frau Mufflon), Michael Altmann (Nashorn), Paula Hans (Mama Murmel), Cornelia Niemann (Mama Pavian), Karmen Mikovic (Mamabär), Liliane Praml (Schwesterbär), außerdem Simon Koch, Ursel Unkelbach, Noel Wilde
Produktion: hr
Erscheinungsjahr: 2015
Dauer (Minuten): 51 Minuten
Altersempfehlung Redaktion: 10 Jahre