Inhalt

Die beiden Jugendlichen Leander Blum und sein bester Freund Jonas kamen am gleichen Tag zur Welt und sind seit ihrer Geburt beste Freunde. Sie verbindet insbesondere ihr flammender Enthusiasmus für Kunst, die sich im Sprayen niederschlägt. Nachts malen sie in ihrer Heimatstadt Wien ihre Pieces und versehen sie mit ihrem Tag BLUX, tagsüber verbringen sie die Zeit müde in der Schule und sind auf der Suche nach kurzfristigen Auftragsarbeiten, um sich neue Farben leisten zu können.

Eines Tages verliebt sich Leander in das Mädchen Lila, das von seiner Clique wegen seiner langen Haare Rapunzel genannt wird. Im eingeflochtenen Erzählstrang Lilas, der um einige Monate später als Leanders Handlungsstrang terminiert ist, wird Leander aus ihrer Perspektive als ausgesprochen zurückhaltend und verschlossen geschildert. Da sie sich in ihn verliebt hat, versucht sie seine Nähe zu finden. Bei einem Schulausflug verirren sich die beiden auf einer Wanderung und finden abends Zuflucht in einer abgelegenen Hütte. Dort offenbart Leander sein Geheimnis, das ihn zu so einem abweisenden und in sich gekehrten Mensch hat werden lassen. Er erzählt von seinem besten Freund Jonas, der sich in das Märchen von den fünf chinesischen Pinseln verstiegen hat, in dem die Künstler dazu befähigt sind, sich in die Welt der Bilder zu malen – bis er nach dem Besprühen eines Stromkastens auf einem Bahngleis von einem Zug erfasst wird. Der unerwartete Tod seines besten Freundes hat in Leander Suizidgedanken hervorgerufen. Lila ist die einzige, die ihm neue Hoffnung und seinem Leben einen neuen Sinn geben kann.

Kritik

"Er war ein Gespenst. Ein Gespenst mit einer überwältigenden Aura" (S. 39), äußert sich Mitschülerin Lila über Leander Blum. Schon der Titel des Jugendromans lässt erahnen, dass es sich bei dem jugendlichen Protagonisten um eine geheimnisvolle Persönlichkeit handelt. Der Roman der österreichischen Autorin Irmgard Kramer beginnt insofern überraschend, als die Leserinnen und Leser Leander selbst als Ich-Erzähler kennenlernen. Er erzählt dort von seinen nächtlichen Spray-Ausflügen mit seinem besten Freund Jonas, von einer Verfolgung mit der Polizei, die die beiden Freunde offenbar sehr amüsant finden: "Inmitten eines Kinderspielplatzes blieb Jonas stehen. Er stützte seine Hände auf die Knie und fing an zu lachen, und wenn Jonas anfing zu lachen, musste jeder lachen" (S. 14).

Nach zwei Kapiteln wechselt sowohl die Erzählperspektive als auch die Stimmung, da aus der Sicht von Leanders Mitschülerin Lila ein völlig konträres Bild des jugendlichen Protagonisten gezeichnet wird: "Er war mir zu elegant, zu perfekt und zu unnahbar. Ich steckte ihn in die Schublade und verpasste ihm das Etikett 'schwierig'" (S. 36). Da die Leserinnen und Leser bis zum letzten Viertel des Romans im Unklaren gelassen werden, ob Lilas Erzählstrang vor, während oder nach Leanders Kapiteln terminiert ist, mag die Sichtweise der Mitschülerin zwar zunächst irritieren. Zugleich wirft sie so viele Fragen auf, dass durch den Einsatz von Cliffhangern am Kapitelende und zwei verschiedener Erzählstränge, die erst nach fast 300 Seiten zeitlich zusammenlaufen, eine enorme Spannungskurve gelingt: "Was für ein Geheimnis schleppte er mit sich? War es die Beziehungskrise seiner Eltern? Warum hatte er die Schule gewechselt?" (S. 127). Trotz oder wegen seines unerklärlich zurückhaltenden Verhaltens in Lilas Kapiteln geht von Leander eine Faszination aus, die das Lesepublikum nicht mehr loslässt.

Gleichwohl erfahren die Leserinnen und Leser durch Leanders Erzählstrang deutlich mehr biographisches Hintergrundwissen über den Protagonisten. So wird beispielsweise aus seiner Perspektive die familiäre Situation allmählich ersichtlich: Auf der einen Seite ein zerrüttetes Elternhaus, der Vater Polizist, der unwissend nachts seinem eigenen Sohn auf den Fährten ist, und auf der anderen Seite eine intensiv gepflegte Freundschaft mit Jonas, der durch die geteilte Leidenschaft des Sprayens der eigentliche Dreh- und Angelpunkt seines Lebens ist. Doch auch in dieser Perspektive sind die Informationen lediglich häppchenweise verteilt. Ein Gesamtbild entfaltet sich peu á peu mit der Vereinigung der Stränge. Der Roman setzt demnach bei seinen LeserInnen die Bereitschaft zur Kombinationsgabe voraus.

Originell ist jedoch nicht nur die raffinierte Erzählweise, sondern auch die Darstellung jugendlicher Sprayer. Irmgard Kramer umschifft Klischees von vandalisierenden Sprayern, indem sie die Figuren nicht primär in ein kriminelles Licht stellt. Gleichwohl sind sich Leander und Jonas ihrer illegalen Machenschaften durch das Besprühen von U-Bahn-Waggons und der damit verbundenen Gefahren durchaus bewusst, wie dies zum Beispiel während einer nächtlichen Verfolgungsjagd mit der Polizei deutlich wird:

Bloß nicht ausrutschen, neben uns floss Strom in Schienen. Konnte sein, dass man den inzwischen abgeschaltet hatte; das passierte, sobald Eindringlinge gemeldet oder gesichtet wurden. Aber drauf ankommen lasse wollte ich’s nicht. Unsere Verfolger hingen uns an den Fersen (S. 11).

Gleichzeitig werden die riskanten Ausflüge auf Gleisen weder beschönigt noch regen sie zum Nachahmen an. Insofern ist es ein konsequenter Zug der Autorin, dass Leanders bester Freund Jonas auf den Gleisen auf tragische Weise ums Leben kommt. Doch dominiert über allem die künstlerische Hingabe zweienger Freunde, die das Sprayen geradezu als körperliche Ekstase erleben:

Die abstehenden Härchen in seinem Gesicht verrieten mir, dass auch er gerade den ultimativen Kick verpasst bekam. Wir legten noch einen Zahn zu, wurden uns jeder Bewegung bewusst und spürten eine tiefe Befriedigung. Ich sprühte mit zwei Dosen gleichzeitig (S. 303).

Leander und Jonas werden als zwei Streetart-Künstler dargestellt, die Ziele und Visionen haben und deren Begeisterungsfähigkeit geradezu ansteckend ist, die insbesondere durch die literästhetische Sprache zum Ausdruck kommt: "Ich liebte unbemalte Leinwände. Eine Leinwand kam mir vor wie eine Haut, unter der sich die Figuren bereits bewegten wie Larven in Kokons. Sie wollten raus und wir mussten sie nur noch freilegen" (S. 62).

Bemerkenswert ist, dass Irmgard Kramer darüber hinaus den Jargon der Sprayer-Szene wie beispielsweise 'Pieces' (Gemälde) oder 'Tag' (Kürzel des Künstlerpseudonyms) aufgreift, die für den Laien zwar nicht sofort, aber durch den Kontext erschließbar sind. Damit verleiht die Autorin, die in ihrer Danksagung ihre Recherchearbeit mit dem Streetart-Künstler PEKS schildert, dem Roman auch in dieser Hinsicht Authentizität.

Fazit

Eine geheimnisvolle Hauptfigur, eine intensive Freundschaft und eine entflammte Leidenschaft für Streetartmachen sind die Elemente, die Irmgard Kramers Buch 17 Erkenntnisse über Leander Blum zu einem ausgesprochen lesenswerten Jugendroman machen. Er besticht sowohl durch die geschickte Erzählweise mit zwei Strängen als auch durch die glaubwürdige Darstellung der Freundschaft der Protagonisten und der Streetart-Szene. Da das Buch aufgrund der narrativen Anlage Kombinationsgabe voraussetzt, ist es ab frühestens 14 Jahren zu empfehlen.

Titel: 17 Erkenntnisse über Leander Blum
Autor/-in:
  • Name: Kramer, Irmgard
Erscheinungsort: Bindlach
Erscheinungsjahr: 2018
Verlag: Loewe Verlag
ISBN-13: 9783785589113
Seitenzahl: 352
Preis: 17,95 €
Altersempfehlung Redaktion: 14 Jahre
Kramer, Irmgard: 17 Erkenntnisse über Leander Blum