Inhalt

Die 11jährige Enni (eigentlich Eleonore, aber so will sie unter keinen Umständen genannt werden) ist einsame Spitze in Mathe. Rechnen fällt ihr in den Schoß, die Logik der mathematischen Operationen und einzelner Rechenwege fasziniert sie und gibt ihr Halt. Und den braucht sie dringend, denn sonst läuft eigentlich alles schief in Ennis Leben. Dieses erscheint ihr tatsächlich wie ein einziger Rechenfehler. Sie ist ohne Eltern aufgewachsen, warum, erfährt der Leser nicht (möglicherweise geben die geplanten Folgebände Aufschluss) und wurde ihr Leben lang von Heim zu Heim bzw. vor allem von Pflegefamilie zu Pflegefamilie geschickt. An diesem Punkt setzt die Handlung an. Mit den Haagens hatte Enni endlich mal eine Pflegefamilie gefunden, in der sie sich wirklich wohl fühlte, nicht eine, in der sie das fünfte von sechs Pflegekindern war, wie sonst immer. Hier gibt es nur noch einen leiblichen Sohn: Noah. Zu ihm hat Enni eine besondere Verbindung aufgebaut. Sie liebt ihn innig und er sie auch, die beiden Geschwister sind ein Herz und eine Seele, doch dann wird die Bindung jäh unterbrochen: Die Haagens wollen aus Berlin in die Schweiz umziehen und Enni nicht mitnehmen. Für beide Kinder bricht eine Welt zusammen und sie wollen in einer Nacht- und Nebel-Aktion abhauen. Doch der Ausreißversuch misslingt. Die Kinder werden getrennt und Enni allein auf ein abgelegenes Internat für "besondere Kinder" in den Alpen geschickt. Trotz idyllischer Alpenromantik und eines herzlichen Empfangs durch die Schulleiterin ist Enni entsetzt und will nur eins: wieder weg! So schmiedet sie verwegene Pläne, um ihren Bruder Noah wiederzufinden, nach dem sie sich unendlich sehnt und erhält dabei Unterstützung von neuen Freunden, die sie im Internat findet: Das sind die Unausstehlichen, die nur ganz am Anfang unausstehlich sind, angeführt von Dante, der im Rollstuhl sitzt. Diese körperliche Einschränkung hindert den Jungen nicht, sich auf wilde Achterbahnfahrten mit Enni zu begeben, und dies im wahrsten Sinne des Wortes: Denn es stellt sich heraus, dass die Internatsclique um Dante herum unbedingt eine Fahrt im "Final Destruier" im nahegelegenen Freizeitpark riskieren will und deshalb ihrerseits eine "Flucht" aus dem Internat plant, allerdings nur für einen Tag. Eine abenteuerliche Geschichte, die Enni hier ihrem Therapeuten erzählt und an deren Ende sie Noah tatsächlich wiederfindet.

Kritik

Das Buch lebt von der Erzählstimme seiner gewitzten Protagonistin und der Erzählsituation: Enni wendet sich an ihren Therapeuten, spricht diesen direkt an und erzählt ihm rückblickend von ihren Erlebnissen mit Noah in Berlin, im Internat und im Freizeitpark. Diese Erzählsituation ist vor allem wegen des saloppen Erzähltons spektakulär, der sehr nah an der konzeptionellen Mündlichkeit ist, und dies auch auf paratextueller Ebene. Enni flucht gerne und viel, die Schimpfwörter aber sind im Text alle durchgestrichen, nicht lesbar, unkenntlich, im Druckbild einer Handschrift nachempfunden. So können die Flüche und Schimpfwörter allenfalls aus dem Kontext erschlossen werden oder sie bleiben Leerstellen, was den Lesefluss und die leichte Lesbarkeit aber in keiner Weise mindert, sondern als "Authentizitätsstrategie" ziemlich gut funktioniert:

"Okay, okay, ich weiß – diesmal habe ich so richtig ---------- gebaut. Aber es war nicht so, wie’s aussieht! Nicht alles. Die Halbach und die Polizei haben echt den -------- offen! Ich mein: Einbruch! Urkundenfälschung! Kidnapping! Hallo, geht’s noch? Drogen hab ich nicht geschmuggelt? Oder `ne Atombombe gebaut? Alles ------- hoch zehn! Ich erzähl Ihnen, was wirklich passiert ist." (S.7)

So der Romananfang – sicher, auf diesen Erzählton muss man sich erstmal einlassen, vielleicht fällt das dem erwachsenen Leser schwerer als dem kindlichen. Doch hat man das bewerkstelligt, erwartet einen eine mitreißende und auch einfühlsame Geschichte, die mit sympathischen Figuren, einem gut aufgebauten Spannungsbogen und originellen Schauplätzen überzeugt. Ein Stadt-Land-Kontrast entsteht durch Ennis (Entwicklungs)reise von Berlin ins Alpeninternat "Life Saals", das man nur mithilfe einer Gondelfahrt in der Seilbahn erreicht. Die Alpenidylle nimmt die von aller Welt verlassene Protagonistin nur am Rande wahr, dennoch wird sie zur Kulisse eines umwälzenden Ich-Findungsprozesses, der auch an neue Freundschaften und Bindungen geknüpft ist, auf die sich Enni nur langsam einlassen kann. So liegt hinter der wortstarken Sprücheklopferin und Königin der Schimpfworte ein sensibles und zutiefst verletztes Mädchen, das es immerhin schafft, sich seinem Therapeuten zu öffnen – so ist der Kinderroman mit seiner spezifischen Erzählhaltung angelegt. Und so birgt er auch eine erstaunliche Vielschichtigkeit in sich, denn neben der komplexen Enni-Figur finden sich auch noch zahlreiche andere Facetten in der Handlung, die mit vielen spannenden Wendungen und Überraschungen aufzuwarten weiß. So trifft Enni beispielsweise zu Beginn ihrer Internatszeit auf die jüngere Lilith, ein blindes Mädchen, das aussieht wie ein blonder Engel. Durch die interne Fokalisierung identifizieren sich die Leserinnen und Leser zunächst mit Ennis spontaner Sympathie für die kleine, hilflos anmutende Bettnachbarin und ist dann mit ihr schockiert, als Lilith Enni am nächsten Tag brutal in die Pfanne haut. Ebenso komplex wie die Figuren sind die der Handlung inhärenten Lebensweisheiten, die auch dem erwachsenen Mitleser wichtige Botschaften übermitteln, etwa, wenn der Therapeut Alfred Adler zitiert: "Die einzig normalen Menschen sind die, die man nicht so gut kennt." (S. 173). Auf diese Weise wird ein Diskurs um nichtexistente Normalität oder Verhalten, das die Norm sprengt aufgemacht, worum im Grunde die ganze Handlung des Kinderromans kreist. "Destruktives und antisoziales Verhalten bei institutionalisierten Kindern und Jugendlichen" (S. 172) heißt das im Psychologie-Jargon von Ennis Therapeuten.

Unklar und offen bleibt die ganze Zeit, was mit Ennis Eltern denn nun wirklich passiert ist und warum sie diese drastische Reise von Pflegefamilie zu Pflegefamilie hinter sich hat. Am Ende gibt es eine dramatische Wendung mit einem Verweis auf Ennis Vater, deren Inhalt im Sinne des Spannungserhalts hier nicht verraten werden soll – und die sich vermutlich in den geplanten Folgebänden weiterentfalten wird. Ähnliches ist zu vermuten bezüglich der Irritation, die entsteht, als Enni feststellt, dass das Internat in der Außenwelt komplett unbekannt zu sein scheint. Ein äußerst origineller Kinderromanauftakt, den Vanessa Walder hier vorgelegt hat: Komplex, vielschichtig und sehr lesenswert! Begleitet wird die witzig-spannende Story mit ebensolchen Illustrationen von Barbara Korthues.

Fazit

Mit Enni hat Vanessa Walder eine warmherzige, witzige und sympathische Hauptfigur kreiert, deren eindringliche und leichte Erzählstimme, die Leserinnen und Leser direkt ins Herz treffen kann. Die paratextuelle Gestaltung mit den geschwärzten Schimpfwörtern stellen ein Original im Kinderroman dar, das sicherlich viele Liebhaber finden wird. Für Kinder liegt der Reiz der Lektüre nicht zuletzt im Entschlüsseln dieser Schimpfwörter, die die Tragikomik der sowohl traurigen als auch spannenden und witzigen Handlung auf ganz eigene Art tragen. Aufgrund der Schwere der Thematik ist das Buch Kindern frühestens ab 8 Jahren zu empfehlen.

Titel: Die Unausstehlichen und ich - Das Leben ist ein Rechenfehler
Autor/-in:
  • Name: Walder, Vanessa
Illustrator/-in:
  • Name: Barbara Korthues
Erscheinungsort: Bindlach
Erscheinungsjahr: 2019
Verlag: Loewe
ISBN-13: 978-3-7855-8901-4
Seitenzahl: 269
Preis: 12,95 €
Altersempfehlung Redaktion: 8 Jahre
Walder, Vanessa: Die Unausstehlichen und ich – Das Leben ist ein Rechenfehler