Inhalt 

Lama, "das Mädchen, das nicht spuckt" (S. 7), ist die 11-jährige Protagonistin von Karimés Roman. Sie vermisst nicht nur ihre weggezogene Freundin Jacky, sondern auch ihre Mutter, die sich während einer Reise in ihr Herkunftsland Marokko selbst finden will. Dass die Mutter immer länger bleibt, da sie sich um ihren kranken Vater kümmern will, und ihre Familie in Deutschland während ihrer täglichen Anrufe immer wieder vertröstet, verwirrt Lama und macht sie wütend:

Heute Morgen ist das passiert. Auf dem Schulweg. Es hat geregnet, und ich habe an Mama gedacht. Gestern hat sie angerufen. Um uns zu sagen, dass sie doch noch länger in diesem gefährlichen Land bleiben muss, was sie nicht gefährlich findet. Noch schlimmer kann es nicht kommen, hab ich gedacht. Jetzt, wo doch auch Jacky weg ist. Keine beste Freundin mehr. Und keine Mutter. Heute Morgen hab ich immer auf die Straße geguckt und in die Pfützen getreten. Und da kam der Satz in meinen Kopf. Mama ist gestorben. Der Satz ist nicht mehr aus meinem Kopf weggegangen. In der Schule hab ich ihn zu den anderen gesagt. (S. 11)

Ihre Lehrerin, Frau Klenke-Huhn, von der Protagonistin ‚Huhn‘ genannt, erfährt von dem angeblichen Tod durch die Kinder in ihrer Klasse. Erschrocken ruft sie bei Lamas Vater an, der die Lüge aufklärt. Als die Kinder davon erfahren, geben sie Lama den Spitznamen ‚Lügenlama‘ (S. 18) und meiden sie. Nur Camilla, die sonst eigentlich andere hänselt, ist nett zu ihr und bietet ihr sogar ein Stück Vanillekuchen an. Lama beschließt, sich mit ihr anzufreunden, doch damit das klappt, muss sie erst eine Mutprobe bestehen und mit Camillas anderer Freundin Anna deren Markenzeichen – blaue Wimperntusche – stehlen. Anna und Lama werden erwischt, Camilla gibt an, von den beiden zum Stehlen angestiftet worden zu sein. Danach ist Lama ein ‚Mädchen, mit dem die anderen nicht verkehren dürfen‘, was dazu führt, dass ihr Vater ihr ein besonderes Geburtstagsgeschenk macht: Sie muss erst wieder in die Schule gehen, wenn sie das will. In der schullosen Zeit verbringt Lama die Tage bei ihrem Onkel Safran, einem Dichter, für den sie sich zwar manchmal schämt, auf dessen Wortkünste sie aber auch sehr stolz ist. Sie liest Keuns Exilroman, Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften, informiert sich über die Autorin und freundet sich mit Laterne an, einem älteren Jungen aus ihrer Schule, über den sie überhaupt erst zu Keun gekommen ist: Er hat das Buch in ihrer Nähe verloren. Lama findet in der Protagonistin des Romans, die sie Lene nennt, und Laterne, der eigentlich Lex heißt und sie in die Astronomie einführt, Unterstützung im Alltag. Dies gibt ihr so viel Mut, dass sie wieder in die Schule möchte, und mit Lex den unglaublichen Plan ausheckt, ihrer Mutter nach Marokko zu folgen, wo sie zu sich und ihrer Familie findet. 

Kritik 

Karimés Roman führt in ganz eigener Weise in Keuns Roman ein. Als Ich-Erzählerin bietet Lama nur jene Bruchstücke von Keuns Erzählung an, die sie beeinflussen, wie Sätze oder Ideen der namenlosen Hauptfigur Keuns, die Lama zunächst Amal, als Anagramm, nennt. So übernimmt Lama manchmal einfach Sätze Amals, manchmal lässt sie sich inspirieren: 

Das klang gut, sehr gut sogar. Und diesmal stammte der fantastische Satz von Lama höchstpersönlich. Aber eins wusste ich: Amal aus dem Buch hatte mir geholfen. Vielleicht hatten sich zwei ihrer Sätze verknallt und einen neuen produziert. Ein Satzbaby. (S. 17)

Es sind diese charmanten Darstellungen des Einflusses von Literatur, die Karimés Roman überzeugend machen. Die Charakterisierung von Lama ist dabei kohärent: In anderen Romanen würde es vielleicht unglaubwürdig wirken, dass eine Elfjährige ‚produziert‘ statt ‚macht‘ benutzt. Doch Lama wurde bereits als sprachinteressiert eingeführt; sie schreibt gerne Tagebuch und lässt sich von ihrem Onkel Safran immer wieder für neue Wörter. Insgesamt besticht der Roman durch die eigene Sprache Lamas, die sich authentisch zwischen kindlicher Naivität und wachsender Reife bewegt. So fasst Lama ihre Recherche zu Keun folgendermaßen zusammen: "In ihren Büchern haben die Mädchen eine große Klappe und wollen berühmt werden. Aber das klappt nicht immer. Der fiese Hitler wollte das nicht haben, weil er fand, dass Mädchen lieb und blond sein sollten." (S. 50-51) Sie zieht daraus den Schluss: "Ich war stolz auf Lenes Erfinderin. Sie hat etwas gewagt. Sehr viel gewagt. Wie Lene. Ich werde das auch tun. Etwas wagen und so. Für Mama." (S. 51) Dass Karimé so gekonnt hypotaktische und parataktische Sätze zu verknüpfen weiß, macht den Text zu einer sprachlich anregenden Lektüre, in der der Charakter Lamas subtil herausgearbeitet wird. Dabei präsentiert die Autorin den Lesenden Wortschöpfungen, die dazu auffordern, die eigene Gedanken- und Gefühlswelt neu zu beschreiben, wie etwa das bereits erwähnte "Satzbaby", oder "Papavanille" (S. 13), was in Anlehnung an Lamas Lieblingsgeschmack eine gute Idee ihres Vaters bezeichnet. Ganz wichtig ist auch Lamas "Kopftopf", der immer dann "aufkocht" (S. 9), wenn sie etwas besonders fordert.

Ständige Begleiter Lamas sind Keuns Protagonistin, die später von dem Nachbarsjungen Laterne/Lex abgelöst wird, und ihr kleinerer Bruder Bali. Lama erzählt Bali kurze Gutenachtgeschichten, in die sie die Geschichte ihrer Mutter, Lenes und ihrer selbst gleichermaßen verwebt. In diesen Fortsetzungsgeschichten ist ein altes Lama Protagonist. Es wird von jungen Lamas "Faulfell" genannt, da es nicht mehr arbeiten kann. Die Fortsetzungsgeschichten bilden zunächst poetische Reflexionen des jeweiligen Kapitels. Als das Lama von zwei Kindern und ihrer Mutter, die sich selbst sucht, eine Perlenkette bekommt, wird der gesamte Roman reflektiert:

Von nun an glänzte das Lama, das berühmt werden wollte, und fühlte sich prächtig warm. Die jungen Lamas vergaßen vor lauter Staunen, ‘Faulfell‘, zu ihm zu sagen. Das Lama lief stolz an allen vorbei. Überall, wo es nun vorbeikam, gab es nun ein bisschen Lamaglanz. (S. 118)

Eine dritte Metaebene neben den intertextuellen Bezügen und der Fortsetzungsgeschichte sind kurze Inhaltsankündigungen zu Beginn der Kapitel, z. B. im dritten Kapitel: "In dem ich ein Lügenlama werde und sich zwei Sätze in meinem Kopftopf ineinander verknallen." (S. 16)

Besonders anregend ist neben Lamas Darstellung von Keuns Roman und Biographie die abschließende biographische Notiz, in der Karimé noch einmal das Leben der Autorin darstellt. Karimé differenziert damit die kindlich anmutende Darstellung Keuns durch Lama. Gleichzeitig kontextualisiert sie den Roman Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften breiter. Damit bietet sie den Lesenden auch eine Entscheidungshilfe an: Neugierig Gewordene können nun für sich entscheiden, ob sie auch Keuns Roman lesen möchten.

Fazit 

Je nach Leseerfahrung könnte die aus Keuns Buch entwachsene Figur Lene herausfordernd sein: Sie bleibt zu schemenhaft, als dass sie tatsächlich als imaginäre Freundin zu verstehen wäre, ist aber gleichzeitig in Lamas Welt zu präsent, als dass sie als Hirngespinst abgetan werden könnte. Insgesamt fordert die sprachliche, strukturelle und inhaltliche Vielschichtigkeit des Romans die Lesenden heraus, spricht aber gerade deswegen verschiedene Lesekompetenz- und Altersstufen zwischen 10 und 14 Jahren an.

Titel: Sterne im Kopf und ein unglaublicher Plan
Autor/-in:
  • Name: Karimé, Andrea
Illustrator/-in:
  • Name: Schautz, Irmela
Erscheinungsort: Wuppertal
Erscheinungsjahr: 2021
Verlag: Peter Hammer Verlag
ISBN-13: 978-3-7795-0651-5
Seitenzahl: 128
Preis: 15,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 10 Jahre
Karimé, Andrea: Sterne im Kopf und ein unglaublicher Plan