Die Grundperspektive liefert die dem Netzwerk eigene Definition literarischer Mehrsprachigkeit, die diese nicht mit der bloßen Existenz von mehrsprachigen Konstruktionen in der Literatur gleichsetzt, sondern gezielt nach dem translingual (und transmodal) erzeugten Mehr an Bedeutung fragt, das durch die bewusst mehrsprachige Komposition des literarischen Textes entsteht und sich in einer scheinbar rein monolingualen Konstruktion so nicht ergibt. Literarische Mehrsprachigkeit greift aus dieser Perspektive heraus – wie Literatur überhaupt – den Grundgedanken der Poetizität der dichterischen Sprache (Jakobson 2016; Kilchmann 2024) auf und erweitert diese im Zuge einer (durch sprachliche Begegnungen jeglicher Art) entstandenen Translingualität sowie Liminalität, wobei eine Vervielfachung der Sinn- und Deutungsmöglichkeiten entsteht.  

Dieses Verständnis von literarischer Mehrsprachigkeit ist insofern bedeutsam, als es innerhalb des facettenreichen Feldes der vielfältigen Konstellationen im Umgang mit und dem Einsatz von Mehrsprachigkeit in literarischen Texten den Blick auf die mehrsprachig erzeugte Ästhetik lenkt. Dies ist mit Blick auf narrative Verfahren und poetische Gestaltungsmittel (u.a. Sprachspiel, Sprachwechsel, Sprachmischung, Metaphorik, Humor) u.E. für die gattungs- und jahrhundertübergreifende Erforschung des Phänomens von daher von Bedeutung, da durch den Fokus auf Poetik und Ästhetik die komplexen Wirkungsweisen und die semantischen Potenziale des Textes umfassender erschlossen werden können.

Für die Didaktik literarischer Mehrsprachigkeit wiederum ergibt sich daraus die Relevanz, diese im Kontext ästhetischer Bildung und Erziehung (bspw. Dietrich et al. 2013) zu berücksichtigen (– wobei der Erziehungsbegriff Prozesse der Vermittlung fokussiert, während der Bildungsbegriff den Fokus auf das sich bildende Subjekt und die eigene Aktivität und Leistung des Individuums legt). Aus dieser Perspektive heraus und mit Blick auf die Komponenten ästhetischer Bildung und Erziehung (z. B. das sog. FASS-Schema, vgl. Dietrich et al. 2023) gilt es, Prozesse der Didaktisierung literarischer Mehrsprachigkeit zu konkretisieren und zu modellieren (Hodaie 2025, i. Dr.). Darüber hinaus kann durch die bisher im Unterricht noch vernachlässigter Erschließung von literarischer Mehrsprachigkeit als narrativem Verfahren durch die gezielte Analyse erzählerischer Elemente wie Figurenrede oder Erzählerrede ein tieferes Verständnis der Verbindung von Form und Inhalt gefördert werden, dem zugleich eine politische Dimension inhärent ist. Denn durch den Fokus auf die multilinguale Ästhetik literarischer Texte, die in allen literaturgeschichtlichen Epochen eine erhebliche Rolle spielt, kann implizit das nationalphilologische Konstrukt einer einsprachigen (‘muttersprachlichen’) Literatur dekonstruiert werden.

Vor diesem Hintergrund interessiert sich die Tagung für poetologische und ästhetische Perspektiven auf literarisch-mehrsprachige Texte. Gefragt wird nach der besonderen „Machart“ einschlägiger Texte und, damit verbunden, der besonderen Art und Weise der Entfaltung des o.g. translingualen ästhetischen Moments. Aus einer didaktischen Perspektive wiederum werden konkrete Prozesse und Maßnahmen für die Beschäftigung mit literarischer Mehrsprachigkeit als Gegenstand des Literaturunterrichts adressiert. Berücksichtigt werden zum einen die Ebene der (didaktischen) Vermittlung und zum anderen die Ebene der (subjektbezogenen) Rezeption, wobei sowohl theoretische als auch empirische Perspektiven von Relevanz sind. Im Zentrum stehen somit folgende Fragen/Aspekte:

Literaturwissenschaftliche Perspektiven: Poetik und Ästhetik

  • Wie wird literarische Mehrsprachigkeit in ausgewählten literarischen Texten, die bislang im Diskurs weniger beachtet wurden, gestaltet?
  • Welche besonderen Verfahren der literarischen Mehrsprachigkeit , z.B. eine Ästhetik des (Nicht-)Verstehens, der Entautomatisierung oder der Translingualität etc., finden sich in literarischen Texten ?
  • Welche literaturtheoretischen und kulturwissenschaftlichen Ansätze ermöglichen neue Analysen zur literarischen Mehrsprachigkeit?
  • Finden sich weitere literaturhistorische Variationen literarischer Mehrsprachigkeit?
  • Gibt es gattungsspezifische Besonderheiten literarischer Mehrsprachigkeit, wie z.B. Modalitäten?
  • usw.

Literaturdidaktische Perspektiven: Rezeption und Vermittlung

  • Welche für literarische Mehrsprachigkeit spezifischen Rezeptionsprozesse lassen sich rekonstruieren und welche literatur- und sprachdidaktischen Potentiale lassen sich hiervon ableiten?
  • Welche literarisch-mehrsprachigen Texte der (Kinder- und Jugend)Literatur bieten sich an im Hinblick auf kritisch-reflexive Lernprozesse, ästhetische Bildung, literaturanalytische Fähigkeiten, literarisch-sprachliche Bewusstheit etc. (und welche warum nicht)?
  • Wie kann die Untersuchung poetisch inszenierter literarischer Mehrsprachigkeit in die einzelnen narratologischen Elemente (Figurenanalyse, Erzählverhalten, Erzählperspektive etc.) im Literaturunterricht integriert werden?
  • Welche neuen Impulse bietet das Konzept der literarischen Mehrsprachigkeit für das Spannungsfeld zwischen Lese- und Literaturdidaktik?
  • Welche Modelle (z.B. FASS-Schema) ästhetischen Lernens können als Basis für eine Untersuchung des ästhetischen Verstehens bzw. Nicht-Verstehens genutzt werden und wie sähe eine konkrete Didaktisierung anhand dieser Modelle aus?
  • usw.

Willkommen sind sowohl germanistische Beiträge als auch solche, die sich mit Fokus auf andere Philologien mit dem Tagungsgegenstand beschäftigen. Die Tagung ist als eine transphilologische Tagung konzipiert. Transphilologisch meint hier, Philologien über nationalphilologische Grenzsetzungen hinaus zu denken und sich als sich überschneidend, einander bedingend und fluid zu verstehen. Zugleich können hier aber auch Überschneidungen zu anderen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft oder der Philosophie relevant werden.


Bitte senden Sie Ihre Beitragsvorschläge (maximal 300 Wörter) mit kurzen biografischen Angaben und Ihren Kontaktdaten bis zum 30.11.2025 an
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.. Die Tagung wird durch das aktuell laufende COST-Projekt CA24137 MultiLiLiTrans (Literary multilingualism and social transformations in superdiverse societies) unterstützt, das die literarische Mehrsprachigkeit als ein interdisziplinäres Netzwerk zwischen Wissenschaft (Literaturwissenschaft, vergleichende Literaturwissenschaft, Übersetzungswissenschaft, Film- und Theaterwissenschaft) und Praktiken im Bildungswesen versteht.

Die Tagung findet vom 26. bis 27.06.26 am Institut für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität Frankfurt/Main statt. Eine Tagungspublikation mit ausgewählten Beiträgen ist geplant. Weitere Informationen entnehmen Sie bitte der Homepage des Netzwerkes


Tagungsleitung:
Dr. Martina Kofer (Universität Potsdam)
Dr. Ute Filsinger (PH Karlsruhe)
Prof. Dr. Nazli Hodaie (PH Schwäbisch-Gmünd)
Dr. Astrid Henning-Mohr (Universität Frankfurt/Main)
Laura Kiefer (Universität Paderborn)

[Quelle: Pressemitteilung]