Die Autorin Kirsten Boie erhält für ihr Buch Heul doch nicht, du lebst ja noch den mit 8.000 Euro dotierten Friedrich-Gerstäcker-Preis für Jugendliteratur der Stadt Braunschweig. In dem 2022 im Oetinger Verlag erschienenen Roman erzählt Kirsten Boie die Geschichte einer Gruppe Jugendlicher im Juni 1945, die sich im in Trümmern liegenden Hamburg neu orientieren, nachdem sie alle auf unterschiedliche Weise die Kriegsjahre erlebt haben. Schuld, Wahrheit, Angst und Wut sind die zentralen Themen dieses Buchs, dessen Hauptfiguren durch die Schrecken des Krieges und der Naziherrschaft miteinander verbunden sind.

1947 von der Stadt Braunschweig gestiftet, erinnert der Friedrich-Gerstäcker-Preis für Jugendliteratur an den Weltreisenden und Abenteuer-Romancier Friedrich Gerstäcker, der seine Jugend und seine letzten Lebensjahre in Braunschweig verbrachte. Der älteste deutsche Jugendbuchpreis wird in diesem Jahr zum 34. Mal verliehen. Im zweijährigen Turnus wird ein Buch ausgezeichnet, das Jugendlichen das Abenteuer der Begegnung mit fremden Welten fantasievoll vor Augen führt und dabei die Gedanken der Toleranz und Weltoffenheit in sprachlich anspruchsvoller Form näherbringt. Den Preis erhielt zuletzt Susan Kreller und zuvor u. a. Julya Rabinowich, Dirk Reinhardt, Anna Kuschnarowa, Martin Grzimek, Anja Tuckermann, Iva Procházková und Christa-Maria Zimmermann.

Mitglieder in der Preisjury waren Udo von Alten (Friedrich-Bödecker-Kreis e. V.), Dr. Annette Boldt-Stülzebach (Stadt Braunschweig, Fachbereich Kultur und Wissenschaft), Anke Märk-Bürmann (Akademie für Leseförderung Niedersachsen), Jacob Radel (Stadtbibliothek Braunschweig), Thomas Ostwald (Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft), Prof. Dr. Jan Standke (TU Braunschweig – Inst. für Germanistik), Heike Ullmann (Buchhandel), sowie mit doppeltem Stimmanteil eine Jugendjury, der Elska Dorge, Lena Meindermann, Torben Polensky und Hannah Schäfer angehört haben.

Die Begründung der Preisjury für das Votum lautet:

Das zerstörte Hamburg im Juni 1945 ist der Ort, an dem Jakob (der sich Friedrich nennt), Traute und Herrmann in den realen Ruinen, aber auch den zerstörten Landschaften ihrer Zukunfts- und Weltbilder im Kopf nach Perspektiven suchen.

Kirsten Boie ist es mit ihrem neuesten Roman gelungen, ein Thema der jüngeren deutschen Geschichte aus den wechselnden Perspektiven von den drei jugendlichen Protagonisten auf prägnant eindringliche, emotional berührende, abwägende, historisch fundierte und niemals überzogene Art darzustellen: das (Über-)Leben und die Neuorientierung Jugendlicher mit unterschiedlichem Herkommen in sechs Tagen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Die ersten Schritte dieser drei jungen Menschen in eine Trümmerlandschaft und in einen Frieden, der noch keine Zukunft erkennen lässt, verfolgen die Lesenden aus den anfangs noch getrennten, sich aber im Laufe der Erzählung immer mehr miteinander verwebenden Perspektiven von Jakob, Traute und Herrmann.

In klaren kurzen Sätzen bringt die Autorin die Hauptfiguren den Lesenden näher, lässt sie deren Wahrnehmung des Kriegsendes in der zerstörten Stadt Hamburg erleben. Durch die Augen von Jakob, der sich als Jude in den Ruinen versteckt hielt, wird sichtbar, wie schwierig das Erleben der ersten sogenannten Friedenstage ist. Das Bewusstsein des Endes der existentiellen Bedrohung durch Bomben und Verfolgung gibt bei Jakob nur langsam der Hoffnung auf etwas Neues Raum, zu schwer wiegen der Tod des Vaters und die Deportation der Mutter nach Theresienstadt. Und während Traute sehnlichst Anschluss an die kleine Fußball spielende Gruppe der Jungs um Hermann, für den Mädchen nichts in der Mannschaft zu suchen haben, herbeisehnt und ihre Einsamkeit überwinden möchte, muss Hermann, noch vor kurzem in der Hitler-Jugend, seine nationalsozialistisch geprägten Anschauungsweisen neu definieren und er sieht seine Zukunft an die seines beinamputierten, herrischen Vaters gefesselt.

So unterschiedlich die Herkunft und die Familienverhältnisse der Jugendlichen auch sind, gemeinsam erleben sie die Trümmerwelt, in der Hunger, Obdachlosigkeit, Schwarzmarkt, Verlust geliebter Menschen und zerbrochene Weltbilder den Hintergrund für die aufkeimende Sehnsucht nach Normalität und Zukunft bilden.

Stilistisch und im Aufbau der Geschichte klar und stringent, ohne reißerische Effekte und empathisch immer dicht an ihren Figuren, vermittelt Kisten Boie ein eindringliches Bild einer Zeit, die mit den kriegsbedingten Ängsten, dem Ringen um Wahrheit, Schuld und Hoffnung eine erschreckend aktuelle Szenerie vor Augen führt, die auch zeigt, wie schwer es ist, sich aus den Verblendungszusammenhängen von Ideologie, Falschinformation und Lüge zu lösen. Gleichzeitig erlaubt die Geschichte den Lesenden in dem Zusammenfinden der Jugendlichen und deren kleinen Momenten der Hoffnung auf eine eigene Zukunft den Blick auf einen möglichen Neubeginn.

Die von Empathie und Sensibilität getragene Beobachtungsgabe von Kirsten Boie, die sprachliche Qualität und die sensibel gestaltete Perspektive auf Hoffnung und Zukunft nach kriegsbedingter Zerstörung machen den Roman „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ zu einem wichtigen Beitrag zur aktuellen Jugendliteratur.

Kirsten Boie wurde 1950 in Hamburg geboren. Von ihr sind bis heute rund 100 Bücher erschienen und in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Neben Kinder- und Jugendbüchern schreibt die Autorin auch Vorträge und Aufsätze zu verschiedenen Aspekten der Kinder- und Jugendliteratur und der Leseförderung. 2007 wurde sie für ihr Gesamtwerk mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet.

Im Oktober 2011 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. 2015 gründet sie die Möwenweg-Stiftung, um Kindern in Eswatini (ehem. Swasiland) zu helfen. Seit 2019 ist Kirsten Boie Ehrenbürgerin von Hamburg.

[Quelle: Pressemitteilung]