Inhalt

Das Stück arm sein beginnt unmittelbar und direkt, ohne Regie- oder Szenenanweisungen, ohne Angaben zum Personal. Szene I führt auf ein Krankenhausdach. 

B
und dann geht die sonne auf hier oben zuerst das krankenhausdach mein lieblingsplatz mein abgrund mit aussicht die wirkung setzt ein und das hämmern in meinem kopf lässt nach

Einige Zeilen später fragt 

C
und was passiert dann

und A mutmaßt

vielleicht eine liebesgeschichte 

oder, so B 

vielleicht ein amoklauf. (Mansmann 2024, S. 2) 

Mit diesem in viele Richtungen weisenden Einstieg und alle drei direkt eingeführten Figuren beginnt Nora Mansmann ihr Stück arm sein. Die Szene ist überschrieben mit prolog, amok. und sie eröffnet das weite Spannungsfeld dieses Stückes. Die drei handelnden Figuren haben keine Namen. Sie werden mit A, B, C anonymisiert benannt, beschreiben sich aber schnell mit ihren individuellen Merkmalen. Das Gerüst dieses Dramas ist damit etabliert: A, die Jugendliche ("ich so 100% jugendarbeitslosigkeit", Mansmann 2024, S. 14), würde zu gerne zur (Konsum?)Gesellschaft dazugehören:

A
und hinter mir schaufenster bildschirme touch screens
ich möchte auch mal berührt werden
ich möchte auch dieses shirts diese phones diese spielekonsolen
oh diese menschen auf diesen bildschirmen
so schön so gut so teuer so will ich auch sein. (Mansmann 2024, S. 10)

Mit einer gänzlich anderen Haltung, im ähnlichen Alter von A, stellt sich B dem Leben. Der ehemalige Student sieht sich als Schriftsteller ("Ich schreibe ein Buch" Mansmann 2024, S. 13) und am Rande der Gesellschaft stehend:

B
ich beobachte nur
ich hab den überblick
ich seh wie sie alle nicht klar kommen
ich hab kein mitleid
was armut ist und was nicht definiert sich durch deine haltung dazu. (Mansmann 2024, S. 3)

Und schließlich die Figur C, Mutter von A, die als Krankenschwester berufstätig ist: 

morgens halb sechs noch müde von nachtschicht in dienstzimmer endlich kaffeepause nur fünf minuten für mich alleine am fenster ne zigarette. (Mansmann 2024, S. 3)

Das Stück ist in insgesamt 19 Szenen aufgebaut. Diese sind teils kurze, halbseitige Dialoge, teils längere Konversationen aller drei Figuren oder Monologpassagen, die offen lassen, von welcher Figur sie gesprochen werden können. Ein wichtiges Stilmittel sind die sich regelmäßig wiederholenden Textpassagen. Auf dieses Stilmittel gehe ich später näher ein. Der inhaltliche Bogen spannt sich zwischen "vielleicht eine liebesgeschichte" und "vielleicht ein amoklauf" (Mansmann 2024, S. 2) und thematisiert das Leben dreier unterschiedlicher Menschen in einer von Kapital und Warenwelt bestimmten Ökonomie und Gesellschaft. Den Hintergrund bildet die sich zunehmend von Einkaufpassagen dominierte Großstadt, die wenig Raum für Individualität und Individuen lässt. Insbesondere C, die alleinerziehende Mutter beobachtet diese Entwicklung und weitet ihre Gesellschaftskritik aus, bis hin zum Gesundheitssystem mit ihrem unzureichenden Verdienst als Krankenschwester. Dass auch diese Verhältnisse Auswirkungen auf ihre Beziehung zur Tochter hat, wird in einer Szene kurz angesprochen.

Die losen miteinander verknüpften Szenen – man könnte sich auch Umstellungen vorstellen – werden mit prägnanten Kapitelüberschriften eingeleitet und geben die jeweilige inhaltliche Richtung vor. Drei Beispiele:

VIII. arbeiten

B
mitte des monats geld ist schon wieder alle und ich so auf jobsuche fuck fuck mit dem bus mit den anderen zombies mit ihren smartphones steig aus am busbahnhof es regnet natürlich ich werde nass und stinke.. (Mansmann 2024, S. 16). 

IX. was ist das für eine stadt

C
die stadt hat sich verändert in der letzten zeit
die überflüssigen werden mehr
penner und bettler und obdachlose
auf der straße im park in den hauseingängen 
[…]
die stadt verfault sie stirbt uns unter den händen weg
aber nach außen strahlt die wellness aus (Mansmann 2024, S. 19)

XVI. mit vergnügen

A
wir sitzen im café und schweigen uns an ein komischer typ
es scheint was vorzugehen in seinem kopf hinter seiner stirn nur er teil es nicht mit
ich werde unruhig wir gehen auf’s dach
da wird es besser
[…]
ich möchte dabei sein. (Mansmann 2024, S. 33)

Die Figuren fühlen sich vom Leben gefordert und überfordert. A versucht sich mit Träumereien von einem besseren Leben, B beobachtet dieses aus der Randperspektive und C versucht durch die Arbeit ihrer Rolle gerecht zu werden. Erschöpfung macht sich breit in dem Spannungsfeld zwischen Liebesgeschichte und Amok. "es wäre doch schön mal ruhe zu haben endlich ruhe oder nicht." (Mansmann 2024, S. 40) spricht C stellvertretend für alle den letzten Satz des Stückes, das damit zwar ein formales Ende gefunden hat aber bewußt offen bleiben soll. So offen, wie das Leben, das immer weitergeht.

Kritik

In der Begründung zum Kathrin-Türks-Preis 2024 für das Stück arm sein hebt die Jury Folgendes besonders hervor:

"In dem Drei-Personen Stück sind unterschiedliche Konfliktpotentiale und Beziehungsebenen zu finden. Der Autorin ist es zum einen gelungen, auf einfühlsame Weise eine mit vielen Schwierigkeiten behaftete Mutter-Tochterbeziehung zu beschreiben. Zum anderen wird das Leben zweier Jugendlicher auf ihren unterschiedlichen Wegen der Selbstfindung textlich dargestellt. […] Das Stück bietet für die Bühne vielfache Deutungsmöglichkeiten. Nur vordergründig scheint es ein an der Realität orientiertes Problemstück zu sein. […] Die Jury erkennt in dem Stück relevante Fragen, die an Lebenswelten sowohl junger als auch erwachsener Menschen heute gestellt werden können. Welchen Platz können Menschen in einer Gesellschaft finden, die ihnen teils dystopisch, teils hoffnungsvoll begegnet, die mit ihrer glitzernden Konsumwelt lockt und ihren kapitalistischen Anforderungen ernüchtert?"

Der eine zentrale Schauplatz des Stückes, das Hochhausdach, und das Thema der angedeuteten Möglichkeiten einer Selbsttötung durch den Sprung in die Tiefe ist im Theater für junges Publikum kein neuer Topos. Zu einem der meistgespielten Stücke zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde norway.today von Igor Bauersima. In diesem finden sich zwei gleichgesinnte, lebensmüde Jugendliche im Internet und verabreden sich im Chatroom zum gemeinsamen Sprung von einem norwegischen Fjordfelsen. Nick Hornbys Erfolgsroman A long Way Down (2005), der in der Silvesternacht mit vier Jugendlichen, sie sich umbringen wollen, auf einem Hochhausdach beginnt, liegt inzwischen als Theaterstück vor und wurde mehrfach inszeniert. Auch in dem Stück Titus (2006) von Jan Sobrie sucht ein Jugendlicher ein Hochhausdach auf um – letztendlich nicht – herunterzuspringen.

Ähnlich wie in diesen genannten Stücken dient das Setting des Hochhausdachs auch bei Nora Mansmann als Spielort für die ambivalenten Lebensgefühle der Jugendlichen, "mein Abgrund mit Aussicht". (Mansmann 2024, S. 2)

A
oder vielleicht spring ich doch
B
nein
hör mal baby das hier ist mein lieblingsplatz das wäre voll scheiße wenn du springst
A
ok
weil du es bist
mach ich es nicht
wenn ich bleiben darf
ich bin auch ganz still

ich seh die sterne so gerne wenn ich drauf bin

Die mehrfachen Andeuten einer möglichen Selbsttötung geben dem Stück eine gewisse Dramatik und Spannung, werden aber von den Figuren nie ernsthaft ins Kalkül gezogen. Die Autorin vermeidet das bewusst und überlässt es den Zuschauerinnen und Zuschauern, die stummen Hilfeschreie der Figuren zu hören. Ihr dient das Bild des Hochhauses als Metapher sowohl für die Gefährdungen des Lebens als auch für den Ausblick, den weiten Blick, bis hinauf in den Sternenhimmel. Die Bedrohlichkeit des Spielorts erhält einen romantischen Aspekt.

A
du musst dich nicht umbringen
du musst nur deine perspektive ändern (Mansmann 2024, S. 13)

Der Aufbau des Stückes mit seinen lose zusammengehängten 19 Szenen erinnert an das musikalische Gestaltungsprinzip der Sonatensatzform. Insbesondere die Exposition eines Satzes, bei Mansmann der Anfang einer Szene, wird in späteren Szenen teils mehrfach wiederholt und im Motiv variiert. Heißt es in Szene II. panorama "Die Welt hat sich verändert in der letzten Zeit ich komm nicht mehr klar." (Mansmann 2024, S. 4) wird das Motiv der Stadtbeschreibung mehrfach aufgegriffen, so in Szene V. outside "die stadt hat sich verändert in der letzten Zeit sie ist jetzt eine shopping mall in der ich ständig einkaufen soll." (Mansmann 2024, S. 10) Mit diesem Prinzip der variierenden Wiederholungen und Aufnahme von Themen ist das Stück auf interessant Weise durchkomponiert und rhythmisiert. Einen wesentlichen Beitrag zu dieser sich aufbauenden, rhythmisierten Dramaturgie leistet die Sprache. Sie ist, von der Autorin ohne Punkt und Komma, ohne Großschreibung wie in einem Fluss geschrieben, ein unablässiges Sprechen, ein „Verfertigen der Gedanken beim Reden“, ein niemals zu Ende gebrachtes Sprechen und Denken. Ähnlich wie in ihrem ersten Kinderstück fuchs und freund  bedient sich Nora Mansmann auch hier der Methode des Wechsels von chorischem Sprechen mit Dialog- und Monologszenen. 

Der kurze, prägnante Titel arm sein muss programmatisch gelesen werden. Nahezu durch alle Szenen zieht sich die Frage nach Armut und den damit verbundenen Beschränkungen am gesellschaftlichen Leben. Diese thematische Fixierung gibt dem Stück einen dystopischen Charakter, allerdings ohne dabei "die Würde der Figuren aufs Spiel zu setzen" (Jurybegründung). In der letzten Szene läßt die Autorin jenen Satz sagen, den sie bewusst keiner Figur zugeordnet hat, der wie ein Fazit des Stück verstanden werden kann:

Ich bin nicht arm
Ich hab nicht viel aber ich hab meine eigene welt meinen eigenen film
Ich bin so ein dings so ein füllhorn (Mansmann 2024, S. 39)

Fazit

Dem Stück gelingt es, thematisch nah an der Wirklichkeit zu sein, durch seine kunstvoll komponierte Dramaturgie und seine literarische Sprache aber weit darüber hinauszuweisen. Für das Publikum ergibt sich ein mehrfacher Erkenntnisgewinn durch die geäußerte Gesellschaftskritik als auch durch die empathische Beschreibung der Lebensverhältnisse der handelnden Figuren. Die Autorin versteht ihr zweites Stück für jugendliches Publikum bewußt als eine offene dramatische Vorlage, die den produzierenden Ensembles viel Raum für eigene Phantasien lassen soll.

Literatur

Mansmann, Nora: fuchs und freund. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 2016. (UA: Theater Junge Generation, 16.1.2016)

Mansmann, Nora: fuchs und freund. In: Spielplatz 30, Fünf Debüts fürs Kindertheater von Marc Becker, Sigrid Behrens, Finn-Ole Heinrich, Nora Mansmann und Roland Schimmelpfennig, herausgegeben von Henning Fangauf und Thomas Maagh. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 2017.

Mansmann, Nora: arm sein. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 2024. (UA: Burghofbühne Dinslaken, 18.1.2025)

Fangauf, Henning und Nikola Schellmann: Jurybegründung Kathrin-Türks-Preis 2024, Dinslaken 2024 (unveröffentlichtes Manuskript)

Information zur Autorin: www.nora-mansmann.de

Abbildung

Porträtfoto Nora Mansmann, Foto: Tessi d‘Avila Gomes

Titel: arm sein
Autor/-in:
  • Name: Mansmann, Nora
Uraufführung: Burghofbühne Dinslaken, 18.01.2025
Erscheinungsort: Frankfurt am Main
Erscheinungsjahr: 2024
Verlag: Verlag der Autoren
Altersempfehlung Redaktion: 12 Jahre
Mansmann, Nora: arm sein