1. Entstehung und Rezeption
  2. Zur Deutung der Hauptfiguren
  3. Fantastiktheoretische Dimensionen
  4. Sozialgeschichtlicher und politischer Hintergrund
  5. Illustrationen
  6. Intertextuelles Spiel
  7. Das Sams auf der Bühne
  8. Das Sams in Hörspiel, Hörbuch und Film
  9. Sprache, Komik und Lyrik
  10. Übersetzungen
  11. Das Sams in der Schule
  12. Literatur und Wirklichkeit

Zaghafte Grüße

Paul Maar ist ein ebenso begeisterter Leser wie Autor und er bringt beide Rollen in einen logischen Zusammenhang: „Wäre es nicht verwunderlich, wenn diese Erfahrungen, die der Leser Maar fast täglich macht, nicht auf den Autor Maar einwirkten und ihn dazu drängten, die von ihm verehrten Schriftsteller wenigstens zaghaft zu grüßen, sie zu zitieren, mit Motiven und Figuren aus ihren Werken zu spielen?“ (Maar 2007, 172)

Was hier beschrieben wird, ist das Phänomen der Intertextualität, Literatur verweist auf Literatur, sie spielt mit Zitaten, Motiven und Figuren aus weiteren Texten und Medien (vgl. einführend Berndt/Tonger-Erk 2013; zur Intertextualität in der Kinder- und Jugendliteratur vgl. Wicke 2014). Immer wieder versucht die Literaturtheorie, Bilder für solche literarischen Querverweise zu finden, Gérard Genette etwa spricht von einem Palimpsest, „auf dem man auf dem gleichen Pergament einen Text über einem anderen stehen sieht, den er nicht gänzlich überdeckt, sondern durchscheinen läßt“ (Genette 1993, 532). Paul Maar hingegen findet ein Bild, das darüber hinaus den dialogischen Charakter intertextueller Literatur hervorhebt: „Je mehr man liest, desto mehr glaubt man sich dabei in einer vertrauten Runde zu befinden, wo jeder jeden kennt und sich nicht scheut, dem anderen bei passender Gelegenheit zitierend seine Reverenz zu erweisen“ (Maar 2007, 172).

Im Werk Paul Maars finden sich unzählige solcher Bezüge, mal sind sie punktuell, mal prägen sie das gesamte Werk (vgl. Mikota/Pecher 2017). Bereits in seiner ersten Publikation, Der tätowierte Hund aus dem Jahr 1968, wird das Märchen vom bösen Hänsel, der bösen Gretel und der Hexe erzählt und die bekannte Geschichte dabei neu perspektiviert. Philipp aus Lippels Traum liest begeistert in den Erzählungen aus 1001 Nacht (vgl. Wild 2016; Budde 2017) und in den Herr Bello-Romanen finden sich mannigfache Anspielungen auf weitere prominente Hunde der Literaturgeschichte (vgl. Wicke 2017).

Deutlich sind auch die literarischen Vorbilder in Maars palimpsestuösen Theaterstücken markiert: F.A.u.s.T. (vgl. Wicke 2021), Peer und Gynt oder Der eingebildet kranke Kröterich verweisen schon im Titel auf die entsprechenden Dramen Goethes, Ibsens und Molières (vgl. Lange 2016). „Man darf Paul Maar“, so würdigt ihn der Literaturwissenschaftler Hans-Heino Ewers (2021, 77), „uneingeschränkt als den gegenwärtig gelehrtesten, belesensten und kunstsinnigsten Kinder- und Jugendschriftsteller deutscher Sprache bezeichnen“.

Intertextuelle Bezüge im ersten Band

Auch in den Geschichten vom Sams findet sich eine Vielzahl intertextueller Anspielungen, wenngleich sie in Eine Woche voller Samstage noch eher zurückhaltend eingesetzt werden (vgl. Wicke 2016, 168f.). Als Studienrat Groll sich weigert, den Namen des Sams zu erraten, sagt er: „Wir spielen hier doch nicht Rumpelstilzchen“ (Maar 1973, 20). Solche Anspielungen können dazu dienen, die intertextuell verbundenen Figuren zu vergleichen und genauer zu charakterisieren. Gerade im Kinderbuch wird jedoch durch Intertextualität vor allem eine komische Wirkung erzielt (vgl. O’Sullivan 2000, 80), etwa im Bereich von Parodien. In jenem Schlaflied, das das Sams singt – notabene, um Herrn Taschenbier damit zu wecken –, entsteht die Komik beispielsweise dadurch, dass das Sams in seiner Parodie der bekannten Vorlage aus Des Knaben Wunderhorn an die Stelle des „Träumelein“ ein „Zentnerschwein“ setzt:

Schlaf, Papa, schlaf!
Die Rotkohl ist ein Schaf.
Das Sams, das schüttelt’s Bäumelein,
Da fällt herab ein Zentnerschwein.
Schlaf, Papa, schlaf! (Maar 1973, 33).

Wenn das Sams anlässlich seines Schulbesuchs einen Vornamen braucht und ihm ‚Bruno‘ zu lang erscheint, entscheidet es sich für ‚Robinson‘ und schlägt damit eine intertextuelle Brücke, die auf sein insulares Dasein im Zimmer von Herrn Taschenbier verweist. Aber natürlich haben auch Daniel Defoes Figur Robinson Crusoe und Maars Herr Taschenbier eine Gemeinsamkeit, denn beide benennen ihre Freunde nach Wochentagen. Einer der intertextuellen Grüße des ersten Bandes geht darüber hinaus an den Schriftstellerkollegen Otfried Preußler: In Die kleine Hexe verzaubert die Titelfigur den neuen Revierförster, sodass er ungewollt freundlich reagieren muss: „Wie kommt es nur, dachte der Förster bestürzt, dass ich plötzlich das Gegenteil von dem gesagt habe, was ich sagen wollte? Er konnte nicht wissen, dass ihn die kleine Hexe verhext hatte“ (Preußler 1957, 36f.). Maar übernimmt diese Idee in Eine Woche voller Samstage und überträgt sie auf Herrn Taschenbiers Vermieterin, hier wird natürlich nicht gehext, sondern gewünscht: „Ich wünsche, dass Frau Rotkohl immer dann, wenn sie mit mir schimpfen will, genau das Gegenteil von dem sagt, was sie eigentlich sagen will“ (Maar 1973, 145).

 

Intertextuelles Spiel in den Folgebänden

Solche intertextuellen Brücken werden auch in den weiteren Teilen geschlagen: Im dritten Band wird beispielsweise auf Pippi Langstrumpf (Maar 1992, 26), im vierten auf den Bud Spencer-Film Sie nannten ihn Plattfuß (Maar 1996, 16) und im fünften auf Harry Potter angespielt. Als dieser Teil, Sams in Gefahr, 2002 in den Handel kommt, sind die ersten vier Harry Potter-Romane in Deutschland erschienen und der Erfolg der Serie ist bereits deutlich spürbar. Doch nicht nur auf dem deutschen Buchmarkt ist die Begeisterung für die Romane Joanne K. Rowlings groß, auch vor dem fiktiven Martin Taschenbier macht die Faszination für die Harry Potter-Bände nicht halt: „Martin blieb in seinem Zimmer und las ein Buch über einen Jungen, der zaubern konnte. Dabei hatte der gar kein Sams“ (Maar 2002, 45), heißt es bei Maar, ohne dass der Titel genannt wird, doch in der Illustration kann man auf dem Cover des Buchs, das Martin liest, Harry Potter zumindest schemenhaft erahnen. Wie konkret die Konkurrenz ist, belegt ein Blick in die Liste der meistverkauften Kinder- und Jugendbücher der Zeitschrift Focus: Im Juli 2002 beispielsweise ist Sams in Gefahr auf Platz 2, während die Plätze 1 und 3 von verschiedenen Harry Potter-Bänden belegt werden, im September desselben Jahres erklimmt das Sams dann zwar Platz 1, dafür nimmt Harry Potter die Plätze 3, 4, 7 und 10 ein.

Durchsucht man die Sams-Reihe weiter kursorisch auf intertextuelle Bezüge, so finden sich im sechsten Band Verweise auf Schneewittchen (Maar 2009, 116) und im siebten auf die Odyssee (Maar 2011, 178). Im neunten Band spielt Maar intertextuell mit eigenen Werken respektive Figuren, wenn er Onkel Florian (aus Onkel Florians fliegender Flohmarkt) und Tante Marga (aus Der Tag, an dem Tante Marga verschwand) in einem Sams-Roman auftreten lässt (Maar 2017a, 103). Im zehnten Band wird eine intertextuelle Brücke zur Nibelungen-Sage (Maar 2020, 73) sowie Jules Vernes Roman In achtzig Tagen um die Welt (Maar 2020, 185) geschlagen, außerdem spielen das Sams und der blaue Drache die Apfelschussszene aus Schillers Wilhelm Tell nach (Maar 2020, 51).

Sams Tell

aus: Das Sams und der blaue Drache (2020)
© Oetinger, Paul Maar

Im elften Band wird schließlich noch einmal jene Umdeutung des Weihnachtslieds Stille Nacht aufgegriffen, die das Sams bereits in Das Sams feiert Weihnachten gesungen hatte:

„Stille Nacht, Heilige Nacht.
Alles schläft.
Ein Sams wacht …“
(Maar 2022, 18, vgl. auch Maar 2017a, 144)

Das Sams als fremdes Kind

Neben diesen vereinzelten Bezügen gibt es jedoch auch Bände der Sams-Reihe, in denen intertextuelle Verweise eine ganz prominente Rolle spielen, vor allem der Roman Ein Sams für Martin Taschenbier ist hier zu nennen. Als Paul Maar im Jahr 2000 den E.T.A. Hoffmann-Preis der Stadt Bamberg verliehen bekommt, geht Günter Lange in seiner Laudatio auf die Beziehung zwischen den beiden Autoren ein. Im Vordergrund seiner Analyse stehen die Bezüge zu E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen Das fremde Kind. Lange ordnet das Sams in eine literarische Tradition von Genius-Gestalten ein: von Mignon bis Oskar Matzerath. In der Kinderliteratur lassen sich außerdem Figuren wie Peter Pan, Pippi Langstrumpf oder Momo nennen. Diesen ‚fremden Kindern‘ kann man bestimmte Eigenschaften zuschreiben, die auch auf das Sams zutreffen: Sie sind geschlechtslos, wollen nicht erwachsen werden und haben keine direkte Heimat oder Herkunft (vgl. Lange 2000, 14).

Auch das Sams betont gleich im ersten Band, dass es weder Mädchen noch Junge, sondern ein Sams sei. Und während Herr Taschenbier im Laufe der Geschichte heiratet, dann Vater und schließlich Großvater wird, macht das Sams keine entsprechende Entwicklung oder Alterung durch. Zu Beginn von Sams im Glück betont es noch einmal: „Ich will gar nicht wachsen“ und Frau Taschenbier ergänzt, es sei „[g]ewissermaßen ein ewiges Kind“ (Maar 2011, 10). Darüber hinaus lässt sich die Herkunftslosigkeit zumindest für die ersten Bände reklamieren, bis schließlich ab dem sechsten Band auch von der Samswelt erzählt wird. Zu den auffälligen Bezügen in Ein Sams für Martin Taschenbier hat sich Paul Maar selbst geäußert:

Ich komme aus Bamberg, aus der E.T.A.-Hoffmann-Stadt. Das Sams, bei seinem ersten Auftreten „das fremde Kind“ genannt, ist geschlechtslos wie Hoffmanns „fremdes Kind“, von dem Felix sagt, es ist ein Junge, und die Christlieb, es ist ein Mädchen. Die beiden Damen im Schullandheim heißen Frau Felix und Frau Christlieb; den Hund Berganza, einen denkenden, sprechenden Hund, gibt es, wie bei E.T.A. Hoffmann gibt es das Doppelgängermotiv. Und der Bus – das weiß nur ein Bamberger – fährt zum Schullandheim ausgerechnet am Schillerplatz ab, da steht nämlich das E.T.A.-Hoffmann-Haus. (Maar 2007, 202f.)

Fragt man nach der Funktion der Genius-Gestalt, so geht Lange von jenen Wirkungsweisen aus, die Hans-Heino Ewers den fremden Kindern insgesamt zuschreibt: „Sie wirken kraftspendend, belebend und begeisternd“ (Ewers 1985, 44) auf jene Menschen ein, zu denen sie kommen. Diese Wirkung überträgt Lange auch auf das Sams: „Das Sams findet in Herrn Taschenbier seinen ‚Vater‘ und wird im 4. Band für dessen Sohn Martin als Doppelgänger eine große Hilfe bei der Bewältigung seiner sozialen und psychischen Probleme“ (Lange 2000, 15). Reinhard Heinritz weist in einer Rezension im E.T.A. Hoffmann Jahrbuch auf eine weitere Analogie zwischen Hoffmanns Das fremde Kind und Maars Ein Sams für Martin Taschenbier hin:

In beiden Fällen steht das Phantasiewesen für das poetische Prinzip, von dem sich jede Generation beflügeln läßt: So wie Herr Brakel auf dem Sterbebett bekennt, das fremde Kind gekannt zu haben, so ist das Sams bei Paul Maar (im ersten Band der Serie) bei Herrn Taschenbier eingekehrt, um sich nun wieder bei seinem Sohn Martin einzufinden. (Heinritz 2000, 154)

Der Bezug zu Hoffmanns Kunstmärchen zieht sich durch die literaturwissenschaftliche Forschung zu Maars Romanen und wird etwa von Gudrun Schulz (2016), Gerrit Althüser (2017) und Eliza Pieciul-Karmińska (2019) aufgegriffen. Ewers stellt sich dieser Deutungslinie jedoch entgegen, in seinem Blick auf das erzählerische Œuvre von Paul Maar schreibt er: „Die Figur des Sams stellt in meinen Augen […] keine Wiederkehr des E.T.A Hoffmann’schen fremden Kindes dar. Wir haben es weder mit einer romantischen Kindheitsallegorie noch mit einer solchen der romantischen Phantasie zu tun“ (Ewers 2021, 84). Ewers sieht die ersten Bände stattdessen in der Tradition des Schwanks und erklärt – unter Berufung auf Bachtin – die Geburt des Sams aus dem Geiste des Karnevals. Allerdings nimmt er aus dieser Klassifizierung der Sams-Romane als „karnevaleske Schwankdichtung“ die „Martin Taschenbier-Folgen“ explizit aus, hier handele „es sich um moderne Kinderromane im Erich Kästner-Stil“ (Ewers 2023, 22).

Eine Entscheidung soll und kann hier nicht getroffen werden, es geht im geisteswissenschaftlichen Kontext schließlich nicht darum, die eine richtige Spur zu finden. Dass die verschiedenen Einflüsse in den unterschiedlichen Bänden mehr oder weniger Gewicht haben, ist unbestreitbar, dennoch lässt sich insgesamt nur schwer entscheiden, in welcher exklusiven Tradition die Texte jeweils stehen, vielmehr gibt es eine Vielzahl an Einflussfaktoren, Figuren und Motiven, aus denen Maar sich bedient. Das Raffinement besteht oftmals gerade darin, dass Maar unterschiedliche und scheinbar nicht zu vereinbarende Diskurse auf ganz eigene Weise vermischt, etwa wenn sozialgeschichtliche Bezüge zur Zeit der Studentenrevolution neben Allusionen auf die Literatur der Romantik stehen (vgl. Wicke 2016).

„Maar und die Märchen“

Auch wenn das Spektrum der alludierten Prätexte im Werk Paul Maars ausgesprochen breit ist – Kinder- und Erwachsenenliteratur, deutschsprachige Texte und Übersetzungen, klassische und moderne Werke, Lyrik, Epik, Dramatik und Film – gibt es doch zwei Konstanten: E.T.A. Hoffmann und die Brüder Grimm. Und besonders häufig sind es die Märchen, mit denen er auf unterschiedliche Weise spielt. Nikola Roßbach (2023, 350) hat folgende Formen des Umgangs mit Märchen im Werk Paul Maars herausgearbeitet: „1) Allusion, Zitat; 2) punktuelle Übernahme; 3) Variation, Parodie; 4) Kollage; 5) Adaption“. In seiner Antrittsvorlesung Maar und die Märchen, die er als Brüder Grimm-Professor an der Universität Kassel gehalten hat, weist er selbst auf den immensen Einfluss der Märchen für sein literarisches Œuvre hin: „In Vorbereitung auf diesen Vortrag habe ich mein Werk mit Blick auf das Märchen durchforstet. […] Ich hatte nicht geahnt, wie viele Anspielungen und Märchenvariationen ich da finden würde“ (Maar 2017b, 11f.).

Steht im vierten Band Hoffmanns Das fremde Kind als Prätext im Zentrum der Deutungen, so spielt der siebte Teil, Sams im Glück, bereits im Titel auf eines der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm an. Es ist jener Roman, in dem Sams-Regel 777 wirksam wird: „Ist das Sams bei den Samsen, bleibt sein Mensch ein Mensch. Ist das Sams beim Menschen, wird der Mensch ein Sams“ (Maar 2011, 193). Diese Wandlung setzt nach fünfzehn Jahren, fünfzehn Tagen und fünfzehn Stunden ein und führt dazu, dass nun Herr Taschenbier, später auch seine Frau und die Enkelin von Zeit zu Zeit eine rote Locke bekommen und dadurch samsige Züge annehmen.

Wollte man auch hier eine Spur zu E.T.A. Hoffmann wittern, so ließe sich auf dessen 1819 erschienene Erzählung Klein Zaches genannt Zinnober verweisen, wo die Titelfigur „mit der seltsamen geheimnisvollen Gabe“ beschenkt ist, „vermöge der alles, was in seiner Gegenwart irgend ein anderer Vortreffliches denkt, spricht oder tut, auf seine Rechnung“ kommt. „Dieser sonderbare Zauber“, so erläutert der Erzähler, „liegt in drei feuerfarbglänzenden Haaren, die sich über den Scheitel des Kleinen ziehen“ (Hoffmann 2009, 616f.). Während die rote Haarsträhne bei Hoffmann allerdings dazu führt, dass der Außenseiter zu einem beliebten und geachteten Teil „der Gesellschaft wohlgebildeter, verständiger, geistreicher Personen“ wird, bewirken die roten Haare in Sams im Glück das genaue Gegenteil. Sie führen beispielsweise dazu, dass Herr Taschenbier Papier isst, einen Linienbus kapert, nachts den Kühlschrank plündert, in eine Schokoladenfabrik einbricht oder auf einem Kamel so schnell durch die Stadt reitet, dass er von einer Radarkamera geblitzt wird – er seine bürgerliche Rolle also verlässt. Die entsprechenden Szenen sind maßgeblich für die komische Wirkung des Romans verantwortlich, treiben den einst so angepassten und schüchternen Herrn Taschenbier allerdings mehr und mehr ins Unglück. Dennoch vergleicht er sich mit der Titelfigur aus Grimms Märchen Hans im Glück:

Ich hatte eine Anstellung in der Schirmfabrik und ein festes Gehalt, ein trockenes Haus mit Dach, eine Maschine, die lief, wir hatten elektrischen Strom. Und vor allen Dingen: Wir hatten ein Sams. Jetzt habe ich nichts mehr. Es gibt allerdings einen großen Unterschied zwischen dem Märchen-Hans und mir. […] Der Märchen-Hans sitzt ohne alles da, ist völlig zufrieden und ruft: ‚So glücklich wie ich ist kein Mensch unter der Sonne.‘ […] Ich würde am liebsten rufen: So unglücklich wie ich ist kein Mensch unter der Sonne! (Maar 2011, 163)

Paul Maar scheint die Leserinnen und Leser mit dieser Anspielung erst einmal in die Irre zu führen, denn im Märchen geht es darum, dass das subjektive Glücksempfinden dem äußeren respektive materiellen Abstieg entgegengestellt ist, Ludwig Marcuse (1972, 42) hat Hans als „Erste[n] Philosoph[en] des Glücks“ bezeichnet. Bruno Taschenbier hingegen ist unglücklich darüber, dass ihm verschiedene Besitztümer abhandengekommen sind, und reagiert damit vorhersehbar.

Allerdings heißt Maars Roman auch nicht Herr Taschenbier im Glück, sondern Sams im Glück und dieser Bezug wird erst gegen Ende des Romans expliziert. Das Sams will endgültig in der Menschenwelt bleiben und erbittet vom Übersams eine Ausnahmeregelung, die ihm dies erlaubt, ohne dass die Menschen in seiner Umgebung zu Samsen mutieren. Die Analogie zum Märchen der Brüder Grimm ist letztlich nur aus der Perspektive des Übersams nachvollziehbar, das unter Verweis auf Sams-Regel 924 fragt: „Und du willst wirklich bei diesen eintönigen, langweiligen Menschen bleiben?“ (Maar 2011, 193) Wer also auf das Leben in der Samswelt verzichtet, ohne unzufrieden zu sein, der ist aus Sicht der anderen Samse nicht nur ein glückliches Sams, sondern im Sinne des Grimm’schen Märchens wirklich ein Sams im Glück.

„Was soll all das in einem Kinderbuch?“

In der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur – etwa in Texten Cornelia Funkes oder Andreas Steinhöfels – ist Intertextualität keine Seltenheit, dennoch dürfte Paul Maar zu den Pionieren im deutschsprachigen Bereich zählen. Mögliche Skepsis an diesem ästhetischen Verfahren in Texten für Kinder formuliert der Autor in dem eingangs zitierten Vortrag selbst: „Sie werden sich (und mich) nun sicherlich fragen: Was soll all das in einem Kinderbuch? Welches Kind wird auch nur einen Bruchteil der Zitate erkennen können!“ (Maar 2007, 177) Natürlich ist Intertextualität ein Phänomen, das erfahrene und kundige Leserinnen und Leser voraussetzt, Genette (1993, 534) spricht von einer „Literatur der ‚Belesenheit‘“. Maar weist zunächst darauf hin, dass er keinen Unterschied zwischen Literatur für Kinder und solcher für Erwachsene macht. „Und da Zitat und Montage ein wichtiges Stilmittel moderner Literatur sind, sollte dieses Mittel – falls Kinderliteratur wirklich Literatur ist – nicht nur erlaubt, sondern selbstverständlich sein“ (Maar 2007, 178). Wichtig ist ihm darüber hinaus eine doppelte Lesart, die Geschichte muss auch dann funktionieren, wenn die kindlichen Leserinnen und Leser die literarischen Anspielungen nicht verstehen.

Dennoch geht er davon aus, dass auch Kinder bestimmte Verweise erkennen können: „Nämlich immer dann, wenn in Kinderbüchern auf Gestalten und Themen aus dem Fundus der Kinderliteratur oder auf moderne Trivialmythen angespielt wird“ (Maar 2007, 178). Aber selbst wenn dem kindlichen Zielpublikum viele der intertextuellen Anspielungen entgehen, werden sie die Geschichte trotzdem verstehen, denn bei Paul Maars Sams-Romanen handelt es sich im besten Sinne um mehrfachcodierte oder mehrfachadressierte Literatur. In Meine Lieblingsautoren sind wie alte Freunde sagt er: „Außerdem denke ich beim Schreiben durchaus an den erwachsenen Mit- und Vorleser, stelle ihn mir recht belesen vor und möchte ihn nicht langweilen“ (Maar 2007, 178).

Literatur

  • Maar, Paul: Eine Woche voller Samstage. Hamburg: Oetinger 1973.
  • Maar, Paul: Neue Punkte für das Sams. Hamburg: Oetinger 1992.
  • Maar, Paul: Ein Sams für Martin Taschenbier. Hamburg: Oetinger 1996.
  • Maar, Paul: Sams in Gefahr. Hamburg: Oetinger 2002.
  • Maar, Paul: Onkel Alwin und das Sams. Hamburg: Oetinger 2009.
  • Maar, Paul: Sams im Glück. Hamburg: Oetinger 2011.
  • Maar, Paul: Das Sams feiert Weihnachten. Hamburg: Oetinger 2017a.
  • Maar, Paul: Das Sams und der blaue Drache. Hamburg: Oetinger 2020.
  • Maar, Paul: Das Sams und die große Weihnachtssuche. Hamburg: Oetinger 2022.
  • Maar, Paul: Vom Lesen und Schreiben. Reden und Aufsätze zur Kinderliteratur. Hamburg: Oetinger 2007.
  • Maar, Paul: Maar und die Märchen. Antrittsvorlesung als Brüder-Grimm-Professor an der Universität Kassel 2015. In: Paul Maar. Studien zum kinder- und jugendliterarischen Werk. Hg. v. Andreas Wicke und Nikola Roßbach. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017b. S. 11-31.
  • Althüser, Gerrit: Zwei fremde Kinder im Film. Vergleich eines Motivs in E.T. the Extra-Terrestrial (1982) und Das Sams (2001) im Unterricht. In: Paul Maar. Studien zum kinder- und jugendliterarischen Werk. Hg. von Andreas Wicke und Nikola Roßbach. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017. S. 213-226.
  • Berndt, Frauke und Lily Tonger-Erk: Intertextualität. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt 2013.
  • Budde, Jannica: Träume vom Morgenland und Begegnungen im Klassenzimmer. Fremdheitserfahrung zwischen Realismus und Fantastik in Paul Maars Lippels Traum. In: Paul Maar. Studien zum kinder- und jugendliterarischen Werk. Hg. v. Andreas Wicke und Nikola Roßbach. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017. S. 95-106.
  • Ewers, Hans-Heino: Kinder, die nicht erwachsen werden. Die Geniusgestalt des ewigen Kindes bei Goethe, Tieck, E.T.A. Hoffmann, J.M. Barrie, Ende und Nöstlinger. In: Kinderwelten. Kinder und Kindheit in der neueren Literatur. Hg. v. Freundeskreis des Instituts für Jugenbuchforschung Frankfurt. Weinheim/Basel: Beltz 1985. S. 42-70.
  • Ewers, Hans-Heino: Geschichtenerzähler und moderner Kinderliterat. Ein Blick auf das erzählerische Œuvre von Paul Maar. In: Vom Sprachmeertauchen und Wunschpunkterfinden. Beiträge zu kinderliterarischen Erzählwelten von Josef Guggenmos und Paul Maar. Hg. v. Gabriele von Glasenapp, Claudia Maria Pecher und Martin Anker. Baltmannsweiler: Schneider 2021. S. 77-96.
  • Ewers, Hans-Heino: Ein Nachhall der Lachkultur der Renaissance. Versuch über schwankhaft-karnevaleske Kinderliteratur. In: Was gibt es da noch zu lachen? Komik in Texten und Medien der Gegenwartskultur in literaturdidaktischer Perspektive. Hg. v. Nicola König und Jan Standke. Trier: WVT 2023. S. 13-26.
  • Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. v. Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993.
  • Heinritz, Reinhard: Paul Maar: Ein Sams für Martin Taschenbier. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 8 (2000). S. 154.
  • Hoffmann, E.T.A.: Nachtstücke. Klein Zaches, Prinzessin Brambilla. Werke 1816-1820. Hg. v. Hartmut Steinecke. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 2009.
  • Lange, Günter: Das Sams und das fremde Kind. In: Volkacher Bote (2000) 71. S. 12-17.
  • Lange, Günter: Der Theaterautor Paul Maar. In: Paul Maar. Bielefelder Poet in Residence 2015. Paderborner Kinderliteraturtage 2016. Hg. v. Petra Josting und Iris Kruse. München: kopaed 2016. S. 79-102.
  • Marcuse, Ludwig: Philosophie des Glücks. Von Hiob bis Freud. Zürich: Diogenes 1972.
  • Mikota, Jana/Pecher, Claudia Maria: „Wie die meisten Schriftsteller bin ich ein leidenschaftlicher Leser“. Intertextualität in Werken Paul Maars. In: Paul Maar. Studien zum kinder- und jugendliterarischen Werk. Hg. v. Andreas Wicke und Nikola Roßbach. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017. S. 49-68.
  • O’Sullivan, Emer: Kinderliterarische Komparatistik. Heidelberg: Winter 2000.
  • Pieciul-Karmińska, Eliza: Paul Maars Sams als das „fremde Kind“ in der polnischen Übersetzung. In: Übersetzungskritisches Handeln. Modelle und Fallstudien. Hg. v. Beate Sommerfeld, Karolina Kęsicka, Małgorzata Korycińska-Wegner und Anna Fimiak-Chwiłkowska. Frankfurt/Main: Peter Lang 2017. S. 85-98.
  • Preußler, Otfried: Die kleine Hexe. Stuttgart: Thienemann 1957.
  • Roßbach, Nikola: Paul Maar (geb. 1937). In: Handbuch Märchen. Hg. v. Lothar Bluhm und Stefan Neuhaus. BerlinJ.B. Metzler 2023. S. 349-351.
  • Schulz, Gudrun: Das Motiv des fremden Kindes oder Wie das Sams auf Entfremdung reagiert. In: Paul Maar. Bielefelder Poet in Residence 2015. Paderborner Kinderliteraturtage 2016. Hg. v. Petra Josting und Iris Kruse. München: kopaed 2016. S. 253-261.
  • Wicke, Andreas: Intertextualität. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Hg. v. Kurt Franz, Günter Lange und Franz-Josef Payrhuber. 52. Erg.-Lfg. Meitingen: Corian 2014. S. 1-24.
  • Wicke, Andreas: Zwischen RAF und Romantik. Paul Maars „Eine Woche voller Samstage“. In: Von „Bibi Blocksberg“ bis „TKKG“. Kinderhörspiele aus gesellschafts- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Hg. v. Oliver Emde, Lukas Möller und Andreas Wicke. Opladen/Berlin/Toronto: Budrich 2016. S. 161-174.
  • Wicke, Andreas: „Mönschsein ist gut“, sagte Herr Bello. „Aber Hundsein ist auch gut.“ Mensch-Tier-Perspektiven in Paul Maars Herr Bello-Trilogie. In: Paul Maar. Studien zum kinder- und jugendliterarischen Werk. Hg. v. Andreas Wicke und Nikola Roßbach. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017. S. 121-138.
  • Wicke, Andreas: F.A.u.s.T. und Faustinchen. Intertextualität und Gedächtnis in kindermedialen Faust-Adaptionen. In: Erinnerung reloaded? (Re-)Inszenierungen des kulturellen Gedächtnisses in Kinder- und Jugendmedien. Hg. v. Gabriele von Glasenapp, Andre Kagelmann und Ingrid Tomkowiak. Stuttgart: Metzler 2021. S. 3-15.
  • Wild, Bettina: Der Zauber von 1001 Nacht und die Faszination norwegischer Trollwelten. Zeitlosigkeit und Aktualität – Traumwelt und Wirklichkeit in Lippels Träumen. Paul Maar. Bielefelder Poet in Residence 2015. Paderborner Kinderliteraturtage 2016. Hg. v. Petra Josting und Iris Kruse. München: kopaed 2016. S. 223-237.

 

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Andreas Wicke: Fünfzig Jahre voller Samstage. Paul Maars Sams-Romane (2023). URL: https://sams.kinderundjugendmedien.de/