„Niemals vergessen. Ich verspreche es, Vater!“ (Lauf, Junge, lauf (Pepe Danquart, 2013))

Drei Filmbeispiele

Zu Beginn des letzten Drittels von Jojo Rabbit (2019) schlendert der zehnjährige Johannes – „Jojo“ (Roman Griffin Davis) – ein überzeugter Hitlerjunge und die Hauptfigur dieser NS-Dramödie von Taika Waititi, gedankenverloren durch die Straßen seiner Heimatstadt Falkenheim. Es sind die letzten Kriegstage, die Niederlage der Nationalsozialisten ist für alle außer die überzeugtesten Regime-Fanatiker bereits absehbar. In den Arkaden am Marktplatz entdeckt Jojo auf dem Boden einen blauen Schmetterling, der daraufhin quer über den Marktplatzboden flattert, dicht gefolgt von Jojo. Die Kameraeinstellung folgt Jojos Blick und schleicht mit ihm gleichsam den Boden entlang. Mitten auf dem Platz bleibt der Junge stehen. Erst auf den zweiten Blick entdeckt er die Beine, die neben ihm auf Kopfhöhe baumeln (vgl. Abb. 1 und 2). Er erkennt die Schuhe der gehängten Person sofort: Es ist seine Mutter Rosie (Scarlett Johansson), die für ihre klandestinen antinazistischen Aktionen von den NS-Kadern hingerichtet wurde. Weinend hält sich Jojo an den Beinen seiner Mutter fest, bevor er sich stumm vor ihr niederhockt (vgl. Abb. 3). Rosies Gesicht bekommen wir als Filmrezipienten nicht zu sehen, ihr Oberkörper ragt in allen Einstellungen über den oberen Bildschirmrand hinaus.

Die Kamera weiß hier mehr als ihre Figur: Mal fokalisiert sie ausschließlich den Wahrnehmungsraum des Jungen, etwa wenn eine Handkamera dem flatternden Schmetterling folgt, mal erweitert sie den dem Publikum sichtbaren Raum, so wie in Abb. 1, denn hier sieht das Publikum zuerst, was der Junge erst eine Sekunde später wahrnimmt.

Abb. 1: Jojo verfolgt einen Schmetterling und… (2019 © Fox)

Abb. 2: entdeckt die Leiche seiner Mutter. (2019 © Fox)

 Abb. 3: Jojo trauert vor dem Galgen. (2019 © Fox) Abb. 3: Jojo trauert vor dem Galgen. (2019 © Fox)

La Vita è Bella (1997) inszeniert den Wechsel zwischen kindlicher und nicht-kindlicher Erzählperspektive expliziter: Am Ende des oscarprämierten italienischen Dramas marschiert Guido Orefice (Roberto Benigni) vor dem Gewehrlauf eines Wehrmachtssoldaten über den Innenhof des Konzentrationslagers, in dem er zusammen mit seinem kleinen Sohn Giosuè (Giorgio Cantarini) eingesperrt ist (vgl. Abb. 4). Sein Kind hat er inmitten des Chaos kurz vor der Ankunft der Alliierten in einer Kiste mit einem Sehschlitz versteckt, durch den der Fünfjährige seinen Vater beobachtet. Sie blicken einander an, Guido zwinkert verschmitzt mit dem rechten Auge, bevor er aus seinem Blickfeld verschwindet. Was der Film dem Publikum zeigt, der Junge innerfiktional aber nicht sieht: Guido und der Soldat verschwinden hinter einer Säule, ein Schuss fällt, der Soldat kommt allein wieder zum Vorschein.

Abb. 4: Guido bereitet Giosuè auf den Abschied vor (1997 © Cecchi Gori)Abb. 4: Guido bereitet Giosuè auf den Abschied vor (1997 © Cecchi Gori)

Die Begrenztheit des kindlichen Blicks wird auch zu Beginn von Als Hitler das Rosa Kaninchen Stahl (2019) inszeniert – eine Filmadaption von Judith Kerrs gleichnamigem Kinderroman When Hitler Stole Pink Rabbit (1971), deren Handlung im Februar 1933 am Vorabend der Machtergreifung einsetzt. Hier hört die neunjährige Protagonistin Anna abends im Elternhaus ein Schluchzen hinter der Tür zum väterlichen Arbeitszimmer. Die Kamera folgt ihr dabei, wie sie auf die mit Milchglas verglaste Tür zugeht, sie öffnet und ihre weinende Mutter im Gespräch mit ihrem Vater entdeckt, bevor sie von dieser wieder rausgescheucht wird. Den Grund der Traurigkeit erfahren wir in dieser Szene nicht; die Tür bleibt dem Filmpublikum ebenso verschlossen wie der kleinen Anna (vgl. Abb. 5). Die Glastür fungiert dabei zugleich als semitransparente Barriere wie als schützende Schwelle, die dem Kind (vorläufig) das Wissen um den Ernst der Dinge erspart. Erst drei Szenen später, am Frühstück, erfahren Anna und ihr Bruder, worum es geht: Der Vater, ein berühmter Kolumnist und Schriftsteller, steht auf Grund seiner offen antinazistischen Haltung auf der schwarzen Liste der Nationalsozialisten und musste im Morgengrauen fliehen. Der Rest der Familie wird kurze Zeit später nachfolgen und sich auf eine Fluchtodyssee von der Schweiz über Frankreich nach England begeben. Zurück bleibt die alte Haushälterin „Heimpi“, die für Anna und ihren Bruder die Geborgenheit der frühen Kindheit vor der Flucht symbolisiert.[1]

Abb. 5: Anna wundert sich, warum ihre Mutter weint (2019 © Warner Bros.)Abb. 5: Anna wundert sich, warum ihre Mutter weint (2019 © Warner Bros.)

Filmische Narratoästhetik des kindlichen Blicks

Es ist die kindliche Wahrnehmung der NS-Zeit, der kindliche Blick auf die von der Erwachsenenwelt verursachten irdische Hölle, mit dem und von dem in Filmen wie La Vita è Bella, Jojo Rabbit, When Hitler Stole Pink Rabbit erzählt wird. Dabei handelt es sich nicht um ein Erzählen, in dem gleichsam zufällig auch Kinder auftauchen oder an dem Kinder auf der Handlungsebene teilhaben. Es handelt sich vielmehr um Geschichten, die von Kinderschicksalen dieser Zeit aus einer genuin kindlichen Perspektive erzählen und diese Erzählperspektive auch audiovisuell ausgestalten. So bewegt sich die Kamera auf Augenhöhe mit den Kinderfiguren, präsentiert ebenso wie die Tonspur einen Ausschnitt der Diegese, die in etwa deren Wahrnehmungsbereich entspricht. Die Handlung bewegt sich weitgehend in kindlichen Lebenswelten bzw. erkundet die Lebensräume der Erwachsenen aus Kinderperspektive. Es ist die kindliche Wahrnehmung, die im Fokus steht, es ist die kindliche Wahrnehmung, die fokalisiert wird.

Auf die Spitze getrieben wird die Inszenierung solcher kindlicher Wahrnehmungsräume der NS-Zeit in John Boynes umstrittenen Roman The Boy in the Striped Pyjamas (2006), der 2008 unter der Regie von Mark Herman verfilmt wurde. In diesem freundet sich der achtjährige Bruno, Sohn eines SS-Kommandanten, am Lagerzaun mit dem gleichaltrigen Shmuel an. Während Bruno das Lager für einen Bauernhof hält, dessen Bewohner aus unerfindlichen Gründen gestreifte Pyjamas tragen, weiß Shmuel, dass er eingesperrt ist, wenngleich er glaubt, nur vorübergehend in dem Lager leben zu müssen. Diese kindliche Naiveté und das Unvermögen, die Existenz einer Massenmenschenvernichtungsanlage überhaupt zu imaginieren, hat in The Boy in the Striped Pyjamas tragische Folgen: Als Bruno selbst einen Pyjama anzieht, um seinem jüdischen Freund im Lager bei der Suche nach dessen verschwundenen Vater zu helfen, werden beide in die Gaskammer getrieben und dort ermordet – während Brunos Eltern zunehmend verzweifelt nach ihrem Sohn suchen, bevor sie die grausame Wahrheit realisieren.[2]

Wechsel zwischen Kindes- und Erwachsenenperspektive

Natürlich erzählen nicht alle dieser Filme rein aus Kindesperspektive. Die bereits beschriebenen Szenen in Jojo Rabbit und La Vita è Bella veranschaulichen das bisweilen subtile, bisweilen explizite Wechselspiel zwischen einer kindlichen und erwachsenen Perspektive: Zwar präsentieren die Filme die kindliche Perspektive auf die Ereignisse, kontextualisieren diese aber zugleich auch als naiv oder fehlgeleitet, denn das, was das Kind wahrnimmt, ist hier nur ein Teil der Wahrheit. Die kindlichen Fehleinschätzungen resultieren teils wie in La Vita è Bella aus den zu Schutzzwecken errichteten Lügengebäuden der Erwachsenenwelt, teils aus dem Schweigen dieser, das eine stille Akzeptanz bzw. Befürwortung der kindlichen Fehleinschätzung beinhaltet (The Boy in the Striped Pyjamas; Jojo Rabbit).

Ein Blick darauf, welche der bisher skizzierten Kontraste zwischen Kindes- und Erwachsenenwelt auserzählt werden, gibt Hinweise auf die jeweilige Rezipierendenadressierung. Bei den Filmen, die um kindliche Fehleinschätzungen der NS-Wirklichkeit kreisen, handelt es sich oftmals um Kindheitsfilme, um solche Filme, „die ihren Fokus auf die Darstellung von Kindheit legen [mit dem] jeweils zentralen inszenatorischen Motiv der Kindheit“ (Stewen 2016). Kindheitsfilme erzählen zwar von Kindheit, sie erzählen aber nicht zwingend für Kinder. Insofern ist La Vita è Bella ein Kindheitsfilm, der dezidiert Giosuès kindlich-naiven Blick auf das Lagerleben als eine Art Squid Game für Kinder der wissenden, erwachsenen Perspektive Guidos und seiner (ebenfalls internierten) Frau gegenüberstellt. Die Erwachsenen wissen sehr genau, an welchem irdischen Höllenort sie gelandet sind; Guido wird am Ende des Films stoisch seinem unausweichlichen Schicksal entgegenmarschieren, im Wissen darum, dass sein Sohn überleben wird. Aus dieser Kontrastierung gewinnt der Film seine dramaturgische Spannung.

Kindliche Fluchtperspektiven

Von der NS-Zeit aus Kinderperspektive zu erzählen, bedeutet auch, ihre Grausamkeit noch deutlicher zu fokussieren. Denn Kinder sind unschuldige Figuren sui generis: Sie sind noch zu jung, um selbst aktiv die Gesellschaft, in die sie hineingeboren wurden, mitzugestalten – und dieser dementsprechend erst einmal ohne eigenes Zutun und ohne Ausweichmöglichkeiten ausgeliefert.[3]

Diese grausamkeitsverstärkende Funktion kommt umso mehr in filmischen NS-Fluchtnarrativen zum Tragen, also in solchen Filmen, die von den Versuchen erzählen, den Heimsuchungen des Nationalsozialismus zu entfliehen. Leitmotivisch für solche Geschichten ist das situationale Motiv der Entwurzelung (zur typologischen Verortung von Motiven vgl. Kurwinkel/Jakobi 2023). Als Vertreibung aus der Heimat entwickelt Entwurzelung insbesondere mit Bezug auf besonders alte und besonders junge Menschen ihre Wucht: auf der einen Seite solche Menschen, die entweder schon lange eine Heimat gefunden haben und gar nicht mehr über genügend Lebenszeit verfügen, um – metaphorisch gesprochen – neue Wurzeln schlagen zu können, auf der anderen Seite Menschen, die noch so jung, in ihrer Identität noch so ungefestigt, mit der Welt noch so unvertraut sind, dass die Vertreibung aus der gewohnten Umgebung geradezu intrinsisch traumatisierend ist. (Zu Flucht als traumatischer Erfahrung vgl. z.B. Box 2023 und Vach 2023).

Es lassen sich einige Grundformen von NS-Fluchtnarrativen differenzieren: Zum einen Flucht als Aufbruch zu neuen, nicht von den Nationalsozialisten kontrollierten Orten, zum anderen Flucht als Akt des sich-Versteckens in einer von Nationalsozialisten kontrollierten Umgebung. Im letzteren Sinne lässt sich auch Das Tagebuch der Anne Frank als Fluchtnarrativ verstehen: Auf die gescheiterte Flucht-als-Aufbruch folgt der Versuch der Familie Frank, im von der Außenwelt weitgehend isolierten Hinterhaus der Prinsengracht 263 in Amsterdam die Kriegszeit zu überstehen. Die Tagebücher der zu Beginn der Eintragungen zwölfjährigen Anne Frank sind insofern ein indirektes Zeugnis innerer Fluchterfahrung: Sie berichtet von ihrem Alltagsfamilienleben im Versteck, von den Radionachrichten des BBC-Radios, von der ständigen Angst, entdeckt und den Nationalsozialisten ausgeliefert zu werden. Vom Schicksal der Familie Frank nach ihrer Enttarnung im August 1944 erfahren wir bekanntlich nur aus Augenzeugenberichten und Archivmaterialien; der letzte Tagebucheintrag stammt vom 1. August 1944.

Unmittelbares Kriegserleben äußert sich vor allem zur Zeit der Luftangriffe der Alliierten auf Amsterdam am 25. Juli 1943. In den Tagebüchern lesen wir im Eintrag vom 26. Juli 1943 retrospektiv von der Angst der jungen Anne, einschließlich der nüchternen Feststellung, dass  die Gefahr durch die Bombardierung genauso groß ist wie im Notfall die Flucht auf die Straßen des von den Deutschen besetzten Amsterdam (Frank 2001, 118–121). In der Filmadaption von Hans Steinbichler (2016) mit Lea van Acken in der Hauptrolle wird die Angst der Familie während des Bombenangriffs im Duktus des gleichzeitigen Erzählens inszeniert; losgelöst von diesem konkreten Angriff wird das Ereignis der Bombardierung zugleich aber auch als Prolog des Films genutzt, in dem gleichzeitiges und analeptisches Erzählen audiovisuell verschränkt werden: Audiovisuell wird in ‚Echtzeit‘ mittels langsam einzoomender Nahaufnahme auf das im Halbdunkel verborgene Gesicht von Anne Frank eingezoomt, die am ganzen Körper zitternd m Wohnzimmer des Hinterhauses steht, das von immer lauter werdenden Bombeneinschlägen blitzartig erleuchtet wird. Aus dem Off zu hören sind von van Acken eingesprochene Einträge aus dem Tagebuch – aber nicht die Einträge vom 26. Juli 1943, sondern ein Pastiche aus anderen Einträgen, dessen Kern die berühmt gewordenen Sätze vom 15. Juli 1944 bilden:

Ich sehe, wie die Welt langsam immer mehr in eine Wüste verwandelt wird, ich höre den anrollenden Donner immer lauter, der auch uns töten wird, ich fühle das Leid von Millionen Menschen mit. Und doch, wenn ich zum Himmel schaue, denke ich, dass sich alles wieder zum Guten wenden wird, dass auch diese Härte aufhören wird, dass wieder Ruhe und Frieden in die Weltordnung kommen werden. (Frank 2001, 309)

Dramaturgien der Flucht

Nicht nur die erzählerische Nähe eines Films zum kindlichen Wahrnehmungsbereich seiner Figuren kann zu dessen Eindrücklichkeit beitragen. Eine weitere erzählstrategische Entscheidung betrifft die Erzählreihenfolge. Das lässt sich am Vergleich von Uri Orlevs Kinderroman Ruz, jeled, ruz (Lauf, Junge, lauf, 2000) mit dessen Filmadaption durch Pepe Danquart (2013) veranschaulichen: Lauf, Junge, lauf erzählt vom Schicksal des neunjährigen polnischen jüdischen Jungen Srulik, der die Kriegsjahre nach der Flucht aus dem Warschauer Ghetto in den umliegenden Wäldern überlebt. Teils findet er Anschluss an eine Kinderbande, teils findet er temporären Unterschlupf bei Bauernfamilien, aber einen großen Teil der Zeit ist er auf sich allein gestellt.[4]

Der Roman erzählt die Geschichte weitgehend chronologisch: Sie setzt im Warschauer Ghetto ein, wo der neunjährige Srulik mit Vater, Mutter und dem älteren Bruder David lebt. Bei ihren Fluchtversuchen wird die Familie auseinandergerissen; Srulik gelingt es am Ende des zweiten Kapitels, das Ghetto allein zu verlassen. Die folgenden Kapitel erzählen vom Überlebenskampf des Jungen, der sich mittlerweile Jurek Staniak nennt, um seine jüdische Herkunft zu verschleiern, als Elendsgeschichte, denn er muss lernen, sich in den Wäldern Polens ohne fremde Hilfe zu versorgen. Im siebten Kapitel bricht die Herbst- und Winterzeit an, Srulik stiehlt einem alten Bauern dessen Jacke, die dieser für einen Moment unbeobachtet aufhängt:

Die Jacke war aus dicker Wolle und gefüttert. Er kürzte die Ärmel mithilfe seiner Glasscherbe. Dann friemelte er einen Strick zu Fäden, zog die abgeschnittenen Teile der Ärmel über seine nackten Füße und band sie mit den Fäden fest. (Orlev 2006, 87).

Kurz darauf

fing es an zu schneien und hörte nicht mehr auf. Srulik verließ den Wald, halb erfroren und zitternd vor Kälte, und machte sich auf die Suche nach Arbeit. Es schneite den ganzen Tag, und Srulik stapfte mühsam durch den Schnee, stundenlang, bis er gegen Abend ein halb verschneites Dorf erreichte. Ein kalter Wind schlug ihm ins Gesicht. […] Er betrat ein Gehöft, ging geradewegs zur Scheune, wühlte sich in einer geschützten Ecke ins Stroh, wickelte sich in seine Jacke und schlief ein. (ebd.)

In der Nacht fiebert der Junge, während er von seinem Vater träumt, der ihm Überlebensratschläge mit auf den Weg gibt. Am nächsten Morgen schleppt Srulik sich mit letzter Kraft über den Hof und klopft an eine Tür, bevor er ohnmächtig wird – und im Halbdämmerschlaf noch mitbekommt, wie sich die Tür öffnet und im Spalt das „Gesicht einer Frau auf[taucht]. […] Als er die Augen öffnete, befand er sich auf einem weichen Lager auf dem Fußboden.“ (89) Die Frau, Magda Janczyk, ist eine der vielen Menschen, die Srulik/Jurek beim Überleben helfen.

Danquarts Adaption von Orlevs literarischem Prätext beginnt in media res mit Panoramen aus dieser Winterlandschaft. Die sechseinhalbminütige Exposition zeigt in Einzelszenen den Überlebenskampf des völlig auf sich allein gestellten und verelendeten Srulik, bevor dieser auf dem eben beschriebenen Bauernhof Zuflucht findet. Der Film eröffnet während der Titelsequenz mit einer  halbnahen Einstellung auf den vor einem Baumstamm auf dem verschneiten Waldboden schlafenden Srulik (Abb. 6), gefolgt von einer Panoramaaufnahme (Abb. 7) des über ein weites verschneites Feld laufenden Jungen, der sich einer Dorfsiedlung nähert.[5]

Abb. 6: Srulik schläft neben einem Baumstamm… (2013 © Bittersuess)Abb. 6: Srulik schläft neben einem Baumstamm… (2013 © Bittersuess)

Abb. 7: … bevor er wieder durch die Kälte marschiert. (2013 © Bittersuess)Abb. 7: … bevor er wieder durch die Kälte marschiert. (2013 © Bittersuess)

Dort schleicht er sich auf einem Bauernhofgelände entlang, von einer Handkamera begleitet, die weitgehend das Blickfeld des Jungen zeigt. Es handelt sich um den Jackendiebstahl, der bei Orlev im siebten Kapitel erzählt wird. Was im Roman noch eine reibungslos verlaufende Szene ist, wird im Film dramatisiert und brutalisiert: Srulik wird beinahe von dem Bauern erwischt und von diesem brutal zusammengeschlagen, bevor er in einem unachtsamen Moment doch noch mitsamt der Jacke flüchten und diese in der folgenden Szene zu einem Strumpfersatz umfunktionieren kann. Es folgen kurze Szenen im Wald, wo der Junge unter einem Windschutz aus dürren Ästen frierend Schutz vor einem Schneesturm sucht. In Rückblenden erinnert sich der am ganzen Leib zitternde Junge hier an die Worte seines Vaters, die im Roman wiederum als Traumbestandteil dienen.

Von den erinnerten Worten seines Vaters getrieben, schleppt sich Srulik weiter über die Felder (Abb. 8), bevor er auf dem Bauernhof von Magda Janczyk zusammenbricht (Abb. 9).

Abb. 8: Der Schneesturm bringt Srulik an den Rand der Erschöpfung. (2013 © Bittersuess)Abb. 8: Der Schneesturm bringt Srulik an den Rand der Erschöpfung. (2013 © Bittersuess)

Abb. 9: Lauf, Junge, lauf inszeniert eine Elendsgeschichte. (2013 © Bittersuess)Abb. 9: Lauf, Junge, lauf inszeniert eine Elendsgeschichte. (2013 © Bittersuess)

Überhaupt nutzt Danquarts Filmversion von Lauf, Junge, lauf den Traum als Vehikel, um zwischen verschiedenen Zeitebenen zu springen und so peu à peu Sruliks Vorgeschichte zu enthüllen – seine Zeit im Warschauer Ghetto, die Trennung von der Familie, die erste Zeit des Überlebenskampfes im Wald. Am Ende wird Jurek den Krieg überlebt haben und sich in einer Reihe schmerzlicher Flashbacks an seine Herkunft, an seinen Namen, an das ultimative Opfer des Vaters erinnern, der vor die Gewehrläufe von Wehrmachtssoldaten läuft, um seinem Kind die Flucht zu ermöglichen.[6]

Ausblick

Die vorgestellten Kindheitsfilme, die von der verschiedenartig gestalteten Flucht vor den Gräueln des Nationalsozialismus erzählen, repräsentieren nur einen Ausschnitt aus dem breiten Feld des kinder- und jugendmedialen Erzählens von der NS-Zeit (für einen Überblick siehe die Beiträge in der kjl&m 2024 Steinlein 1997; aktuell etwa die Beiträge in Bannasch/Dingelmaier/Dogramaci 2023). Sie verdeutlichen aber Spielarten der erzählerischen Inszenierung des kindlichen Kriegserlebens – und sie verdeutlichen, dass dieses Erzählen nahezu unweigerlich an etablierten Genrekonventionen, Erzählgattungen, Motiv- und Figurenkonstellationen anknüpft. Danquart inszeniert Lauf, Junge, lauf explizit unverhohlen auch als Abenteuer- und Reisegeschichte in der Tradition von Huckleberry Finn (vgl. hierzu Busche 2014); als Geschichte einer Reise funktioniert auch Kerrs When Hitler Stole Pink Rabbit. Auffällig ist auch, dass insbesondere Geschichten von Kindern, die allein auf der Flucht sind, Anleihen an dem figuralen Motiv des wilden Kindes sowie an Figurenkonstellationen wie der Kinderbande und der Wahlverwandtschaft nehmen. So verliert Srulik zwar seine biologische Familie, findet dafür aber nach und nach Menschen, die ihm über längere Zeiträume beim Überleben helfen und sie in ihre eigenen (wahl-)familiären Strukturen aufnehmen.

Literatur- und Medienverzeichnis

Primärliteratur

Boyne, John: The Boy in the Striped Pyjamas. London: David Fickling Books, 2006

Frank, Anne: Anne Frank Tagebuch. Fassung von Otto H. Frank. Ergänzte Fassung. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 2001

Kerr, Judith: When Hitler Stole Pink Rabbit. London: HarperCollins, 1971

Orlev, Uri: Lauf, Junge lauf. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Weinheim/Basel: Beltz & Gelberg, 2006

Sekundärliteratur

Box, Marijke: „Wiedersehen kann man sich nicht. Man Kann nur sterben und sich gegenseitig umschweben.“ Todesahnung und inneres Erleben in Irmgard Keuns Exilroman 'Kinder aller Länder' (1938). In: Bannasch, Bettina/ Theresia Dingelmaier/ Burcu Dogramaci (Hgg.): Exil in Kinder- und Jugendmedien. Berlin/ Boston 2023, 143-153

Busche, Andreas: Hintergrund – „Den Krieg durch die Augen eines Kindes sehen“. Zur filmischen Vermittlung subjektiver Holocausterfahrungen in „Lauf Junge Lauf“. Veröffentlicht:23.10.2014. https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/187233/hintergrund-den-krieg-durch-die-augen-eines-kindes-sehen/ (15.02.2024)

Ewers, Hans-Heino: Kindheit als poetische Daseinsform: Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert. Herder, Jean Paul, Novalis und Tieck. München 1989

Höch, Kristina: Filmische Darstellung intergenerationeller Beziehungen im Nationalsozialismus. Die Literaturverfilmungen Die Bücherdiebin (2013), Als Hitler das rosa Kaninchen stahl (2019) und Der Junge im gestreiften Pyjama (2008). In: Drogi, Susanne/ Nadine Naugk (Hgg.): Begegnungen von Jung und Alt in der Kinder- und Jugendliteratur. Literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Perspektiven. Frankfurt a.M. 2024, 251–265

Kurwinkel, Tobias/ Stefanie Jakobi: Thematologie im 21. Jahrhundert: Die transmediale Motivanalyse. In: Sonderausgabe # 7 von Textpraxis (2.2023). URL: https://www.textpraxis.net/kurwinkel-jakobi-theatologie-im-21-jahrhundert, DOI: 10.17879/19958492841

Leitloff, Isabelle: Literarische Verhandlungen von Fluchterfahrungen jüdischer Kinder in Kinder- und Jugendliteratur. Kindspezifische Rezeptionen einer Flucht in Über die Grenze und Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. In: Bettina Bannasch, Theresia Dingelmaier und Burcu Dogramaci (Hrsg.): Exil in Kinder- und Jugendmedien, Berlin/Boston, 2023. S. 143–153.

Staskewitsch, Lena: Dialog mit der Stille. Der Holocaust in der Kinder- und Jugendliteratur. In: von Glasenapp, Gabriele/ Christine Lötscher/ Emer O’Sullivan/ Caroline Roeder/ Anna Stemmann: Jahrbuch der GKJF 2023: Genre. Frankfurt a.M. 2023, 105–117 https://ojs.ub.uni-frankfurt.de/gkjf/index.php/jahrbuch/article/view/110

Steinlein, Rüdiger: Sternkinder und Tote Engel – Bilder des Holocaust in der Kinder- und Jugendliteratur zwischen pädagogisch-moralischer Wiedergutmachung und dokumentarisch-katastrophischer Wirkungsästhetik. In: Köppen, Manfred/ Klaus R. Scherpe (Hgg.): Bilder des Holocaust: Literatur – Film – Bildende Kunst. Köln [u.a.] 1997, 63-96

Stewen, Christian: Kindheitsfilme. In: KinderundJugendmedien.de. Erstveröffentlichung: 27.02.2016. (Zuletzt aktualisiert am: 06.10.2021). URL: https://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/begriffe-und-termini/1505-kindheitsfilme. (15.02.2024)

Vach, Karin: Kinder auf der Flucht: Kinderliterarische Perspektiven auf Vertreibung, Flucht und Ankommen. In: Kruse, Iris/ Julian Kanning (Hgg.): So viel Größenwahn muss sein! : Kinderliteratur – Schule – Gesellschaft. München 2023, 131-154

Zimmermann, Holger: Kinder- und Jugendliteratur über die Shoah. In: Bannasch, Bettina / Hans-Joachim Hahn (Hgg.): Darstellen, Vermitteln, Aneignen. Gegenwärtige Reflexionen des Holocaust. Göttingen 2018, 167–192

Filmografie

Jojo Rabbit [Dramödie] (USA 2019). Regie: Taika Waititi. Fox Searchlight Pictures

Lauf, Junge, lauf [Drama] (Deutschland/Polen 2013). Regie: Pepe Danquart. Bittersuess Pictures/ Ciné-Sud Promotion u.a.

Das Tagebuch der Anne Frank [Drama] (Deutschland 2016). Regie: Hans Steinbichler. AVE Gesellschaft für Fernsehproduktion/ Zeitsprung Pictures/ Universal Pictures International

La Vita è Bella [Dramödie] (Italien 1997). Regie: Roberto Benigni. Melampo Cinematografica/ Cecchi Gori Group Tiger Cinematografica (Dt. Titel: Das Leben ist schön)

The Boy in the Striped Pyjamas [Drama] (USA/ GB 2008). Regie: Mark Herman. BBC/ Heyday Film/ Miramax (dt. Titel: Der Junge im gestreiften Pyjama)

Le voyage de Fanny [Drama] (Frankreich/ Belgien 2016). Regie: Lola Doillon. Origami Films/ Bee Films/ Davis-Films

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl [Drama] (Deutschland/ Schweiz/ Italien 2019). Regie: Caroline Link. Sommerhaus/ Warner Bros. [u.a.]

Fußnoten

[1] Zur Inszenierung der intergenerationalen Beziehungen in Filmen über die NS-Zeit und in Als Hitler das Rosa Kaninchen stahl vgl. Höch 2023; zur kindlichen Fluchtrezeption vgl. Leitloff 2023.

[2] Die Kontroverse und der Diskurs um Boyne wird prägnant von Holger Zimmermann nachvollzogen und eingeordnet (Zimmermann 2018). Zur erzählerischen Inszenierung kindlicher Naivität bei Boyne siehe auch Staskewitsch 2023, 111.

[3] Vgl. zum Konzept der Kindheit als Unschuld Ewers 1989, 10.

[4] Überhaupt muss in der Regel bei der Betrachtung von NS-Kindheitsfilmen berücksichtigt werden, dass diese fast immer auf literarischen Prätexten beruhen, die sie sich wiederum mit filmeigenen dramaturgischen Mitteln aneignen.

[5] Panoramaeinstellungen des einsam über weite Felder laufenden Jungens dienen als visuelles Leitmotiv im Film, als Überleitung zwischen einzelnen Subsequenzen – und am Ende des Films vermittelt durch eine Einstellung auf blühende Felder auch als Markierung, dass mit Kriegsende im Frühling 1945 auch die Gefahr für den Jungen vorbei ist.

[6] Weniger unbarmherzig erzählt Le voyage de Fanny (Lola Doillon, 2016) von kindlicher Flucht vor den Nationalsozialisten – diesmal im besetzten Frankreich, in dem die junge Waise Fanny zusammen mit anderen Kindern aus einem Waisenhaus flieht, um in den Schweizer Alpen Zuflucht vor den Nazis zu finden. Wo Lauf, Junge, lauf überwiegend inmitten verschneiter, verschlammter Landschaften, die in triste Grautöne getaucht sind, angesiedelt ist, spielt sich ein guter Teil der Handlung von Le voyage de Fanny in saturierten Bildern vor dem malerischen Panorama der Schweizer Berge ab.