Explikat

Die theoretisch-konzeptionelle Fundierung eines diversitätsorientierten Deutschunterrichts gründet sowohl in der Orientierung am fachlichen Lernen und den Potenzialen aller Schülerinnen und Schüler als auch in einem reflexiven Verständnis von Diversität in Bezug auf die Gestaltung der Lehr-Lernarrangements und die Auswahl von Unterrichtsgegenständen sowie hinsichtlich der Kommunikation im Unterricht. Demzufolge sollten bei der Planung und Gestaltung von Unterricht nicht nur die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt werden, sondern auch die intersektionale Verwobenheit sozial konstruierter Differenzzuschreibungen wie Gender, sozio-ökonomischer Hintergrund, Migrationserfahrung oder Behinderung (vgl. Stellbrink 2012, S.  85). In diesem Zusammenhang ist die Annahme eines „dynamischen Wechselspiels der verschiedenen Heterogenitätsdimensionen, ihrer Überlagerungen, Überschneidungen und Effekte der gegenseitigen Verstärkung“ (Wansing und Westphal 2014, S. 38) sinnvoll. In Bezug auf Überlegungen zur Gestaltung diversitätssensibler Lehr-Lernumgebungen führt dementsprechend das reflexive Verständnis der diversitätsorientierten Deutschdidaktik dazu, den Blick nicht nur auf heterogene Lernvoraussetzungen zu richten, sondern auf eine diversitätssensible Gestaltung von Unterricht, die wiederum der Komplexität dieses Anspruchs auf unterschiedlichen Ebenen Rechnung trägt.

Hinsichtlich einer kulturtheoretischen Fundierung der diversitätsorientierten Didaktik stellt die Intersektionalitätstheorie eine sinnvolle Ergänzung bisheriger theoretischer Grundlegungen dar, da Verschränkungen und Schnittpunkte von unterschiedlichen Heterogenitätsdimensionen wichtiger werden als die Fokussierung einzelner als sozial konstruiert zu betrachtender Zuschreibungen. Bislang wurde der intersektionalen Verstrickung unterschiedlicher Differenzkategorien auf der Textebene seitens der literaturdidaktischen Forschung eher selten Beachtung geschenkt. Die wenigen Ausführungen hierzu zeigen jedoch, dass eine diversitätsorientierte Literaturdidaktik, die sich an der Schnittstelle von Narratologie und intersektioneller Forschung verortet, bestehende fachdidaktische Modelle hinsichtlich der Komplexität und Verwobenheit unterschiedlicher Differenzkategorien und ihrer erzählerischen Darstellung erweitert (vgl. Becker und Kofer 2022).

Außerdem wird im Sinne einer bildungstheoretischen Perspektivierung literaturdidaktischer Modellbildung davon ausgegangen, dass eine Aufmerksamkeit für die intersektionale Verstrickung unterschiedlicher Differenzkategorien innerhalb der fachlichen Lerngegenstände eine Sensibilität seitens der Schülerinnen und Schüler für die kommunikative Konstruktion von Differenzzuschreibungen anbahnen kann. Wallace zufolge soll eine Art von „metalevel awareness“ (Wallace 2001), also ein Bewusstsein für fiktional konstruierte und kommunikativ realisierte Machtstrukturen, bei den Lernenden evoziert werden.

Einem reflexiven Verständnis von Diversität und der Idee der Überkreuzung unterschiedlicher Differenzkategorien folgend hätte ein diversitätsorientierter Deutschunterricht einerseits die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen und im Sinne einer Potenzialorientierung wertzuschätzen, gleichzeitig aber auch der Diskriminierung und der Ausgrenzung bestimmter Menschen durch eine Festlegung auf einzelne Eigenschaften entgegenzuwirken (vgl. Dannecker und Maus 2016).

Kinder- und Jugendliteratur und -medien als Unterrichtsgegenstand eines diversitätsorientierten Deutschunterrichts

Die Kinder- und Jugendliteratur hat sich in der Vergangenheit immer wieder der erzählerischen Darstellung unterschiedlicher Differenzkategorien angenommen. Im Sinne einer diversitätsorientierten Deutschdidaktik sind folglich Werke der Kinder- und Jugendliteratur und -medien zu favorisieren, die eine intensive Auseinandersetzung mit der Komplexität der kulturellen Gegenstände – in synchroner sowie diachroner Perspektive – ermöglichen. Ausgehend von der Annahme eines „dynamischen Wechselspiels der verschiedenen Heterogenitätsdimensionen, ihrer Überlagerungen, Überschneidungen und Effekte der gegenseitigen Verstärkung“ (Wansing und Westphal 2014, S. 38)umfasst dies eine Reflexion der intersektionalen Verstrickungen von Differenzkategorien und ihrer (erzählerischen) Darstellung (Blome 2016), indem „die unterschiedlichen Konstruktionen von Identität, besonders im Kontext von Normalitätsdiskursen“ (Wille 2019, S. 138) in den Blick genommen werden. Darüber hinaus reflektiert eine diversitätsorientierte Sicht auf die Gestaltung von Deutschunterricht den Anschluss an die Lernausgangslagen und Interessen aller Schülerinnen und Schüler im Sinne einer reflexiv-kulturellen Teilhabe aller.

Literatur

Becker, Karina/ Kofer, Martina: Zur Intersektionalität von Gender und Race. In: Diversitätsorientierte Deutschdidaktik. Theoretisch-konzeptionelle Fundierung und Perspektiven für empirisches Arbeiten. Hrsg. von Wiebke Dannecker und Kirsten Schindler. Bochum: RUB, 2022. S. 69–83. https://doi.org/10.46586/SLLD.223 (29.12.2022).

Blome, Eva: Erzählte Interdependenzen. Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Intersektionalitätsforschung. In: Diversity Trouble? Vielfalt – Gender – Gegenwartskultur. Hrsg. von Peter C. Pohl und Hania Siebenpfeiffer. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2016. S. 43-65.

Dannecker, Wiebke/ Maus, Eva: Jenseits von Disparitäten – Saša Stanišics Wie der Soldat das Grammofon repariert als Gegenstand für den inklusiven Unterricht. In: Literatur im Unterricht 1 (2016). S. 45–59.

Dannecker, Wiebke/ Schindler, Kirsten: Diversitätsorientierte Deutschdidaktik – theoretisch-konzeptionelle Fundierung und Perspektiven für empirische Forschung. In: Diversitätsorientierte Deutschdidaktik. Theoretisch-konzeptionelle Fundierung und Perspektiven für empirisches Arbeiten. Hrsg. von Wiebke Dannecker und Kirsten Schindler. Bochum: RUB, 2022. S. 6–17. https://doi.org/10.46586/SLLD.223 (29.12.2022)

Stellbrink, Mareike: Inklusion als Herausforderung für die Entwicklung von Unterricht, Schule und Lehrerbildung. In: Interkulturelle Pädagogik und sprachliche Bildung. Herausforderungen für die Lehrerbildung. Hrsg. von Sara Fürstenau.  Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2012. S. 83-99.

Wallace, Catherine: Critical Literacy in the Second Language Classroom: Power and Control. In: Negotiating Critical Literacies in Classrooms. Hrsg. von Barbara Comber und Anne Simon. Mahwah/New Jersey/London 2001. S. 209-222.

Wansing, Gudrun/ Westphal, Manuela: Behinderung und Migration. Kategorien und theoretische Perspektiven. In: Behinderung und Migration. Hrsg. von Gudrun Wansing und Manuela Westphal. Wiesbaden: Springer, 2019. S. 17-47.

Wille, Lisa: Von Diskriminierung zu Intersektionalität, von den Disablity Studies zu einer transdisziplinären Literaturwissenschaft. Oder: Die Krux der Normativität und die Notwendigkeit einer intersektionalen Perspektive. In: Literary Disability Studies. Theorie und Praxis in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Matthias Luserke-Jaqui. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2019.  S.115-148.