Inhalt

Auf jeweils einer Doppelseite wird der Leserin und dem Leser ein Buchstabe des Alphabets nahegebracht. Was sich simpel und zunächst nicht sehr aufregend anhört, entpuppt sich als ein Potpourri der Schadenfreude: Jeder Buchstabe des Alphabets wird durch einen Reim verdeutlicht; der entsprechende Buchstabe ist der erste Buchstabe des Namens eines Kindes, das im Zentrum des Spruches steht. Die Reime werden durch Bilder untermalt und verstärken die Schadenfreude, die sich allein durch die Sprüche sicherlich nicht einstellen würde. Dass die Leserin und der Leser bei Sprüchen wie "Allen Kindern schmeckt das Essen. Außer Jürgen – der muss würgen." oder "Alle Kinder spielen auf der Straße. Außer Ulli – der fällt in den Gulli." und deren Verbildlichung schadenfroh schmunzeln muss, liegt auf der Hand.

Kritik

Das Bilderbuch verfügt im Gegensatz zu anderen konventionelleren Bilderbüchern über keine Rahmenhandlung, die das Geschehen zusammenhält. Stattdessen führt es auf andere Art und Weise in das Alphabet ein und setzt deutlich auf das Moment der Schadenfreude, mit der das Alphabet aus einer anderen Perspektive betrachtet wird und sich dadurch von den üblichen ABC-Büchern absetzt. Dementsprechend wird für jeden Buchstaben ein einzelner Spruch präsentiert und bildlich untermalt. Genau das ist es, was den bissigen Charme des Bilderbuches ausmacht, das in seinen 26 Einzelbildern nicht nur eine, sondern gleich 26 Geschichten erzählt.
Der Detailreichtum der Bilder, die in ihrer Linienführung mitunter auch naiv anmuten, bebildert die Sprüche nicht nur, er schmückt sie in den buntesten Farben im wahrsten Sinne des Wortes aus. Da wird bei "Alle Kinder springen ins Wasser. Außer Berta – die landet härter" ein Mädchen gezeigt, das vom Sprungturm über das Schwimmbecken hinweg segelt und auf den sich dahinter befindenden Stufen aufzuschlagen droht, während alle anderen Kinder treffsicher im Wasser landen. Das Bild zu "Alle Kinder gehen zum Friedhof. Außer Hagen – der wird getragen" zeigt hingegen eine Leichenprozession, bei der hinter einem von Erwachsenen getragenen Sarg sieben Kinder her marschieren – davon eines, das die Betrachterin und den Betrachter anzugrinsen scheint.
Dieser Sarkasmus und die offensichtliche Freude am Makabren lässt Verbindungen zum Bilderbuchkünstler Walter Schmögner zu, dessen Bilderbücher sich ebenfalls durch jegliche Abkehr von didaktischen Zielen (vgl. Künnemann 1975, S. 410) auszeichnen. Nicht nur, dass er Klischees umkehrt und seine Bilder mitunter in surreale Kontexte rückt, auch seine "Lust am Demolieren" findet häufig bildnerische Umsetzung, wobei es

dieselben Elemente einer völlig sich selbst demolierenden 'Comics'-Welt [sind], die er auch im Erwachsenen-Buch Böse Bilder mit Worten von H.C. Artmann nutzt […]. Eine alte Dame schaukelt so lange, bis sie mit dem Gesicht auf den Boden schlägt; […] ein Sarg rast einen Berg hinab, bis alle Knochen durch die Lüfte schwirren – alles ist ohne ästhetischen Skrupel gezeichnet und in blühenden Verwesungsfarben koloriert. Zwischen der Kunst für Kinder und der Grafik für Erwachsene zieht Schmöger keine Trennungslinie, und er darf sich gerade bei der Beschwörung des Gruseligen und Makabren kindlichen Zuspruchs gewiß sein (Künnemann 1975, S. 412).

Was Künnemann zu Schmögner festhält, lässt sich auf das Buch Alle Kinder. Ein ABC der Schadenfreude übertragen, sind doch die Zeichnungen mindestens so makaber wie die Sprüche, die sie illustrieren. Wenn Schmögner selbst feststellt, dass für ihn "verkrampfte pädagogische Kinderbücher" ein Gräuel seien (Schmögner nach Künnemann 1975, S. 412), so trifft das auch auf das ABC der Schadenfreude zu: Völlig unverkrampft wird hier makaber mit unkonventionellen Themen umgegangen, die erst seit Ende des 20. Jahrhunderts im Bilderbuch zu finden sind, namentlich Tod und Gewalt, aber auch tragische Unfälle (vgl. dazu Thiele 2002, S. 241, der dezidiert die problematische Themenwahl in Bilderbüchern anspricht), die dann ihrer Tragik behoben und in komisch-sarkastische Kontexte überführt werden.
Pädagogisch-didaktische oder gar erzieherische Aspekte lassen sich dem Buch daher sicherlich nicht zusprechen, dafür ist es ein Quell der Schadenfreude, über den gnadenlos geschmunzelt und gelacht werden kann.

Fazit

Alle Kinder. Ein ABC der Schadenfreude ist sicherlich kein typisches Bilderbuch, das didaktische Ziele verfolgt. Daher ist es, auch wenn es oftmals als ein Kinderbuch angekündigt wird, doch eher ein Buch für fortgeschrittene Leser, da weniger der Lernaspekt im Vordergrund steht. Dafür bietet das Buch Schadenfreude pur, die allerdings – und das muss abschließend festgehalten werden – manchmal ins Boshafte abzurutschen droht, z.B. wenn gereimt wird: "Alle Kinder freuen sich des Lebens. Außer Torben – der ist gestorben." Insofern scheint das Buch eher geeignet für einen bereits lesekundigen Leser, der sich an dem Buch in der Tat "erfreuen" und das Gefühl der Schadenfreude auskosten kann.

Literatur

Künnemann, Horst: X. Zur Gegenwartssituation. In: Das Bilderbuch. Geschichte und Entwicklung des Bilderbuchs in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart. Mit 248 z.T. mehrfarbigen Abb. Hrsg. v. Klaus Doderer und Helmut Müller. 2. Aufl. Weinheim/Basel: Beltz, 1975. S. 395-432.

Thiele, Jens: Das Bilderbuch, in: Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur in zwei Bänden. Bd. 1: Grundlagen, Gattungen. Hrsg. v. Günther Lange. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren, 2002. S. 228-242.

Titel: Alle Kinder. Ein ABC der Schadenfreude
Autor/-in:
  • Name: Martin Schmitz-Kuhl
Originalsprache: Englisch
Übersetzung:
  • Name: Therese Hochhuth
Illustrator/-in:
  • Name: Anke Kuhl
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2009
Verlag: Edelkids GmbH
ISBN-13: 978-3-941411
Seitenzahl: 64
Preis: 12,90 €
Altersempfehlung Redaktion: 5 Jahre
Kuhl, Anke/Schmitz-Kuhl, Martin: Alle Kinder. Ein ABC der Schadenfreude