Inhalt

Zwei Kinder fahren mit ihren Eltern in den Urlaub nach Italien, entdecken eine Kirchturmspitze, die sich aus einem See erhebt, und fantasieren ob dieser Ungewöhnlichkeit das Schicksal des dann metadiegetisch ausgemalten Unterwasserdorfes zusammen; so ließe sich der Kürzest-Plot paraphrasieren, wenn man 'böswillig' akzentuieren möchte, dass die Histoire, zumindest dergestalt, wie der Text sie vermittelt, ein wenig gegenüber dem kunstvollen Discours abfällt. Das magere Setting wird natürlich ausstaffiert, sodass durchaus atmosphärische Tiefe entsteht, wenn der Vater hinten sitzen muss, da Joan, dem kleine Bruder der namenlosen Ich-Erzählerin, auf Autoreisen schlecht zu werden pflegt, und jener – der Vater – sich nach Schule und Noten erkundigt, obwohl die Protagonistin lieber Comics lesen würde (vgl. Abb. 1).

Abbildung: Das Dorf der Fische, StauAbb. 1: Stileklektizismus und Text-Bild-Relationen (© Pei-Yu Chang & Daniel Fehr / kunstanstifter)

Am Ferienort, dem fiktionalisierten Südtiroler Reschensee, angekommen, verschwinden die Elternfiguren aus Text und Bild der Diegese und die Kinder sind ihrer Fantasie überantwortet, der das Dorf der Fische einen Abenteuerspielplatz bietet, auf dem blubbernde Fischpfarrer ebenso denkbar sind wie ein "funkensprühend wunderbar[es]" "Unterwasserfeuerwerk". Die persönliche Inspektion des Unterwasserdorfes, von dem nur noch die Kirchturmspitze sichtbar ist, wird mit Schnorchel und Taucherbrille imaginiert, schließlich aber nur von Joan in Angriff genommen – oder nicht?

Kritik

Dass nun dieser Kirchturm sein Haupt aus dem Wasser hebt, ist das unerhörte Ereignis, das 2021 auch im Feuilleton hohe Wellen schlug; das Warum lässt sich außerfiktional proximat wie ultimat beantworten – und eben innerfiktional fantastisch-fantasievoll.
Näherungsweise liegt der Grund darin, dass ein Staudamm errichtet worden war, sodass das Dorf geflutet wurde. Das gab und gibt es international und national aus unterschiedlichsten Gründen, die in den seltensten Fällen den Umweltschutz im Blick haben. 
In der vorliegenden Diegese liegt die letztgültige Begründung des Flutgrundes eine Ebene ins Meta gedacht in besonders problematischen Erwägungen: Weil Menschen profitorientiert und kurzsichtig handeln und sich über die Natur (und andere Menschen) erhoben hatten, sind (andere) Menschen heimatlos geworden und wurden zur Flucht gezwungen. Über 150 Familien verloren Häuser und Existenz, weil ein Großkonzern im faschistischen Italien die Enteignung billigend in Kauf nahm.
Das ist das Dritte des Vergleichs zu geläufigeren Versionen der Climate Fiction. Während sich Artefakte, die sich mit Klima, Flucht und Flut auseinandersetzen, in der Regel die mittelbaren Folgen menschlicher Misswirtschaft inszenieren, geht es hier unter der Erzähloberfläche um unmittelbare Misshandlungen der Natur: Der entfesselte Prometheus, der als Geo-engineer zunächst das Antlitz der Erde nach seinem Ebenbild gestaltet hatte (Bau der Dörfer), greift nun zum zweiten Mal ordnend ein. Dabei geht es dann nicht mehr um Urbanisierung, sondern es knicken – in Das Dorf der Fische visualisiert – die Bäume um und die Tristesse der tödlichen Technik wird sichtbar.
Das alles wird aber in der Fiktion gar nicht (oder nur randläufig auf der Bildebene) erzählt. Wie in beinahe jedem Buch zum Thema findet sich allerdings auch im Dorf der Fische eine 'didaktische Reserve' zum Faktualitätsanspruch: Vis-á-vis der letzten Handlungsseite (ohne Text) steht "Die Geschichte des Kirchturms im See" beschrieben (vgl. Abb. 3).
Was in mancherlei Fällen in seiner moralisierenden, pädagogisierenden, politisierenden und handlungsauffordernden Weise enervierend bis schlimm ausfällt (vgl. Ritter 2020; Zöhrer 2022; Mikota 2022), ist hier: erfrischend knapp und sachlich, fast versöhnlich, (allerdings auch krass verkürzend und beschönigend) gestaltet. Mit der Formulierung, dass "alle ihre Häuser verlassen und / neue Zuhause finden [mussten]", wird der Problemhorizont zwar skizziert – dass dies ganz passabel funktioniert habe, daran wird aber kein Zweifel gelassen und davon, dass die Menschen das nicht freiwillig getan haben, ist keine Rede (nur auf der 'Fakten'-Seite steht dann, dass "die Familien nicht weggehen wollten"; vgl. Abb. 3). Vielmehr wurde das politische Potenzial schon vorab in der eigentlichen Geschichte entdramatisiert ("ausgezogen und haben ein neues Dorf gebaut. Jetzt haben sie ein Dorf am See."), wenngleich die Gesichtsausdrücke der damaligen Bewohner*innen schon recht trostlos sind, der faktischen Tragik aber entkleidet (vgl. Abb. 2).

Das Dorf der Fische Ansicht abb 2Abb. 2: Staudammbau und Umsiedlung – beschönigt 

Wie häufig im aktuellen Diskurs ist es das Zünglein an der Waage zwischen Schwarzmalerei und grünem Kern, von Utopie und Dystopie – das Mahnmal der Schande, symbolisiert durch den Kirchturm, zeitigt heute noch die Fantasieförderung von Kindern.
Denn aparter als die proximaten und ultimaten Ursachen für den Kirchturm in fiktionaler wie faktualer Schilderung sind die Ausmalungen des Unterwasserdorfes durch die Kinder. Den Impuls legt Joan, der kleine Bruder der Ich-Erzählerin, indem er den bereits erwähnten Fischpfarrer mit den Worten charakterisiert, dass sein Blubbern zwar von der Fischgemeinde nicht verstanden werde – dies aber nicht weiter ins Gewicht falle, da dies auch in der fiktiven Realwelt der Kinder nicht der Fall sei (laut Quellen habe der Pfarrer in realiter übrigens bis zuletzt versucht, die Enteignung der Dörfer zu verhindern …). Die Erzählerin füttert diese Binnenerzählung aus, indem sie imaginiert, dass im versunkenen Dorf keine Schule mehr existiere, da die Kreide immer verwischt sei.
Ein Wort ergibt das andere im positiven Sinne und in gegenseitigem Überbietungsduktus im Dienste eines gemeinsamen Fantasiegebäudes machen die Fische Laternenumzüge und Feuerwerke, reisen unentfremdet und in Einklang mit der Natur sowie Fortbewegungsmittel-frei in alle vier Windrichtungen (auf den Wegweisern stehen dann humoristisch etwa: "Saint-Luis-du-HA!-HA!" oder "Westward Ho!", aber auch "Batman") und kein Tier muss baden gehen, weil es das im Schlaf en passant erledigt.
Und genau an dieser Stelle übernimmt wieder der Pinselstrich das Erzählen: Lässt sich das Verhältnis zunächst noch als weitgehend anreichernd/komplementär bezeichnen, galoppiert die grafische Ebene dem Text zusehends ins Kontrapunktische davon, wenn mit Collagen, verspielten Doppelseiten ohne Text oder sogar in panelartiger Form die Geschichte des Staudamms erzählt wird, während sie auf Textebene nur durch die defizitären Informationen der Ich-Erzählerin aufflackern (s.u.).
Laut Werbetext würde Fehrs Geschichte "von Collagen der Illustratorin Pei-Yu Chang ergänzt" – lediglich. Das kann man so nicht stehen lassen, da vielmehr eine unaufdringliche Herrschaft des Pikturalen inthronisiert wird, wenn die Bildebene ganz eigene Geschichte(n) erzählt. Von einer mystifizierten und unnahbaren Mutter etwa, die durch ihre fotorealistisch-collagierten Augen, die einen bekanntlich immer anschauen, eine ganz eigentümliche Dominanz erlangt. Oder wenn Perspektivspiele mit der subjektiven Point-of-view-Brille der Tochter durch das Fenster qua Innensicht mit dem Panoramablick von außen auf den See samt klitzekleinem Fenster mit Erzählerin dahinter kontrastiert werden (vgl. Abb. 2). Oder wenn ein vordergründig nur illustrativer Schmetterling auf der Unterwasserfeuerwerksseite sich bei näherer Betrachtung als durchaus interpretationswürdig zu erkennen gibt mit der collagierten Frau in Tracht statt Schmetterlingskorpus und vier Gemäldefotografien statt Flügeln.
Ein Spruchband, das über eine Bergbesteigung 1804 Auskunft gibt und textliche wie bildliche Elemente zunächst kryptisch wie deutungsoffen ausstellt, beglaubigt einmal mehr, dass die Text-Bild-Relationen höchst artifiziell ausgestaltet sind und die Rezeption maßgeblich beeinflussen.
Besonders deutlich wird das, wenn eine nur scheinbar Wahlfreiheit in Aussicht stellende Leser*innenansprache fragt: "Und DU? Bleibst du mit mir an Land? Oder gehst du mit Joan tauchen?" Wie man sich auch entscheidet: Man bleibt qua Erzähllogik in Form von Fokalisierung (internes Ich) und Okularisierung (wechselnd, multiperspektivisch, hier aber an die Ich-Erzählerin gebunden) natürlich text-bildlich notgedrungen mit der Schwester an Land, während der Bruder auf Erkundungstauchgang geht. Oder handelt es sich um die Aufforderung, in der eigenen Fantasie abzutauchen?
Die Deutungsoffenheit des Bilderbuches, die schon bis dahin durch die Widerspruchspaare Fakt-Fiktion und real-imaginiert ausgestellt worden ist, wird schließlich multipliziert dadurch, dass Joan von seinem Tauchgang eine Laterne für Fische mitbringt – zumindest so, wie sie kurz zuvor in der Fantasieversion des Laternenumzugs der Fische bildlich gestaltet worden war. Ist er also tatsächlich auf die Fische gestoßen? Oder wird von hinten aufgezäumt angedeutet, dass ein beliebiges Utensil, das sich am Strand finden lässt, den Auslöser zum fantastischen Tagträumen gegeben hat?

abb4 dorf der fischeAbb. 3: Fantasievolle Fiktion vs. fantastische Fakten (links Strandausschnitt ohne Worte, rechts ‚Fakten‘-Seite) © Pei-Yu Chang & Daniel Fehr / kunstanstifter

So schön offen wie diese Entscheidung ist auch das Ende des Buches: Beide Kinder spielen einträchtig im Sand – ohne Worte, sodass das Bild erzählt (vgl. Abb. 3). Und zwar mit Mitteln, die der bisherigen Diegese eher widersprechen: Das Strandspielzeug leitet über in die Ingredienzien des Faktualitätsseitleins nebenan, das – wie oben schon erwähnt – über den historischen Kirchturm im See berichtet, ohne sich so ganz genau an die Historie zu halten.

Fazit

Was bleibt ist ein kleines Bilderbuchkunstwerk, das auf der Bildebene noch ein klein wenig mehr zu überzeugen versteht als auf der Textebene. Besonders angenehm und positiv hervorzuheben ist die gut abgeschmeckte Tragikomik im Abgang des Bilderbuchs, geht doch die schöne und heitere Fantasie der Kinder mitunter weit an der Realität (der Diegese, der Realwelt) vorbei, was, wie häufiger in tragikomischen Gefilden, durch eine begrenzte kindliche Perspektive gebunden ist.
Dass die Ich-Erzählerin etwa nicht mehr erinnert, warum "die Menschen einen Staudamm [bauten]", obwohl "Ma", die Mutter der Geschwister, es ihr mutmaßlich jedoch im Vorfeld erzählt hatte, ist mit erwachsener Schwermut leicht zu ertragen und letztlich sogar zu goutieren: Warum sollten sich Kinder immerzu mit den Bausünden und Umweltsäuen der Elterngeneration auseinandersetzen müssen?
Dass die Eltern zwar auf der Hinfahrt noch den Campingbus (er qualmt nicht sehr; vgl. Abb. 1) fahren dürfen/erzähllogisch müssen, sie aber im Textverlauf per Ellipse aus der Handlung geworfen und also nicht als Korrektiv und Welterklärbär*innen zum Ende hin eingesetzt werden, macht diese Form der eingetrübten Heiterkeit erst möglich.
Uneingeschränkt empfehlenswert, allzumal für Bilderfreund*innen ab Grundschulalter.

Literatur

Mikota, Jana: Umweltschutz in der Kinderliteratur II. In: Footnoters. Blog für Kinder- und Jugendmedien und -kultur, https://www.footnoters.de/umweltschutz-in-der-kinderliteratur-ii/ (28.11.2022).

Ritter, Alexandra: Angerührt sein und aufgerüttelt werden. Natur- und Umweltschutz im Bilderbuch. In: Krisenmodus oder Lifestyle. kjl&m 20.4. S. 57-63.

Zöhrer, Marlene: Von A wie Antarktis bis W wie Weltverbessern. Ökologische Sachliteratur für Kinder und Jugendliche zwischen Erziehungsfunktion und Innovation. In: Kinder- und Jugendliteratur heute. Theoretische Überlegungen und stofflich-thematische Zugänge zu aktuellen kinder- und jugendliterarischen Texten. Hrsg. von Carsten Gansel, Anna Kaufmann, Anna, Monika Hernik und Ewelina Kaminska-Ossowska. Göttingen: V&R Unipress, 2022. S. 141–155.

Titel: Das Dorf der Fische
Autor/-in:
  • Name: Daniel Fehr
Illustrator/-in:
  • Name: Pei-Yu Chang
Erscheinungsort: Mannheim
Erscheinungsjahr: 2023
Verlag: kunstanstifter
ISBN-13: 978-3-948743-12-3
Seitenzahl: 32
Preis: 22
Altersempfehlung Redaktion: 6 Jahre
Cover: Das Dorf der Fische