Inhalt

Mister Morris Lessmore lebt ein einsames, geordnetes Leben als Bücherwurm und ist zugleich Verfasser eines eigenen Buches. Dieses Leben stellt ein mächtiger Sturm auf den Kopf: Häuser, Sessel, Strommasten und sogar die Worte in seinem eigenen Buch fliegen durcheinander. Auf der Suche nach einem Neuanfang läuft Morris davon und erhält von einer schönen Dame einen besonderen Weggefährten – ein fliegendes Buch mit einem blauen Einband. Er folgt diesem fliegenden Buch zu einem außergewöhnlichen Haus, in welchem ein neues Leben mit unzähligen lebendigen Büchern für Morris beginnt. Liebevoll kümmert er sich von nun an um die Pflege der Bücher. Sein ganzes Leben verbringt er hier und notiert all seine Begegnungen und Hoffnungen in seinem eigenen Buch, bis er alt geworden und die letzte Seite seines Buches beschrieben ist. Als Morris eines Tages geht, lässt er sein Buch zurück und beschenkt damit ein Mädchen, das seinen Platz im Haus einnimmt.

Kritik

Das Bilderbuch Die fliegenden Bücher des Mister Morris Lessmore stellt die Adaption eines Oscar-prämierten Kurzfilms (2011) mit gleichnamigem Titel dar und lehnt sich inhaltlich größtenteils an diesen an. Dabei rückt die Geschichte sowohl des Films als auch des Bilderbuchs den Wert von Büchern und Geschichten in den Mittelpunkt. Bereits der Klappentext des Buches weist darauf hin, dass es sich um eine "Liebeserklärung an die wunderbare Welt der Literatur" handelt. Dabei werden Bücher und die darin befindlichen Geschichten als fantastische Parallelwelt idealisiert, in welche nicht nur die Figur Mister Morris Lessmore eintreten und sich darin gar so sehr verlieren könne, "dass er Tage brauchte, um wieder aus der Geschichte aufzutauchen" (Seite 21 – eigene Paginierung).
Diese verfremdende Idealisierung zieht sich auch dadurch durch die Geschichte, dass Bücher innerhalb der erzählten Welt selbst lebendig sind, zu handelnden Figuren werden und eine eigene Mimik und Gestik erhalten. Besonders interessant ist die fantastische Ausgestaltung der Kommunikation zwischen Buch und Menschen: Morris‘ neuer Weggefährte, das Buch mit dem blauen Einband, kommuniziert mit Morris beispielsweise durch die auf den Bildern des Buches dargestellte Figur, welche ihm Handzeichen gibt und verschiedene Gesichtsausdrücke zeigt (vgl. Seite 12). Es liegt also keine direkte Kommunikation zwischen einem vermenschlichten Buch und einer menschlichen Figur vor, sondern das Buch benutzt Figuren, die materiell in seinem Inneren abgebildet sind.
Im Bilderbuch erfolgt entsprechend eine innertextuelle Referenzierung des eigenen Trägermediums - nämlich des Bilderbuchs. Das Buch verweist also gleichsam auf sich selbst in seiner Eigengesetzlichkeit. Vor diesem Hintergrund ist auch zu sehen, dass die Materialität des Bilderbuchs immer wieder aufgegriffen wird. So ist etwa bei der Beschreibung von Reparaturarbeiten, die Morris an den Büchern im Haus durchführt, auf bildlicher Ebene ein mit Klebeband geflickter Riss im Bilderbuch inszeniert (vgl. Seite 19). Insofern erzeugt die graphische Gestaltung des materiell vorliegenden Bilderbuchs den Eindruck, dass es sich um eines der alten Bücher aus dem Haus von Mister Lessmore handle (vgl. zur Inszenierung von Materialität in Kinderbüchern am Beispiel von Frank Maria Reifenbergs Werken auch Beck & Bernhardt 2023).
Eine weitere Inszenierung der Selbstreferenzialität findet sich in der letzten Szene des Buches. Hier schlägt das Mädchen, dem Lessmore sein Buch vermacht hat, das Buch auf – und es heißt im Erzähltext: "Das Mädchen fing an, darin zu lesen. Und so endet unsere Geschichte genauso, wie sie begonnen hat - mit dem Aufschlagen eines Buches" (Seite 44ff.).

joyce fliegende 47Abb. 1: XXX, (Seite 47f.) © 2013 Boje Verlag

Hier besticht vor allem die sehr eindrucksvolle und detailreiche künstlerische Darstellung. Die auf der Doppelseite nahezu fotorealistisch abgebildeten Kinderhände sowie der inszenierte Buchblock am Rand der materiell vorliegenden Bilderbuchseite erschaffen bei den Rezipierenden die Illusion, das diegetische Buch selbst vorliegen zu haben. Diese metaleptische "mise en abîme" weist also schon darauf hin, dass es hier zwei verschiedene Ebenen – die implizite fiktionale Ebene auf der einen Seite und die implizite reale Ebene der Rezeption auf der anderen Seite – gibt. Auffällig ist zudem, dass auf der hier abgebildeten ersten Seite des nun in den Händen des Mädchens befindlichen diegetischen Buches dasselbe Motiv wie auf der ersten Seite des materiellen Bilderbuches Die fliegenden Bücher des Mister Morris Lessmore zu sehen ist. Beide Szenen besitzen hervorragendes Immersionspotenzial, das über dasjenige des Filmes sogar noch hinausgeht. Die Leserin oder der Leser werden durch diese Inszenierung des Rezeptionsaktes in die Handlung der Geschichte mit einbezogen, werden zum Teil der Diegese und tauchen somit in die Geschichte ein. Während der Film die Rezipierenden jene Geschichte eher von außen wahrnehmen lässt, schafft das Bilderbuch durch das werkimmanente Aufgreifen der Materialität des Buches und das Verwischen der Grenzen zwischen diegetisch dargestellten Büchern und dem materiell vorliegenden Bilderbuch viel eher ein Immersionserleben.
Eine zusätzliche graphische Zweiteilung der Welten erzeugt der Farbverlauf: So bewirkt ein Sturm zu Beginn der Handlung, dass sämtliche Farben aus den Bildern verschwinden und alles nur noch in Grautönen abgebildet ist – Morris selbst sowie die gesamte landschaftliche Umgebung verlieren ihre Farben. Der Verlust der Farben korreliert mit einem Verlust der Freude: Mr. Lessmore erscheint als trübsinnig und die Welt ist weniger fröhlich. Am Wendepunkt der Geschichte, als Morris in seiner Ziellosigkeit nach dem Sturm durch das Buch mit dem blauen Einband ins Haus der Bücher geführt wird, erhält er mit Eintritt in das Haus der Bücher seine Farbe und gleichzeitig seinen Lebensmut und seine Freude zurück – er wird nun tanzend und mit freudigem Gesichtsausdruck dargestellt (vgl. Seite 18). Das Portal des Hauses besitzt dabei die Form eines überdimensionalen Buches – Morris tritt somit durch das Buch aus seinem zurückgelassenen alten Leben in eine für ihn neue, freudvolle Welt hinein. Morris fungiert fortan als eine Vermittlungsinstanz zwischen den beiden benannten Welten, indem er die Freude an Büchern weitergibt und anderen den Zugang zur fantastischen Welt der Bücher ermöglicht. Dazu verteilt er an die Besuchenden des Hauses Bücher: Die in einer Schlange wartenden Angekommenen sind dabei ebenfalls noch in Grautönen gehalten, während eine kindliche Bildfigur, die bereits ein Buch erhalten und darin zu lesen begonnen hat, strahlend und mit kräftigen Farben ausgestaltet ist (vgl. Seite 26).
Das Motiv von Büchern oder anderen sächlichen Gegenständen (Kreide-Zeichnungen bei Mary Poppins (1964), Gleis 9 ¾ bei Harry Potter (1997) oder ein Schrank in Die Chroniken von Narnia (2005)) als Eintrittsportal in andere Welten findet sich in zahlreichen Kinder- und Jugendmedien (vgl. dazu Nikolajeva 1988, 63ff.). In Die fliegenden Bücher des Mister Morris Lessmore wird dies durch die einmalige Farbgestaltung, insbesondere die Arbeit mit Farbkontrasten, in einer gelungenen Weise umgesetzt, wodurch der oben erwähnte immersive Eindruck des Bilderbuches nochmals verstärkt wird. Indem nämlich die Rezipierenden die handelnden (Bild-)Figuren in ihrer Faszination und in ihrer innerdiegetischen emotionalen Verstrickung in die Welt der Literatur wahrnehmen, kann sich diese Immersionserfahrung auch auf Rezipierenden-Ebene reproduzieren.
Gleichzeitig bietet eine Besonderheit auf der histoire-Ebene der Geschichte denkanregendes und kreativitätsförderliches Potenzial. So wird innerhalb der Geschichte eine zirkuläre Struktur aufgebaut, indem immer wieder eine neue Figur auftaucht, die aber dieselbe Stellung – nämlich die des Bücherhüters oder der Buchhüterin – einnimmt. Dabei ist das Haus der Bücher der zentrale Dreh- und Angelpunkt: Im Verlauf der Handlung wird klar, dass zunächst die "wunderschöne Dame" (Seite 9) die Hüterin des Hauses der Bücher ist, bis sie von Morris abgelöst wird, dessen Platz wiederum das Mädchen am Ende der Handlung einnimmt. Ein Wechsel findet immer mit dem Lebensende der vorigen Figur statt, die dann von einem Schwarm fliegender Bücher getragen davonfliegt und dabei wieder als verjüngt erscheint. Das bleibt aber angedeutet, sodass das Ende der Geschichte gleichzeitig als ein Neuanfang derselben Handlung oder aber als eine Variation des bisherigen Handlungsschemas gelesen werden kann. Diese Offenheit lädt zum kreativen Weiterdenken und zum Antizipieren weiterer Handlungsalternativen ein. Das Wegfliegen auf der Handlungsebene kann sich bei den Rezipierenden überdies in Bezug auf die Immersionserfahrungen reproduzieren, indem das Bilderbuch dazu einlädt, wegzufliegen in die Welt der fantastischen Bücher.

Fazit

Das Bilderbuch Die fliegenden Bücher des Mister Morris Lessmore lädt durch seine gefühlvolle, symbolgeladene Darstellung der Welt der Bücher Kinder ab sechs Jahren (und Erwachsene) zum Eintauchen in diese sowie zum Träumen und Philosophieren ein. Obwohl der ästhetische Gehalt des Textes hinter den detailreich ausgestalteten Bildern zurücksteht, schafft es das Bilderbuch, ein einmaliges Rezeptionserleben zu generieren und wächst insbesondere durch seine vielfältigen immersiven Elemente noch über den Kurzfilm hinaus. Gerade die Inszenierung des eigenen Rezeptionsaktes durch verschiedene werkimmanente Referenzierungen bietet vielfältige Potenziale im Rahmen eines gemeinsamen Entdeckens von Kindern und Erwachsenen, Literatur in ihrer Eigengesetzlichkeit überhaupt erst wahrzunehmen und darauf aufbauend über den subjektiven Wert von Geschichten und die eigenen Gefühle beim Lesen zu reflektieren.

Literatur

Beck, Natalie & Bernhardt, Sebastian: Wahrheit in Reifenbergs metafiktionalen Kinderromanen – Die Unzuverlässigkeit des Erzählens und ihre Potenziale für das literarische Lernen ab der Primarstufe, in: Bernhardt, Sebastian (Hrsg.): Frank Maria Reifenbergs Werke im literaturdidaktischen Fokus. (Band 2 der Reihe „Literatur-Medien-Didaktik“, hrsg. von Sebastian Bernhardt, Berlin: Frank & Timme 2023, S. 69-89.

Nikolajeva, Maria: The Magic Code. The use of magical patterns in fantasy for children. Stockholm: Almqvist & Wiksell 1988.
The Fantastic Flying Books of Mr. Morris Lessmore (William Joyce/ Brandon Oldenburg, USA 2011)

Titel: Die fliegenden Bücher des Mister Morris Lessmore
Autor/-in:
  • Name: William Joyce
Originalsprache: Englisch
Originaltitel: The Fantastic Flying Books of Mr. Morris Lessmore
Übersetzung:
  • Name: Hardy Krüger Jr.
Illustrator/-in:
  • Name: Joe Bluhm
Erscheinungsort: Köln
Erscheinungsjahr: 2013
Verlag: boje
ISBN-13: 978-3-414-82344-1
Seitenzahl: 56
Preis: 14,99
Altersempfehlung Redaktion: 6 Jahre
Joyce, William: Die fliegenden Bücher des Mister Morris Lessmore