Inhalt

Zu Beginn von Ein Lied für Blue erfährt das gehörlose, zwölfjährige Mädchen Iris von dem Bartenwal Blue 55, der seit Jahrzehnten weitgehend alleine durch die Weltmeere schwimmt, weil er in einer Frequenz von 55 Hertz singt – und damit für andere Wale unverständlich ist, die in Frequenzen von 35 Hertz oder tiefer singen. Als gehörloses Mädchen an einer Schule in Texas mit fast ausschließlich hörenden Kindern identifiziert sich Iris mit Blues Lage. Zwar hat sie liebevolle hörende Eltern, einen einfühlsamen älteren Bruder und mit ihrer Großmutter und Wendell gehörlose beste Freunde. An der Schule fühlt sie sich trotzdem von ihren hörenden Mitschüler*innen sowie von ihren Lehrerkräften isoliert, weshalb sie entgegen der Bedenken ihrer Eltern viel lieber – so wie Wendell – die Junior High School für Gehörlose im Nachbarort besuchen möchte.

Kurzerhand komponiert Iris ein Lied für den Wal, das sie von ihrem Musiklehrer mit Instrumenten einspielen lässt, die sich auf dieser Frequenz bewegen. Dieses Lied möchte sie Blue vorspielen, damit er weiß, dass er nicht alleine ist auf dieser Welt. Dafür nimmt Iris Kontakt mit den Meeresbiologinnen und -biologen auf, die Blues Weg durch die Meere verfolgen – und begibtsich kurzerhand mit ihrer ebenfalls gehörlosen Großmutter auf eine Schiffsreise nach Alaska, um bei der nächsten Kontaktaufnahme mit dem einsamen Wal dabei sein zu können. Auf dieser Schiffsreise schließt Iris nicht nur neue Freundschaften, sie kommt auch ihrer Großmutter wieder näher, die sich nach dem Tod des Großvaters in einen Kokon der Trauer verkrochen hat.

Kritik

Mit Ein Lied für Blue legt Lynne Kelly eine mitreißend erzählte Außenseiter-Ausreißer-Geschichte vor, der es gelingt, die Gehörlosigkeit ihrer Protagonistin zwar nuanciert zu thematisieren, sie aber zugleich in den Dienst der Geschichte zu stellen – und nicht andersherum. So verfolgen wir lesend den Alltag und die späteren Abenteuer der Ich-Erzählerin, erfahren nebenbei so manche Details über Gebärdensprache und Gehörlosenkultur, aber auch über Wale und andere Meerestiere, über die Herausforderung, alte Radios zu reparieren (denn Iris ist eine passionierte Hobby-Elektrikerin) und über den traumatisierenden und isolierenden Effekt, den die Trauer um geliebte Menschen auslösen kann.

Schade ist allerdings, dass der Roman zum Ende hin in eine sehr US-amerikanisch anmutende Countdown-Dramaturgie abrutscht: Nachdem gut ein Drittel der 320 Seiten umfassenden Romanhandlung an Bord des gemütlich gen Alaska schippernden Kreuzfahrtschiffs spielen, muss Iris auf den letzten gut 40 Seiten per Zug, Bus und dann sogar zu Fuß alles daran setzen, um den Wal in letzter Sekunde in einer Bucht abzufangen und ihm das Lied vorspielen zu können. Die Dramaturgie dieser letzten Kapitel ist, so mitreißend sie auch auserzählt wird, schlicht unglaubwürdig und unnötig. Denn im Kern ist Ein Lied für Blue eine vielschichtige Selbstfindungsgeschichte: Der Wal fungiert für Iris als Übergangsobjekt, als Projektionsfläche, die es ihr ermöglicht, ihre eigenen Lebenswünsche nicht nur zu reflektieren, sondern auch ihren Eltern gegenüber zu vertreten. Überhaupt, Iris: Wunderbar ist, dass ihre Gehörlosigkeit an keiner Stelle als in irgendeiner Form zu überwindendes Defizit charakterisiert wird. Sie kennzeichnet vielmehr schlicht eines der vielen Charaktermerkmale des Mädchens – und ist nur da eine Barriere bzw. ein Handicap, wo die Gesellschaft oder Iris’ Mitmenschen Unwillens oder unfähig sind, sich auf ihre aus der Gehörlosigkeit erwachsenden Bedürfnisse einzulassen. Insofern zeigt Ein Lied für Blue, wie weit „disability narratives“ mittlerweile gekommen sind: Wo in früheren Geschichten noch ‚Super-Cripples‘ heldenhaft ihre körperlichen oder geistigen Defizite zu überwinden versuchen, gar nur mit Hilfe nicht-defizitärer Helfendenfiguren überwinden können oder beim Versuch elendig zu Grunde gehen, sind Iris und auch ihre Großmutter eigenständige Figuren, denen sich die Frage nach ihrer Gehörlosigkeit als potenziellem Charakterdefizit gar nicht erst stellt.

Fazit

Ein Lied für Blue ist ein wunderbares Buch, das altersübergreifend, zumindest aber ab zwölf Jahren wärmstens zur Lektüre empfohlen wird – und das sich auch als Modell für Geschichten eignet, die nicht über Disability erzählen möchten, sondern von Figuren, die auch eine sogenannte disability als Charaktermerkmal unter vielen haben.

Titel: Ein Lied für Blue
Autor/-in:
  • Name: Kelly, Lynne
Originalsprache: Englisch
Originaltitel: Song For A Whale
Übersetzung:
  • Name: Piel, Meritxell
Erscheinungsort: Zürich
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: WooW Books
ISBN-13: 9783961770984
Seitenzahl: 316
Preis: 18,00
Altersempfehlung Redaktion: 12 Jahre
Kelly, Lynne: Ein Lied für Blue