Inhalt

Bei ihrer Ankunft "waren sich alle einig, dass man ein so widerwärtig aussehendes Kind wie sie noch nie gesehen habe. Alles an ihr war dünn, ihr Gesicht, ihr Körper, ihr Haar, und sie schaute völlig verbittert drein." (S.5) Auch Mary hatte sich noch nie so abscheulich gefühlt wie an ihrem ersten Tag in England. Hier soll sie also in Zukunft leben bei einem Onkel, den sie noch nie gesehen hat und der seinerseits nicht viel Wert auf ein Kennenlernen legt. Als Mary noch in Indien wohnte, war so einiges anders gewesen: Sie hatte ein indisches Kindermädchen, das sich um sie kümmerte und mehrere Dienstboten, die dem verzogenen Mädchen gehorchen mussten. In Misselthwaite ist niemand, der Mary beim Anziehen hilft, sie bedient oder sich von ihren Launen beeindrucken lässt.

An einem Ort mit 100 verschlossenen Zimmern und dunklen Korridoren, in denen nachts der Wind klabautert und ein leises Weinen ertönt, entschließt sich Mary, das Gelände rund um das Haus zu erkunden. "Sogar ein unausstehliches kleines Mädchen kann einsam sein, und das große verschlossene Haus und das große öde Moor und die großen kahlen Gärten hatten in Mary das Gefühl erweckt, dass sie allein sei auf der weiten Welt." (S.35) Doch nach und nach findet Mary Gefallen an den Parkanlagen von Gut Misselthwaite. Ein Garten hat ihre Neugierde besonders geweckt: Seit zehn Jahren soll ihn niemand mehr betreten haben. Der Eingang wurde verschlossen, als Mr. Cravens Frau darin verunglückte. Noch heute erzählt man sich von der Rosenpracht, die einst im Garten zu bewundern war. Irgendwo muss es doch noch eine Tür geben, denkt sich Mary und macht sich auf die Suche. Auf die Hilfe des Gärtners Ben Weatherstaff kann sie dabei nicht zählen: "Steck deine Nase nicht in Dinge, die dich nichts angehen" (S.42), mahnt er und hofft damit, das Thema vom verschlossenen Garten ein für alle Mal beendet zu haben.

Durch die frische Moorluft lebt Mary zusehends auf und gewinnt sogar Freunde: Da wäre zum einen das junge Hausmädchen Martha und deren Bruder Dickson, der mit Tieren spricht, sowie die Mutter der beidenund der kauzige Gärtner Ben Weatherstaff – und ein kleines Rotkehlchen. "Für jemand, der das Mögen nicht gewohnt war, waren das schon eine Menge Leute." (S.58)

Eines Nachts macht Mary auch mit ihrem bettlägerigen Cousin Colin Bekanntschaft. Er ist bekannt für seine hysterischen Wutanfälle. Der Junge ist der festen Überzeugung, dass er, wenn er nicht ohnehin bald sterben wird, einen schrecklichen Buckel bekommt. Aus Angst vor einer Wucherung wagt er es kaum, sich aufrecht hinzusetzen. Obwohl ihm die Natur zuwider ist, wird auch er neugierig, als Mary ihm von dem geheimen Garten hinter den hohen Mauern erzählt und hegt seit langem wieder einen Wunsch: Eines Tages möchte er den Garten sehen.    

Und dann kommt der Tag, an dem Mary einen verrosteten Schlüssel findet, der in eine Efeu behangene Tür in der Mauer zu passen scheint... Einer Tür, die seit zehn Jahren nicht mehr geöffnet wurde.


Kritik

Obwohl Mary nicht gerade als ein liebenswürdiges Mädchen vorgestellt wird, entwickelt der Leser eine große Sympathie für das Waisenkind. Denn schnell wird klar, dass Mary ein sehr einsames Kind ist, dem es zwar an Nahrung, Kleidung und Dienstboten nie gemangelt hat, das aber nicht weiß, wie es sich anfühlt, von jemandem geliebt zu werden. Als ihre Eltern noch lebten, waren sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt und froh, wenn sie von ihrer Tochter so wenig wie möglich gestört wurden.

Damit schafft Frances Hodgson Burnett in ihrem Roman Der geheime Garten einen Einblick in die Lebensverhältnisse britischer Kolonialisten in Indien. Da die Autorin selbst nie in Indien gewesen ist, bezieht sie ihr Wissen aus damals gängigen Vorstellungen über das Land in Südostasien – etwa, dass das indische Klima unmöglich gesund für europäische Kinder sein kann. Diese Ansicht spiegelt sich in der kränklichen Beschreibung von Mary wider, deren Wangen erst unter der englischen Moorluft an Farbe gewinnen. Auch ihr Vater wird als ein vielbeschäftigter und kränkelnder Regierungsbeamter beschrieben, während ihre Mutter als eine gefeierte Schönheit dargestellt wird, die sich auf gesellschaftlichen Veranstaltungen amüsiert. Marys Familie ist hier keine Ausnahme: In englischen Kolonien pflegten die Familien einen solchen Lebensstandard. Die Kindererziehung wurde indischen Kindermädchen, sogenannten Ayahs, überlassen, mit denen die englischen Kinder oftmals so viel Zeit verbrachten, dass viele von ihnen besser Hindi sprechen lernten als Englisch. Um den häuslichen Frieden zu wahren, überließen die Kindermädchen ihren Zöglingen meist ihren Willen. Die Figur der Mary als Tochter eines Regierungsbeamten ist folglich zu jener Zeit keine Ausnahmeerscheinung, sondern entspricht dem gängigen Bild von Kindern englischer Kolonialisten. (Vgl. Holbrook Gerzina 2007, S. xiii-xi)

Mit dem eigenartigen und distanzierten Mr. Craven scheint Mary es auf dem Gut Misselthwaite zunächst nicht besser getroffen zu haben. Cravens Auffassung von Kindererziehung ist auf den ersten Blick vergleichbar mit der von Mr. und Mrs. Lennox. Auch er überlässt seinen Sohn der Obhut des Hauspersonals. Doch zeigt sich in diesem Verhalten  die Überforderung eines Mannes, der den Tod seiner Frau nach Jahren noch nicht überwunden hat und dem Verlust hilflos gegenüber steht. Der nunmehr geheime Garten spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle, war er doch nicht immer ein verschlossener Ort. Einst gehörte er Mr. Cravens geliebter Frau, deren Lieblingsplatz ein mit Rosen bewachsener Ast auf einem alten Baum war. Als eines Tages der morsche Ast unter ihrem Gewicht bricht, stürzt sie und stirbt an den Folgen des Sturzes. Mr. Craven lässt den Garten verschließen und den Schlüssel vergraben. Wie sich im Laufe des Romans zeigt, hat er damit nicht nur eine Gartentür versperrt, sondern auch einen Weg, um sich seiner Trauer zu stellen.

Colin fehlt die liebevolle Fürsorge seiner Mutter. Mr. Craven versucht, über materielle Dinge für ihn und später auch für Mary zu sorgen. So fehlt es den beiden zumindest auf den ersten Blick an nichts. Sie wohnen in einem luxuriösen Haus, bekommen beste Mahlzeiten und werden von Zeit zu Zeit mit Paketen überrascht, die Bilderbücher, Spiele und andere Kleinigkeiten enthalten.

Ganz anders als Mr. Craven tritt Mrs. Sowerby auf. Als Mutter von zwölf Kindern verkörpert sie Herzlichkeit und Fürsorge, die ohne große finanzielle Mittel ihre Kinder zu selbstbewussten Menschen erzieht und damit eines zeigt: Man braucht keinen Luxus, um Kindern ein glückliches Umfeld zu schaffen. Zwar kommt Mary zunächst nur indirekt in den Kontakt zu Mrs. Sowerby, doch ist es deren Tochter Martha, das junge Dienstmädchen, das für Mary anfangs zu einer der wichtigsten Bezugsperson wird. Da sie keine standesgemäße Berufsausbildung genossen hat, behandelt sie Mary nicht viel anders als ihre Geschwister: Herzlich, aber bestimmend. Später lernt Mary auch Marthas Bruder Dickon kennen, an dem sie sofort Gefallen findet.

Der geheime Garten ist ein schöner Roman für Kinder und Erwachsene über die geheimnisvolle Kraft der Natur und zweier Kinder, die sich in ihr entwickeln und zu ausgeglichenen, glücklichen Menschen werden. "Wie gut, dass das kleine Mädchen ins Haus gekommen ist" (S.192), bemerkt einmal Marthas Mutter. Wie Recht sie damit hat, zeigt sich an dem kranken Colin, in dem Mary ihr Gegenstück findet. Er ist der festen Überzeugung, dass er furchtbar entstellt und unheilbar krank ist. Die Hausangestellten fürchten sich vor seinen berüchtigten Wutanfällen, so dass auch Colin niemals Zuneigung erfährt. Allein Mary erkennt den wahren Grund seiner eingebildeten Krankheit – war sie doch vor wenigen Monaten nicht weniger unausstehlich als er. Durch das Öffnen des geheimen Gartens gehen Entwicklungen in beiden Kindern vor, die so wunderbarer Natur sind, dass Colin und Mary keinen anderen Ausdruck dafür finden als: Magie.

Der geheime Garten, in dem neue Pflanzen zu wachsen beginnen, in dem Blumen nach langen Wintermonaten erblühen, ist ein Sinnbild für das Leben, die Hoffnung und das Vertrauen in die Natur und sich selbst. Eigenschaften, die die sich selbst überlassenen und dadurch verzogenen Kinder dringend benötigen, um neuen Mut zu schöpfen, damit sie gemeinsam mit den Pflanzen heranwachsen, reifen und aufblühen können. Durch die einmal entstandene Bewegung in den festgefahrenen Strukturen ist der Anstoß für weitere Veränderungen gegeben, von denen auch Mr. Craven nicht unberührt bleibt.

Fazit

Der geheime Garten ist ein Klassiker, der in keinem Bücherregal fehlen sollte. Neben wunderschönen Landschaftsbeschreibungen werden in dem Roman auf einfühlsame Weise die verschiedenen Figuren charakterisiert. Ihr Gefühlsleben wird so vielschichtig dargestellt, dass es wie im wahren Leben nicht immer nur schwarz und weiß, gut oder böse gibt. Das führt dazu, dass der Roman auch nach Jahrzehnten nichts von der magischen Wirkung auf seine Leser jeglicher Altersstufen verloren hat und inzwischen auch auf zahlreiche Verfilmungen zurückblicken kann.

Quellen

  • Holbrook Gerzina, Gretchen: Introduction. In: Frances Hodgson Burnett: The Annotated Secret Garden. Hrsg. von Gretchen Holbrook Gerzina. London: W W Norton & Co, 2007. S. xiii-xI.
  • Hodgson Burnett, Frances: Der geheime Garten. Aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Freya Stephan-Kühn. Würzburg: Arena Kinderbuch Klassiker, 1998. 3. Auflage.
Titel: Der geheime Garten
Autor/-in:
  • Name: Hodgson Burnett
Originalsprache: Englisch
Originaltitel: The Secret Garden
Übersetzung:
  • Name: Freya Stephan-Kühn
Erscheinungsort: Würzburg
Erscheinungsjahr: 2010
Verlag: Verlag Arena
ISBN-13: 978-3401065236
Seitenzahl: 224
Preis: 7,99 €
Altersempfehlung Redaktion: 8 Jahre
Hodgson Burnett, Frances: Der geheime Garten