Inhalt

"Fünfzig Kilometer bis nach Fehmarn. Das ist echt weit. Wenn die Strömung mitspielt, schaffen wir die Strecke in fünfundzwanzig Stunden. Momentan herrscht ablandiger Wind. Hoffentlich bleibt es dabei… "(S.8).

Warnemünde, August 1989: Hanna erzählt von dem waghalsigen Plan, den sie und ihr Freund Andreas in die Tat umsetzen wollen: Schwimmend wollen sie aus der DDR fliehen und die Ostsee durchqueren. Damit sie sich nicht verlieren, verbinden sie sich mit einem Seil an den Handgelenken.

Weil sie sich nicht anpassen wollten, immer wieder gegen Schule, Lehrer und System rebellierten, West-Musik hörten, offen die SED kritisierten, sind die Jugendlichen ins Visier der Staatsmacht geraten.

"Ich werde niemals den Beruf haben, den ich haben will. Ich werde niemals sagen können, was ich denke. Ich werde immer lügen müssen. Und ich werde immer anecken. Keiner erklärt einem hier irgendwas. Man muss Befehle befolgen können, das ist alles" (S. 271f.), begründet Andreas seine Entscheidung.

Hanna ist Leistungsschwimmerin, sowohl eine sportliche Karriere als auch das Abitur sind ihr jedoch aufgrund ihrer kritischen Haltung verwehrt. Für Andreas kommt es noch schlimmer. Wegen seines rebellischen Verhaltens wird er zeitweise in einen Jugendwerkhof geschickt, wo er „sozialistisch umerzogen“ werden soll (einen Einblick in die unmenschlichen Bedingungen, unter denen Jugendliche hier leben mussten, gibt Grit Poppe in ihren Romanen Weggesperrt und Abgehauen). Von Andreas kommt schließlich der Vorschlag, über die Ostsee in die BRD zu fliehen. Hanna ist zunächst skeptisch, hat Angst und Bedenken. Zu viel hat sie von ihrem Großvater über gescheiterte Fluchtversuche auf der Ostsee gehört. Doch Andreas lässt sich nicht bremsen, dabei ist sie es doch, die Leistungsschwimmerin ist, nicht er. Sie fürchtet, dass er es gar nicht schaffen könnte, doch alleine lassen kann und will sie ihren besten Freund, den sie seit der frühsten Kindheit kennt, auch nicht.

Die Lebensgeschichte der jugendlichen Protagonisten entfaltet sich in Rückblenden, die als Erinnerungen der homodiegetischen Erzählerin Hanna gestaltet sind. Passagen, die von der Gegenwart erzählen, dem verzweifelten Kampf durch das Wasser, wechseln sich stets ab mit Analepsen, die vom Leben Hannas und ihrer Freunde Andreas und Jens (genannt "Sachsen-Jensi") berichten. So konstruiert sich die Handlung aus zwei Erzählsträngen: Gegenwart und Vergangenheit.

Kritik

Ergreifend, erschütternd, berührend, der beste DDR-Roman für Jugendliche bisher – dies sind einfache Schlagworte, die die Beurteilung von Dorit Linkes ersten Buch auf den Punkt bringen. Hannas Geschichte vom Leben in der DDR und ihrer Flucht über die Ostsee berührt vielleicht gerade deshalb in besonderer Weise, weil der Sprachstil klar ist und beinahe nüchtern daherkommt. Das gilt selbst für die dramatischen Passagen, die den verzweifelten Kampf der Jugendlichen mit dem kalten Wasser der Ostsee beschreiben:

Wir reden nicht. Gibt nichts zu reden, kostet außerdem Energie. Habe das Gefühl für die Zeit  verloren. Die Sonne steht hoch am Himmel, vermutlich später Vormittag. Wellenberg,  Wellental, Wellenberg, Wellental. Das Wasser ist trübe, die Ostsee eine Wüste, trostlos und  öde. Kein Leben, nicht einmal mehr Quallen. Schiffe am Horizont, doch sie kommen nicht  näher. (S. 163).

Sparsame Worte, redundante, kurze Sätze – dem Leser ist, als schwimme er mit Hanna und Andreas über die nicht enden wollende Ostsee, sehe um sich herum nur noch Wasser, Kälte, Verzweiflung. Man wird mitten hineingezogen in die Handlung, sieht und fühlt bei der Lektüre beinahe nur noch Wasser – und dann immer wieder Hoffnung am Horizont, im wahrsten Sinne des Wortes, in Form von Bojen und Schiffen. Doch es ist kaum auszuhalten, wenn die Schiffe die Flüchtlinge nicht sehen, ein kleiner Junge den Schwimmern winkt, aber nicht seinem Vater Bescheid sagt. 

Der Junge versteht nicht, was vor sich geht, begreift nicht, dass wir in Gefahr sind, ist noch  zu klein. Mit der Bewegung des Schiffes dreht er langsam den Kopf, um uns beim  Vorbeifahren weiterhin sehen zu können. Ich winke ihm zu und er winkt noch einmal zurück  (S. 170).

Dorit Linke schreibt so dicht, so packend, ist so nah an ihren Protagonisten, dass sich Szenen wie diese kaum ertragen lassen. Und die ganze Lektüre über begleitet einen die Frage: Werden sie es schaffen? Sie müssen einfach, sie müssen!

Hier ist angezeigt, dass es sich bei Jenseits der blauen Grenze um einen doppelsinnigen Text handelt, der sowohl jugendliche als auch erwachsene Leser in seinen Bann zu ziehen vermag. Durch die Rückblenden erfährt man viel über das Leben in der DDR, doch an keiner Stelle ist der Roman dabei belehrend und verzichtet auch auf Stereotypen und Klischees. So gibt es in den Analepsen z.B. sowohl positiv als auch negativ gezeichnete Lehrerfiguren, zudem wird kein Täter-Opfer-Topos konstruiert, wie Carsten Gansel es für viele andere Titel der Wendeliteratur für junge Leser herausgestellt hat (vgl. Gansel, Carsten: "Atlantiseffekte in der Literatur?  Zur Inszenierung von Erinnerung an die verschwundene DDR", in: Dettmar, Ute/ Oetken, Mareile (Hrsg.): Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder-  und Jugend) Literatur und Medien. Heidelberg: Winter 2010. S. 17-50.)

Insgesamt sind die Figuren alle äußerst differenziert konzipiert, sie wirken real und glaubwürdig, weshalb man am Ende beinahe auf den Hinweis wartet, es handele sich hier um eine wahre Geschichte. Der aber bleibt aus – was bleibt, ist tiefe Berührung, ja, Erschütterung und die Hoffnung, die literarischen Figur Hanna möge im Westen wenigstens Sachsen-Jensi wiederfinden…

Fazit

Der beste DDR-Roman seit langem für junge (und erwachsene) Leser ab 16 Jahren, die schon ein wenig über die Geschichte der DDR wissen. Möge er zahlreiche Leser finden!

Titel: Jenseits der blauen Grenze
Autor/-in:
  • Name: Linke, Dorit
Erscheinungsort: Bamberg
Erscheinungsjahr: 2014
Verlag: Magellan Verlag
ISBN-13: 978-3734856020
Seitenzahl: 304
Preis: 16,95 €
Altersempfehlung Redaktion: 16 Jahre
Linke, Dorit: Jenseits der blauen Grenze