Inhalt

In diesem Jahr soll alles anders werden. Mit sechzehn Jahren ist man schließlich soweit, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Doch das neue Schuljahr im altehrwürdigen Internat Schloss Stolzenburg hält für Emma Morgenroth nicht nur positive Überraschungen bereit. Ihr Plan, im Westflügel des Schlosses einen Bibliotheksclub einzurichten, scheitert am Eingreifen des arroganten Darcy de Winter. Der Sohn des Schlossbesitzers taucht ohne Erklärung zu Beginn des Schuljahres auf, nimmt ganz selbstverständlich den Westflügel in Besitz und hat für die von Emma organisierte Schuljahresanfangsparty nur Spott übrig. Emma ist empört über das überhebliche Verhalten von Darcy, auch wenn ihre beste Freundin Charlotte sich ganz ausgezeichnet mit dessen besten Freund Toby Bell versteht.

Viel interessanter ist jedoch das geheimnisvolle alte Buch, das sie beim Aufräumen der Bibliothek entdeckt und das anscheinend eine Chronik des Schlosses und seiner Bewohner enthält. Als Emma sich ebenfalls als Chronistin versucht und daraufhin lauter unerklärliche Dinge geschehen, wird ihr langsam klar, dass sie es mit einem magischen Gegenstand zu tun hat. Das Buch lässt offenbar alles, was man hineinschreibt, Wirklichkeit werden – allerdings nicht immer auf die erwartete Weise… Doch auch mit einem magischen Buch lassen sich leider nicht alle Dinge regeln oder aufklären, wie Emma feststellen muss. So muss sie mit ansehen, wie Toby von einem Tag auf den anderen den Kontakt zu Charlotte abbricht. Und obwohl sie es nicht beweisen kann, ist Emma sich sicher: Dahinter kann nur Darcy stecken!

Darcy selbst ist jedenfalls nicht ohne Grund nach Schloss Stolzenburg gekommen. Er möchte wissen, was wirklich vor vier Jahren passiert ist, als seine Zwillingsschwester Gina spurlos verschwand. Vor ihrem Verschwinden hatte sie immer wieder von einem Fabelwesen geredet, einem Faun, dessen wahres Wesen nur sie kannte. Auch in der Chronik taucht dieser Faun auf – und zwar in einem Märchen, das die berühmte englische Schriftstellerin Eleanor Morland vor zweihundert Jahren verfasst hat, als sie ein Jahr auf Stolzenburg verbrachte. Was haben dieses Märchen und Ginas Verschwinden miteinander zu tun? Führt die Spur etwa zu der alten Klosterruine im Wald, wo eine seltsame Statue mit Bocksfüßen steht? Und was weiß Frederick Larbach, dessen Vorfahren seit Generationen auf Schloss Stolzenburg arbeiten und für den Emma seit Jahren heimlich schwärmt?

Der Schlüssel zu all diesen Rätseln liegt, wie könnte es anders sein, in der Chronik. Allerdings erweist diese sich ein ums andere Mal als ein trügerischer Führer. Und gerade als es scheint, als könnte sich Frederick endlich für sie interessieren, mehren sich die Hinweise, dass auch er mehr über Ginas Verschwinden weiß, als er zugeben möchte. Doch dann erhält Emma plötzlich Hilfe von der Person, von der sie sie zuallerletzt erwartet hätte.

Kritik

Ein Internat in einem alten Schloss, ein magisches Buch und eine alte Legende – es sind bekannte Motive fantastischer Literatur, die Mechthild Gläser in ihrem Roman verwendet. Die Verzahnung mit Elementen aus dem Werk der vor zweihundert Jahren verstorbenen Jane Austen, die im Roman als Eleanor Morland auftritt, ist schon etwas ungewöhnlicher. Austens Werk hat, angefeuert durch zahlreiche filmische Adaptionen, eine popkulturelle Verbreitung erfahren, die schon längst die Grenze zur Fankultur überschritten hat und bisweilen recht eigenwillige Züge annimmt. Auch Gläser versieht ihre Figuren mit Namen und Charakterzügen von Austens Figuren und greift einige Schlüsselszenen auf. Dabei handelt es sich tatsächlich nicht, wie der Titel suggeriert, ausschließlich um Figuren und Motive aus Emma (1816) sondern vor allem aus Austens medial wesentlich präsenterem Roman Stolz und Vorurteil (1813). Diesem entnimmt sie nicht nur die Figur des Mr. Darcy, sondern auch die Liebesverwirrung zwischen dessen besten Freund und – bei Austen – der Schwester der Protagonistin, die bei Gläser zu Emmas bester Freundin Charlotte wird. Unglücklicherweise führt die Reduzierung auf einige "typische" Eigenschaften zu einer Verflachung der Charaktere wie im Fall von Darcy de Winter, der bei Gläser eher als ein unhöflicher Schnösel erscheint, der nicht selten auch die Grenzen des guten Benehmens überschreitet:

Tatsächlich hatte ich schon bald vollkommen vergessen, dass ich eigentlich auf mein Essen wartete. Ich erschrak daher, als sich plötzlich jemand von hinten zuerst an Hannah und dann an mir vorbeischob und sogar Dr. Meier unsanft zur Seite drängte, nur um Frau Berkenbeck seinen Teller unter die Nase zu halten.
'Die Damen haben anscheinend keinen Hunger mehr', sagte Darcy mit einem Nicken in unsere Richtung und ließ sich dann, ohne mit der Wimper zu zucken, eine extragroße Portion geben. (S.67)

Darcy de Winter unterscheidet sich somit deutlich von seinem literarischen Vorbild, der zwar arrogant, aber formvollendet Elizabeth Bennet und ihr Familie ablehnt, eben weil sie gegen das gute Benehmen verstoßen. Dass Gläsers Darcy nun auch die Planstelle des romantischen Helden mit tragischer Vergangenheit besetzen muss, macht die Figur nicht origineller.

Durch die Versetzung der Figuren aus Austens Romanen aus der englischen Gentry in eine deutsche Eliteschule des 21. Jahrhunderts können zudem die rigiden Gesetze des Klassensystems, die das Leben von Jane Austens Protagonisten bestimmen, nicht mehr gelten. Bedeutet etwa in Stolz und Vorurteil für Jane Bennet die Vereitlung einer Ehe mit Mr. Bingley das Scheitern einer sicher geglaubten ökonomischen wie sozialen Absicherung ihrer Zukunft, führt bei Gläser Tobys plötzliches Schweigen lediglich zu ein paar Tagen Liebeskummer für Charlotte. Analog wird aus der Konstellation des Hypotextes Emma – Frank Churchill – Mr. Knightley im Hypertext das jugendliterarisch arg überstrapazierte Liebesdreieck Emma – Frederick – Darcy, dessen Ausgang selbst wenig genreerprobten LeserInnen klar sein sollte. Die Ausblendung des sozialen Kontextes, der in Austens Romanen eine entscheidende Rolle spielt, führt somit zu einer deutlichen Trivialisierung der Figurenkonstellationen und Handlungsstränge.

Auch die Austen selbst nachempfundene Figur der Eleanor Morland wirft zumindest Fragen auf. Ihr Nachname bezieht sich auf Catherine Morland aus Austens Romanerstling Die Abtei von Northanger. Hierbei handelt es sich um eine Parodie auf den Schauerroman mit all seinen geheimnisvoll-fantastischen Elementen und man fragt sich unwillkürlich, was Jane Austen wohl zu einem fantastischen Roman gesagt hätte, in dem eine fiktionale Version ihrer selbst romantische Märchen über Feen und Faune schreibt. Tatsächlich lässt sich dieses Bild schwer mit dem der scharfzüngigen Beobachterin gesellschaftlicher Verhältnisse in Einklang bringen, das sich aus Austens tatsächlichen ersten literarischen Versuchen ableiten lässt.

Das eigentliche Problem von Gläsers Roman ist jedoch, dass die Austenreferenzen scheinbar um ihrer selbst willen im Text erscheinen und der spannend erzählte Handlungsstrang um den Faun und die Chronik von Stolzenburg hiervon weitgehend unabhängig verläuft. Tatsächlich fragt man sich, ob die Geschichte ohne die Verweise auf Jane Austen und ihr Werk nicht einiges gewonnen hätte.

Gelungen sind hingegen die Szenen, die die Autorin frei entwickeln konnte. So wird etwa die Szene, in der Emma bei einem Date mit ihrem Schwarm Frederick ihren Alkoholkonsum vollkommen unterschätzt und schließlich betrunken von diesem nach Hause gebracht werden muss, auf recht unterhaltsame Weise aus der Perspektive von Emma erzählt, die sich am Aufsagen aller ihr bekannten Zungenbrecher versucht:

"Schon nach kurzer Zeit war ich so vertieft in Pfritschers Schitz, pardon, Bilschers Fitsch, äh… dass ich es doch ein wenig unhöflich fand, als Frederick irgendwann das Thema wechselte. 'Du kannst nicht bei jedem Wort stehen bleiben, bis du es endlich fehlerfrei ausgesprochen hast, Emma', sagte er und zog mich weiter den Berg hinauf." (S.147f.)

Gläser lässt Emma als autodiegetische Erzählerin die LeserInnen auf ungefilterte Weise an ihrem Innenleben und entsprechend gefilterte Weise an den Ereignissen um sie herum teilhaben. Das entspricht den Konventionen zeitgenössischer Jugendliteratur und vermittelt der LeserIn ein weit besseres Gefühl für den Charakter der Protagonistin als es die einzelnen Szenen tun, die gerade in den "Austenteilen" stark unter diesem Zwang zur Vergleichbarkeit leiden. Unabhängig von ihrem Vorbild ist Gläsers Emma eine sympathische Protagonistin, mit deren großen und kleinen Schwierigkeiten LeserInnen sich gut identifizieren können.

Die bekannte Kombination von Schulgeschichte mit magischen Elementen und einer Liebesgeschichte ist routiniert umgesetzt. LeserInnen fantastischer Literatur dürften sich jedoch daran stören, dass Gläser die Regeln, die sie für die Magie ihrer erzählten Welt aufstellt, nicht immer einhält. So ist angeblich die Magie des Buches auf den Raum von Stolzenburg und seiner Umgebung beschränkt. Dennoch gelingt es Emma mithilfe der Chronik, einen Preis für ihren Vater herbeizuschreiben, der von der Europäischen Kommission in Brüssel verliehen wird. Und auch die Auflösung am Schluss weist einige logische Schwächen auf, die den Lesegenuss etwas trüben.

Fazit

Eine fantastische Schulgeschichte, eine Liebesgeschichte und eine Jane Austen-Adaption mit ein paar Schwächen, aber auch vielen spannenden Momenten und einer liebenswerten Protagonistin, deren amouröse Verwirrungen LeserInnen im Alter ab 12 Jahren mit einigem Vergnügen verfolgen können.

 

Titel: Emma, der Faun und das vergessene Buch
Autor/-in:
  • Name: Gläser, Mechthild
Erscheinungsort: Bindlach
Erscheinungsjahr: 2017
Verlag: Loewe Verlag
ISBN-13: 978-3-7855-8512-2
Seitenzahl: 416
Preis: 18,95 €
Altersempfehlung Redaktion: 12 Jahre
Gläser, Mechthild: Emma, der Faun und das vergessene Buch