Inhalt

Schauplatz von Dirk Reinhardts neuem Jugendroman ist das von den Taliban besetzte Afghanistan. Er erzählt in Über die Berge und über das Meer die Geschichte zweier in sehr unterschiedlichen Verhältnissen lebenden  Jugendlichen, die sich sehr nahe stehen und im Laufe der Handlung unabhängig voneinander beide die Flucht nach Deutschland antreten: Soraya und Tarek. Soraya ist als Junge aufgewachsen, denn sie ist die siebte Tochter der Familie. Um Schande von der Mutter abzuwenden, folgt die Familie einem alten Brauch und tarnt das Mädchen als Jungen. So kann sie zur Schule gehen, sich draußen frei bewegen, an Lenkdrachenkämpfen teilnehmen und im See baden – alles Dinge, die ihr als Mädchen verwehrt wären. Jedes Jahr im Frühling kommen die Kuchi, afghanische Nomaden, in Sorayas Dorf. Unter ihnen ist  Tarek, den Soraya, die unter dem Namen Samir lebt, deshalb so besonders mag, weil er wunderbar Geschichten erzählen kann. Doch in dem Jahr, als die Handlung einsetzt, wartet Soraya vergeblich auf ihren Freund aus den Bergen. Ihre Zeit, als Junge leben zu können, läuft ab. Sie ist inzwischen 14 Jahre alt und müsste langsam anfangen, sich an das häusliche Leben einer Frau zu gewöhnen. Obwohl sie in ihrer älteren Schwester eine gute Lehrerin hat, die ihr Lektionen in Unterwürfigkeit, Zurückhaltung und Schönheitspflege erteilt, kann Soraya sich an den Gedanken überhaupt nicht gewöhnen. Eines Tages deckt ein Taliban ihre  Identität als Mädchen auf, demütigt Soraya zutiefst, schlägt und misshandelt sie öffentlich und setzt ihren Vater unter Druck. So kommt dieser zu einer folgenschweren Entscheidung: Er investiert viel Geld, um seiner jüngsten Tochter die Flucht nach Istanbul und so die Chance auf ein besseres Leben zu ermöglichen. Was Soraya nicht weiß: Fast zeitgleich trifft der Vater ihres Freundes Tarek eine ähnliche Entscheidung, wenngleich hier andere Beweggründe im Spiel sind: Das Leben der Kuchi in den Bergen wird immer schwerer. Sowohl das Taliban-Regime als auch die Folgen des Klimawandels, verdorrende Weiden und austrocknende Flüsse, machen den Hirten und Nomaden zu schaffen. Auch Tareks Vater will in ein besseres Leben seines Sohnes investieren, verkauft Schafe, um die Schleuser zu bezahlen, die den Jungen nach Deutschland bringen sollen. Sowohl Soraya als auch Tarek machen Schlimmes durch, werden auf der Flucht drangsaliert, bestohlen, unter Lebensgefahr in Laster und Boote gepfercht, aber sie finden auch Freunde. In den iranischen Bergen, kurz vor der türkischen Grenze, kreuzen sich die Wege der beiden Protagonisten. Hier offenbart Soraya Tarek ihre weibliche Identität , wodurch er sich noch mehr zu ihr hingezogen fühlt als vorher schon. Beide schaffen die Flucht, und am Ende kommen sie unabhängig voneinander in Süddeutschland an. Zuvor hatte Soraya eine Zeit in Istanbul verbracht, doch der Freund ihres Vaters ist nicht mehr dort, und so arbeitet sie in einer Textilfabrik, um das Geld für den weiteren Fluchtweg nach Deutschland zu verdienen, denn seit der Begegnung mit Tarek in den Bergen weiß sie, dass er nach Deutschland wollte....

Kritik

Wie schon in den Train Kids zeigt sich Dirk Reinhardt als Meister der unaufgeregten, feinsinnigen Erzählkunst, entfaltet erneut eine akribisch recherchierte Fluchtgeschichte, die durch Authentizität, sensible Figurenkonzeption und atmosphärische Dichte in den Raumdarstellungen überzeugt. Diesmal erzählt er von der Fluchtroute von Afghanistan durch den Iran, die Türkei, Ungarn und Griechenland nach Deutschland (im Vorgänger Train Kids stand die südamerikanische Fluchtroute von Mexiko in die USA im Fokus). Reinhardt erschafft Spannung, ohne je reißerisch zu sein. Er verzichtet auf schnelle Handlungsstränge, sondern setzt vielmehr auf poetisch verdichtete Beschreibungen von Schauplätzen und Figuren. Dadurch entsteht ein differenziertes Bild des von den Taliban besetzten Afghanistans und seinen Menschen. Für Sorayas ist das Leben dort "wie ein Kampf zwischen Tag und Nacht":

Am Tag kommen die Amerikaner, dringen in die Häuser ein, durchsuchen und verwüsten alles, lassen ihren Dolmetscher unangenehme Fragen stellen und verschleppen jeden, von dem sie glauben, er könnte Kontakt zu den Taliban haben. Und in der Nacht, im Schutz der Dunkelheit, steigen die Taliban aus den Bergen herab, pochen gegen die Türen jener, die sie im Verdacht haben, mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten, lassen sich von ihnen bewirten, bedrohen sie, manchmal verprügeln sie sie auch. Die meisten hier wollen weder mit den einen noch mit den anderen etwas zu tun haben und wünschen sich einfach, in Ruhe gelassen zu werden. (S. 11) 

Immer wieder betont der Text die Passivität der afghanischen Bevölkerung, die weder einen der Kriege im Land noch den Klimawandel zu verantworten hat, was ebenso im Nachwort explizit betont wird, das die Geschichte paratextuell rahmt, wie auch Landkarten in der Buchklappe, auf denen die Fluchtwege der Jugendlichen eingezeichnet sind.

Die Handlung ist variabel fokalisiert, kapitelweise wechseln sich die Erzählstimmen von Soraya und Tarek ab und ihre Geschichten entwickeln sich sukzessive aufeinander zu. Nicht zuletzt diese Erzählstrategie macht den Roman anspruchsvoll, aber sie sorgt auch für die Spannung der Geschichte, denn die Leserinnen und Leser sind immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob Soraya und Tarek die Flucht schaffen und ob sie einander wiederfinden werden.

Ob es diese Liebesgeschichte, die der Story ein Stück der oben angepriesenen Authentizität nimmt, wirklich braucht, bleibt zu diskutieren. Auch das offene Ende erscheint insofern ein wenig fragwürdig, als dieses stehen bleibt bei der Ankunft in Deutschland. Probleme der Flüchtlinge hier werden höchstens angedeutet, wodurch  ein Stück der Verklärung aufscheint, die Sorayas Freundin Alisha, die sie auf der Flucht kennengelernt hat, auch explizit formuliert. Die Figurenrede beschreibt Deutschland als Land ohne Krieg, in das alle Syrer wollen:

Alle sind freundlich zu dir, egal woher du kommst. Kinder müssen nicht arbeiten, weil sie auch so genug zu essen haben, und können immer zur Schule gehen. Und man sagt, die deutschen Schulen wären die allerbesten. (S. 206)

Ein wenig aber akzentuiert das Ende aber auch die Fremdheit, die die geflohenen Menschen empfinden und erzählt vom Heimweh Sorayas und Tareks, denn gerade für den Jungen ist es schwer, sich einzufügen in ein sesshaftes Leben, das er bei den Kuchi nie geführt hat. Dennoch kann man dem Roman vorwerfen, dass er bei einer leicht verklärenden Darstellung deutscher Willkommenskultur stehenbleibt. Aber das kann man ja vielleicht auch positiv sehen...

Fazit

Ein sensibler, mitreißender Flucht-Roman, der gerade durch seine langsame Erzählweise überzeugt.Unter anderem, weil die Geschichte von Soraya, die zunächst als Junge aufwächst und dann plötzlich als Mädchen leben und verheiratet werden soll, sensibel und feinfühlig dargestellt ist, eignet der Roman sich sowohl für Jungen als auch für Mädchen. Durch die variable Fokalisierung weist er Identifikationsangebote für beide Geschlechter auf. Da der Text auf schnelle Handlungsabläufe verzichtet, ist es aber auch ein sehr anspruchsvoller Roman, der genaues Lesen erfordert. Empfohlen sei er Jugendlichen ab 16 Jahren. Ihnen bietet Dirk Reinhardt eine spannende, bewegende und authentische Flucht-Geschichte, bei der man "ganz nebenbei" auch noch viel über die Geschichte Afghanistans lernt.

Titel: Über die Berge und über das Meer
Autor/-in:
  • Name: Reinhardt, Dirk
Erscheinungsort: Hildesheim
Erscheinungsjahr: 2019
Verlag: Gerstenberg Verlag
ISBN-13: 978-38636-956765
Seitenzahl: 317
Preis: 14,95 €
Altersempfehlung Redaktion: 16 Jahre
Reinhardt, Dirk: Über die Berge und über das Meer