von Kirsten Kumschlies

Wer hat schon vom seltenen Usher-Syndrom gehört? Karen-Susan Fessel macht in ihrem neuen Jugendroman Blindfisch nicht nur auf diese Krankheit aufmerksam, sondern ergreift wieder einmal Partei für Jugendliche, deren Probleme nicht im ständigen Fokus der Öffentlichkeit stehen – aber immer präsent sind. Für alle Fessel-Fans ein Muss, die anderen werden nach der Lektüre dieses eindringlichen, poetischen Textes zu ebensolchen werden.

Inhalt

Lon, 16jährig und homosexuell, weiß, dass er bald erblinden wird. Er leidet am seltenen Usher-Syndrom, das sowohl Augen als auch das Innenohr angreift. Mit der Schwerhörigkeit, die durch Hörgeräte abgemildert wird, lebt der Protagonist in Karen-Susan Fessels Jugendroman schon lange. Doch zum Zeitpunkt der Erzählgegenwart, die sich auf die Monate März bis August erstreckt, merkt er, dass nun auch die Sehfähigkeit immer mehr nachlässt, was ihn sehr belastet. Seinem Umfeld mag er sich zunächst nicht anvertrauen und zieht sich in sein Innerstes zurück. Zwar fährt er mit auf Klassenfahrt und trifft sich weiter mit seinem ebenfalls homosexuellen Freund Oscar. Beide verlieben sich in ihren neuen Mitschüler Damian. Während Oscar lautstark von dessen Ausstrahlung und Optik schwärmt, schweigt Lon und lässt nur die Leserinnen und Leser durch interne Fokalisierung an seinem Innenleben teilhaben. Doch trotz des inneren Rückzugs lässt sich die Erblindung nicht länger verheimlichen. Immer wieder stolpert Lon, fällt beim Stand-Up-Paddling ins Wasser und verursacht beinahe Unfälle. Mithilfe seiner Mitschülerin Merle, die ihn behutsam mit der Realität konfrontiert, schafft Lon es schließlich, nach der Klassenreise mit seinen Eltern zu sprechen – und die Krankheit mit all ihren Härten anzunehmen. Der heiß umschwärmte Damian nimmt seine Hand.

Kritik

So eröffnet das Buch mit der schweren und belastenden Thematik schlussendlich eine Hoffnungsperspektive. Karen-Susan Fessel ist dafür bekannt, dass sie schwierige Themen jugendliterarisch anfasst und sich nicht davor scheut, von belasteten und dysfunktionalen Lebensverhältnissen zu erzählen (z.B. in Steingesicht, 2001 oder Und wenn schon!, 2002): Man kennt Fessel als engagierte Autorin, in deren Texten Außenseiterinnen und Außenseiter, abwesende und sterbende Eltern, homosexuelle Beziehungen, intersexuelle und Trans*Figuren im Mittelpunkt stehen. Hier reiht sich auch Blindfisch in fulminanter Weise ein. Neben der poetischen Sprache ist vor allem an diesem mit nur 205 Seiten relativ kurzen Romans der Umgang mit der Geschlechtsidentität des Protagonisten Lon bemerkenswert. Denn diese bleibt unkommentiert stehen und wird weder vom Figurenarsenal noch vom Ich-Erzähler selbst thematisiert, sodass diese über weitere Strecken unklar und offen erscheint. Auf diese Weise entgeht die Darstellung jeglicher Stigmatisierung und liest sich als jugendliche Coming-of-Age-Story, die aber enorm durch Behinderung und Krankheit geprägt ist. Fessel entführt ihre Leserinnen und Leser in das Innenleben ihrer Fokalfigur, lässt sie teilhaben an seinen Ängsten und Nöten, dem inneren Kampf. Diesen fasst sie in stakkatoartige Sätze, die dem Text eine anrührende und mitreißende Poetik einschreiben und Teile des Textes in die Nähe von Lyrik rücken:

"Ich will das alles nicht.

Noch nicht.

Ich will eine Gnadenfrist. So lange normal sein, wie es nur geht.

Und wie lange das dauert, will ich selbst bestimmen" (S. 52)

Oder:

"Ich will noch nicht.

Weil ich ab da für den Rest meines Lebens nie mehr als 

normal durchgehen werde.

Nicht mehr sehend bin.

Sondern blind.

Blind und behindert.

Blindfisch" (S. 112)

So wird der Prozess, den Lon durchmacht, anschaulich und fast schmerzhaft spürbar und überzeugt in literarästhetischer Hinsicht durch seine Sprachkraft.

Ein eindringlicher Jugendroman, den man als einen der besten Karen-Susan Fessels charakterisieren könnte, wenngleich ihre anderen allesamt sehr starken Texte mit diesem Superlativ nicht zu schmälern sind.

Fazit

Ein beeindruckender Jugendroman aus der Feder einer renommierten Autorin, die wieder einmal aufmerksam macht auf benachteiligte Menschen in unserer Gesellschaft, ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben. Der Text ist empfehlenswert für jugendliche Leserinnen und Leser ab 14 Jahren, die an realistischer Jugendliteratur interessiert sind – und ebenso als Klassenlektüre in der Sekundarstufe I.

Titel: Blindfisch
Autor/-in:
  • Name: Fessel, Karen-Susan
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: Oetinger
ISBN-13: 978-3-7512-0260-2
Seitenzahl: 205
Preis: 18,00
Altersempfehlung Redaktion: 14 Jahre
Fessel, Karen-Susan: Blindfisch