Inhalt

Mit einer Vorbemerkung beginnt das Bühnenmanuskript. Der Autor informiert, dass "bei einer von geschätzt 100.000 Weinbergschnecken sich das Häuschen links- statt rechtsrum windet, ein genetisches Phänomen" (S. 2). Diese seltenen Exemplare, diese Außenseiter ihrer Gesellschaft, werden "Schneckenkönige" genannt.

Caruso, die frisch geschlüpfte Schnecke, ist solch eine Schneckenkönigin, eine Außenseiterin in der Schneckengemeinschaft. Die Altschnecke Balboa bemerkt schnell "irgendwas an dir ist ungewöhnlich." (S. 8) und die Schneckenkinder Pänky und Hänky staunen über Carusos Haus. Mit einem "kehrt...ver...ich meine...es ist verkehrt. Falschherum" (S. 14) versuchen sie ihre Abneigung auszudrücken. All das erschüttert Caruso wenig und bringt sie nicht von ihrer Neugier und Lust auf das Leben ab.

SCHNECKE      Hallo Welt, hier bin ich!
Hallo Wiese, hallo Gras!
Wow, ist das toll hier, spinn ich? 

Schön, das Licht, ich mag das. 

Eben noch tief unterm Dreck, 
einsam war die Dunkelheit.
Raus jetzt aus dem Schlüpfversteck! 
Hey, hallo Geselligkeit! (S. 7)

Dass der Igel der größte Feind der Schnecken sei, wird Caruso frühzeitig beigebracht. Der Feind lebt aber glücklicherweise auf der anderen Seite der Hecke. Caruso, halb ausgestoßen aus der Gemeinschaft, halb hingezogen von ihrer Neugier auf die Welt, wagt sich heraus, schaut hinter die Hecke. Dort stößt Caruso auf ein anderes Tier, einen verwirrt und orientierungslos über die Wiese kriechenden Igel. Pieks, so nennt Caruso den stacheligen Freund treffend, den sie aus Unkenntnis ebenfalls als Schnecke ansieht, hat mit argen Blessuren am Kopf den Zusammenprall mit einem Auto überlebt. Mit dem Auftritt von Krall, dem Steinadler und Todfeind der Igel, wird die junge Freundschaft auf die Probe gestellt. Nur mit solidarischem Handeln kann der Adler vertrieben werden. In Carusos und Pieks größter Not hat sich unerwartet das andere Schneckenkind Hänky herangeschlichen und beißt sich in des Adlers Schwanzfedern fest.

Hänky      Sag hallo zu Hänkys Zähnen! 
Vierzigtausend hab ich von denen. 
Jeder eine scharfe Klinge.
Du jaulst, mein Freund, doch ich - ich SINGE! (S. 27)

Krall schwört Rache an den Igeln, doch Pieks greift ein, rammt mehrfach seine Stacheln in das Federkleid und vertreibt den jammernden Adler. Die Freundschaft zwischen Igel und Schnecken ist endgültig besiegelt. Der Kreis der Geschichte schließt sich. Caruso, die jüngste und mutigste unter den Tierfiguren, proklamiert selbstbewusst ihre Lebenspläne.

Caruso            Prima. Na, dann wollen wir mal.
Hänky             Wollen wir mal? WAS wollen wir mal?
Caruso            Na, loskriechen, was sonst?
Hänky             Wohin denn?
Caruso            Keine Ahnung. In die große, weite Welt.
Pieks               Wieso?
Hänky             Was gibt es denn da?
Caruso            Das werden wir dann sehen. Zurück auf die Wiese krieche ich jedenfalls bestimmt nicht. Da hat man mich gar nicht verdient. (S. 30)

Raschke Schnecke durch Hecke Inszenierung wiesbadenAbb. 2 Junges Staatstheater Wiesbaden Schnecke durch die Hecke mit Vera Hannah Schmidtke

Kritik

In dem Stück geht es um Anderssein und Ausgrenzen, um Vorurteile und um die Sehnsucht, dazuzugehören. Raschkes Protagonisten sind Tierfiguren. Er wählt dabei nicht die klassischen Fabeltiere wie Fuchs, Bär oder Wolf, sondern stellt ungewohnt und unerwartet das Leben von Schnecken in den Mittelpunkt. Diese bringt der Autor ins Zusammenspiel mit Igel und Adler, ihren natürlichen Fressfeinden. Somit gelingt es Raschke, Schnecken, die als Zwitterwesen ohne Partner und Familienverband einzelgängerisch leben, als handelnde Akteure eines Stücks über Ausgrenzung und Solidarität zu etablieren. 

Raschke greift mit der Figurenkonstellation sich anfreundender (Tier-)Kinder – deren Eltern einander als Feinde gegenüberstehen - auf einen bekannten Topos in der Kinderliteratur zurück. In Friedrich Karl Waechters Kinderbuch Wir können noch viel zusammen machen (1973) erobert der Nachwuchs von Vogel, Fisch und Schweinchen gemeinsam die Welt. In dem Kinderbuchklassiker Ein Schaf fürs Leben von Maritgen Matter, seit 2004 auch dramatisiert und vielfach im Theater gespielt, finden Wolf und Schaf zur gemeinsamen Freundschaft, wie auch in Martin Baltscheits erfolgreichem Theaterstück Die besseren Wälder (Deutscher Jugendtheaterpreis 2010) sich Wolf und Schaf, Ganz und Bär gemeinsam nach ihren wahren Identitäten befragen.

Schnecken sind, rein theatralisch betrachtet, eine echte Herausforderung. [ ] Die Gemeinsamkeit, die mir am interessantesten erschien, ist unser Hang zum Ausgrenzen und Bewerten anderer Artgenoss:innen anhand von Äußerlichkeiten [ ] Ich persönlich finde ein gemischtes (also tier-menschliches) Rollenensemble am interessantesten, also wenn Tier auf Mensch trifft, und das nicht nur metaphorisch, sondern tatsächlich. (Raschke, S. 144f.)          

In diesem Sinn muss auch Schnecke durch die Hecke interpretiert werden: Tierfiguren, die metaphorisch für menschliches Handeln stehen, können ohne familienbezogene oder psychologisch begründete Vorgeschichte ins Spiel gebracht werden und sich dem jungen Publikum als Identifikationsfiguren anbieten. Die Handlungen und Konflikte werden zwar in der Tierwelt ausgetragen, zur Überleitung in die Erfahrungswelt der Kinder bedarf es aber nur weniger Schritte. Den Kindern sind sie aus eigenem Erleben bekannt.

Formal ist das Schauspiel ein Dialogstück. Die Sprache trifft in ihrer Grundhaltung eher den Kinderton als die Abgeklärtheit der Erwachsenenwelt. Die Dialoge sind für schnelle Wechsel geschrieben, Slangworte, Jugendsprache, offene Satzenden dominieren. Von zentraler Bedeutung sind die Lieder in dem Stück, zu denen Caruso, der seinen Namen aufgrund seiner Musikalität erhält, immer wieder anstimmt. Lieder und Musik haben bei Raschke weniger die Funktion im Sinne von Bertolt Brechts retardierenden Handlungsmomenten, sondern Caruso nutzt sie als zweite Ausdrucksebene. Neben den gesprochenen Worten bringen die Lieder ihr Lebensgefühl, ihre Lebensfreude und Optimismus auf gereimte und melodische Weise zum Ausdruck. 

Fazit

Schnecke durch die Hecke ist ein dramatischer Text im Sinne des emanzipatorischen Kindertheaters.  Es geht, ganz im traditionellen Muster, um Mut machen, um Neugier entwickeln, um den Blick auf das Unbekannte. Utopien und Märchenelemente sind in die Handlung eingebunden. Die Figuren grenzen sich von der restriktiv verordneten Welt der Erwachsenen ab. Die Konflikte sind klar konturiert, das Personal überschaubar und die Geschichte  führt durch solidarisches Handeln zu einem guten Ende. Raschkes Dramatik und Theaterverständnis zeigt sich hier einmal mehr als ein gesellschaftspolitisch intendiertes. Dabei entwickelt das Stück nicht die Brisanz von Was das Nashorn sah als es durch den Zaun schaute, eine Brisanz, die sich aus den Schrecken der nationalsozialistischen deutschen Geschichte ergibt. Schnecke durch die Hecke für Kinder ab sechs Jahren spielt im Hier und Heute und überzeugt durch seine allgemeingültige, menschliche Aussage.

Literatur

Raschke, Jens: Schnecke durch die Hecke, München: Theaterstückverlag, 2022

Raschke, Jens: Schnecke durch die Hecke – Interview. In: Spielzeitvorschau 2022/23. Hrsg. vom Staatstheater Wiesbaden. Wiesbaden, 2022. S. 144f

Information über die Uraufführung

Information über den Autor

Abbildungen

Abb. 1 Jens Raschke. Foto: privat

Abb. 2 Junges Staatstheater Wiesbaden Schnecke durch die Hecke, Foto: Christine Tritschler

Titel: Schnecke durch die Hecke
Autor/-in:
  • Name: Raschke, Jens
Uraufführung: Junges Staatstheater Wiesbaden, 04. 03. 2023
Erscheinungsort: München
Erscheinungsjahr: 2023
Verlag: Theaterstückverlag im Drei Masken Verlag, München
Altersempfehlung Redaktion: 6 Jahre
Jens Raschke