Daneben gab es einen Kinder-Erzählnachmittag und einen Erzählabend für Erwachsene (Erzählerinnen: Lore Giesen-Wiche, Heidrun Lück-Krüger und Kelley Kucaba) und eine Führung mit Kuratorin Dr. Manuela Husemann durch die Kunsthallen-Ausstellung "Tierischer Aufstand. 200 Jahre Bremer Stadtmusikanten in Kunst, Kitsch und Gesellschaft" (23. März bis 1. September). Im Wall-Saal gab es während des Symposiums die eigens von Katja Bischoff (Veranstaltungskoordinatorin der Stadtbibliothek Bremen) kuratierte Ausstellung "Stadtmusikanten³ – Bilder, Bücher, Bremensien" (21. Juni bis 25. Juli) zu sehen. Als zusätzliche Programmpunkte sorgten am Eröffnungstag eine Schülerperformance unter der Leitung von Lehrerin Janin Dietrich (Gymnasium Horn) und zwei "Nachtwächterrundgänge" mit Christine Renken und Dieter Herrmann, in dem der besondere Bezug der Stadt zu ihrem Märchen vorgestellt wurde, für bereichernde Unterhaltung. Das Tagungsbüro leitete Sabine Schütze. Am Sonnabend gab es einen Büchertisch von Ulrich Schneider, für Technik und Betreuung sorgten Katja Bischoff, Romy Schultheiss, Martin Helbich (Stadtbibliothek Bremen).

2 Kurzübersicht Vorträge, Arbeitsgemeinschaften

2.1 Vorträge

  • PROF. DR. HANS-JÖRG UTHER (Göttingen): Die "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm. Eine Märchensammlung als europäisches Kulturgut
  • DR. ANGELIKA HIRSCH (Berlin): Zaubermärchen, Tiermärchen und Märchen mit Tieren
  • DR. DIETER BRAND-KRUTH (Bremen): Die Bremer Stadtmusikanten – ein Abbild des Lebens
  • PROF. DR. KONRAD ELMSHÄUSER (Staatsarchiv Bremen): Die Stadtmusikanten in Bremen
  • MARKUS LEFRANÇOIS (Illustrator, Kassel): So müssen wir uns aufmachen und noch hingehen – Von Tier und Mensch auf ihrem Weg

2.2 Arbeitsgemeinschaften

  • MARKUS LEFRANÇOIS: So müssen wir uns aufmachen und noch hingehen. Von Tier und Mensch auf ihrem Weg
  • DR. ANGELIKA HIRSCH: Sechs verschiedene Typen von Märchen mit Tieren
  • SABINE SCHÜTZE/ DR. DIETER BRAND-KRUTH: Wie Esel, Hund, Katze und Hahn ins Märchenbuch kamen. Dem Weg der vier Stadtmusikanten in Text und Bild nachgespürt

3 Tagungsverlauf

Ausgehend von den Brüdern Grimm, die das Märchen Die Bremer Stadtmusikanten erstmals 1819 als Nr. 27 in ihren Kinder- und Hausmärchen veröffentlicht haben, wurde das Märchen in die Gesamtheit der Märchen eingeordnet. Hierzu gehörte eine Abgrenzung des "Tiermärchens" von Zaubermärchen. Märchenrezeptionen und -interpretationen wurden intensiv und kritisch betrachtet.

3.1  Die Brüder Grimm und ihre Kinder- und Hausmärchen

In seinem öffentlichen Einführungsvortrag "Die Brüder Grimm" stellte Prof. Uther die besondere Leistung der Märchenbrüder und die Bedeutung der Kinder- und Haumärchen heraus. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts waren die KHM "eine Sammlung, die in ganz Europa auf Zuspruch stieß". Am 17. Juni 2005 wurden die in der Grimmwelt Kassel vorhandenen Handexemplare in das Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen. Erste Märchen- und Sagensammlungen seien Ende des 19. Jh. erschienen. Dieses Volksgut betrachtete man als wertvolle Überlieferung der "Vorzeit". Volks- oder Naturpoesie gebe einen Einblick in Leben, Denken und Fühlen des ganzen Volkes. Als geistiger Vater dieser Denkweise gelte Johann Gottfried Herder (1744–1803). Mit gerade 20 Jahren hätten sich die Brüder Grimm auch literaturwissenschaftlichen Studien zugewandt. Sie nahmen sich vor, "ältere Vorlagen von […] subjektiven Einschätzungen des Geschehens zu befreien." Eine Märchensammlung wie die KHM als Erziehungsbuch einzusetzen, war, wie Uther betont, eine neue Idee und zur richtigen Zeit geäußert.

Erstmals habe Georg Rollenhagen den Begriff Hausmärlein verwendet. In der Vorrede zu seinem Tierepos Froschmeuseler (1608) sei Hausmärlein gedacht als Anleitung zu christlicher Erziehung und als Sozialutopie für die am Rande der Gesellschaft Stehenden. Das Konzept der Brüder Grimm sei somit vorgezeichnet gewesen; sie fassten den Begriff Märchen weit und schlossen Tiermärchen, Fabeln, Legenden, Schwänke und Lügengeschichten mit ein.

Bei der ersten Wiedergabe eines Textes als auch bei Wiederveröffentlichungen unterlägen die Fassungen einem steten Bearbeitungsprozess. Bis zur Ausgabe letzter Hand hätte die Aktualisierung der KHM angedauert. Die verschiedenen Bearbeitungsstufen der KHM reichten von wörtlicher Übernahme, der Verschmelzung mehrerer Fassungen bis zur völligen sprachlichen Umgestaltung, wie sie z.B. in den Bremer Stadtmusikanten zu erkennen sind. Prof. Uther hält es für denkbar, dass Jacob und Wilhelm Grimm ihre Märchen mit dem Hinweise "mündlich" kennzeichneten, um den Anteil der geschätzten "Volkspoesie" zu erhöhen Es könnte aber auch sein, dass sie die Herkunftsnachweise in gutem Glauben aus Briefen und Zeitschriften übernommen hätten.

Auffällig hoch sei die bewusste Verankerung christlicher Werte in der Märchensammlung wie sie auch in den Bremer Stadtmusikanten erkennbar sind. Zur Annahme einer breiten volkstümlichen Überlieferung gehöre es, geographische Angaben hervorzuheben und individuelle Leistungen der Beiträger zurücktreten zu lassen. Ausdruck habe dies etwa bei unserem Märchen in den Formulierungen "Aus dem Paderbörnischen" oder "Aus Zwehrn" gefunden. Im Lauf der Tradierung hätten sich bestimmte Szenen als bevorzugte Bildvorlagen herausgestellt; für die Bremer Stadtmusikanten sind es die Tiere am Fenster des Räuberhauses mit den vor Schreck vom Tisch wegstürzenden Gesellen.

Für die Popularität von Grimm-Märchen sieht Uther folgende Gründe: Die Märchen zeigen Konflikte modellhaft auf. Märchen lösen Konflikte im Sinn einer optimistischen Weltsicht (das 'Prinzip Hoffnung'); viele Märchen sind allgemein bekannt; die Märchen insgesamt sind kurze Erzählungen ohne Zwischentöne, das heißt, die Figuren sind leicht als Vertreter bestimmter Werte und Vorstellungen zu erkennen. Die Identifikation mit den positiv gezeichneten Handlungsträgern ist erleichtert, weil jeder das angebotene Muster mit seinen Vorstellungen besetzen kann. Die damit verbundene Freiheit trägt zugleich zur zeitüberdauernden Wirkung der Grimm-Märchen bei.

In Anlehnung an den Vortrag von Prof. Uther wurde in der AG von Sabine Schütze und Dieter Brand-Kruth, bezogen auf das Märchen Die Bremer Stadtmusikanten, der Erzählstrang herausgearbeitet, der in Vorläufergeschichten des Märchentyps "Tiere auf Wanderschaft" (ATU 130), wie Rollenhagens Froschmeuseler, Hans Sachs Der Kecklein, bereits vorhanden war. Der Aufbruch von Tieren aus unterschiedlichen Gründen, die Eroberung eines Hauses und die Vertreibung der Besitzer und Motive wie die Tierpyramide sind als weitere Elemente erst 1819 in das Märchen gelangt. In einem Zeitstrahl wurden Ursprünge einzelner Texte und Motive sichtbar gemacht. Unterschiede in ausgewählten Varianten des Märchentyps, die in späteren Märchensammlungen des 19. Jh. erschienen sind, wurden herausgestellt sowie die Botschaften des Märchens, dass sich Aufbruch, Solidarität und Mut im Leben lohnen kann. Dies wird auch in den Illustrationen der heutigen Bilderbücher anschaulich. Anhand einer Betrachtung der Märchenmotive und deren Herkunft wurde deutlich wie sich Historie, Lebenserfahrungen und Fiktion in der Erzählung ausdrücken.

3.2  Die Gattung "Tiermärchen"

In ihrem Vortrag "Zaubermärchen, Tiermärchen und Märchen mit Tieren" wies Dr. Angelika B. Hirsch auf die Schwierigkeiten bezüglich der Zuordnung eines Märchens zur Gattung "Tiermärchen" hin und machte zugleich deutlich, dass sie diesen Umstand sogar schätze, zumal "die Erzählstoffe vor den Versuchen der Gattungseinteilung da waren". In den allermeisten Märchen kommen Tiere vor, doch allein deswegen sei es nicht angebracht, sie als "Tiermärchen" zu bezeichnen, "nur jene Märchen, in denen die Beziehung zwischen Mensch und Tier für die Handlung eine entscheidende Rolle spielt", könne man zu den Tiermärchen zählen. Als grobe Beschreibung könne man von "Erzählungen, in denen nahezu ausschließlich Tiere agieren", sprechen.

Sie zitierte Werner Bies, der den Eintrag "Tiermärchen" in der Enzyklopädie des Märchens besorgt hat. Dieser fügt einen weiteren Aspekt hinzu: "Als T[iermärchen] sind Erzählungen anzusehen, in denen – nahezu ausschließlich – anthropomorphisierte Tiere interagieren." Und Uther zähle in der Ausgabe letzter Hand zehn "Tiermärchen" und 14 "Tierschwänke" (Handbuch, S. 479), darunter die beliebten Märchen Der Wolf und die sieben jungen Geißlein (KHM 5), Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27) und Der Hase und der Igel (KHM 187). Im Gegensatz zur Fabel enthalten sie sich direkter Moralisationen (Uther).

Dr. Hirsch machte deutlich, dass "Tiermärchen" etwas mit uns Menschen zu tun haben müssen, damit sie erzählt werden. "Gehört werden will, was den Menschen unmittelbar angeht", sich auf sein Leben bezieht und Resonanzen wie Lachen, Weinen, Zustimmung oder Ablehnung erzeugen. "Wir sehen in ein Märchen hinein wie in einen Spiegel und was wir aus einem Märchen herauslesen, hat oft mehr mit uns als dem Märchen zu tun."

Märchen erlaubten durch das phantastische Gewand, das "unmögliche" Geschehen, eine Distanz zum Alltag und zu den eigenen Problemen einzunehmen. Sie ermöglichen den Selbstbezug, sie erzwängen ihn nicht. Tiermärchen, in denen die Protagonisten Tiere ohne jegliche Verzauberung agieren, erlauben – so Dr. Hirsch – eine noch größere Distanz einzunehmen. Zudem gehe mit den Tieren ein "Kuschelfaktor" einher. Dieser sei es, der den Kindern Zugang zu Märchen gewähre oder nicht. Deshalb sei es nicht schlecht, wenn Eltern weiterhin Tiermärchen für "harmloser" halten und Kindern den Zugang gewähren. Kinder würden keinen kategorialen Unterschied zwischen Menschen und Tieren machen. Vielleicht sei das genau der Grund, warum sie Tiermärchen so lieben! Sie fühlten sich Tieren oft näher als Erwachsenen und fürchten sich ggf. für tierliche Helden nicht weniger als für menschliche.

Neben Tiermärchen gebe es Märchen mit Tieren, die von der Beziehung zwischen Menschen und Tier erzählen. In diesen Märchen, zu denen etwa Die Bienenkönigin in den KHM und der antike Stoff Ándroklus und der Löwe gehöre, würden die Tiere wie Tiere handeln und kaum oder gar nicht anthropomorphisiert. Überall auf der Welt seien Märchen von dankbaren Tieren verbreitet.

In der Arbeitsgemeinschaft von Dr. Hirsch "Sechs verschiedene Typen von Märchen mit Tieren" wurden Beispielmärchen vorgenommen, um ihre Aussagen über die Beziehung von Mensch und Tier zu überprüfen: Ehen zwischen Mensch und Tier, bei Tieren aufgewachsene Kinder; Ätiologien; von einer besonderen Kind-Tier-Beziehung; von bedrohlichen Tieren; vom Wunsch nach einem Kind.

3.3  Die Bremer Stadtmusikanten als Abbild des Lebens

Dr. Dieter Brand-Kruth zeigte in seinem Vortrag auf, wie sich offenkundige Weisheiten in dem Märchen zu einem Abbild des Lebens verbinden und dies in dem wohl meistzitierten Satz aus dem Märchen seinen treffenden Ausdruck findet: "Etwas Besseres als den Tod findest Du überall". Es geht um das Leben im Sinne von Überleben, Weiterleben und Zusammenleben mit der Reaktion auf die Umwelt und all den sozialen Faktoren, die das Leben bestimmen und die sich in dem Märchen in Handlung und Sinnbildern widerspiegeln.

Von Bedeutung sind jene Faktoren, die in enger Beziehung zur Umwelt stehen wie die Reizbarkeit, Energie/Stoffwechsel und hochgradige Organisiertheit. In der Zeichnung von George Cruikshank, der englischen KHM-Ausgabe von 1823, werden diese Kennzeichen beim Einfall der Tiere in das Räuberhaus sichtbar. Die Tiere reagieren ebenso wie die Räuber auf Umweltreize. Ziel der Tiere ist es, wieder zu Futter zu kommen, um so ihren Energie- und Stoffwechsel aufrecht erhalten zu können. Die Tiere organisieren sich mit der Pyramide zusätzlich neu zu einer Einheit. Dabei wird in dem Märchen zum einen typisch tierisches Verhalten vermittelt, zum anderen zeigen sich Verhaltensmuster, die einen deutlichen Zusammenhang zum menschlichen Gesindewesen erkennen lassen. Menschliches Leben wird von sozialen Faktoren bestimmt wie Lebensweg, Geburt und Tod, Lebensraum, Lebenskraft, Gemeinschaft, Gerechtigkeit, Lebensstrategien sowie soziale Strukturen und Kompetenzen.

Insbesondere werden soziale Kompetenzen wie Selbstvertrauen, Flexibilität, Empathie, Motivation, Verantwortung, Teamfähigkeit und Konfliktfähigkeit im Märchen durch die Handlung des Esels sichtbar. Der Esel besitzt Selbstvertrauen, er macht sich auf den Weg und passt sich flexibel der jeweiligen Situation an, zeigt gegenüber anderen Mitspielern Empathie und motiviert sie mit der Aussicht in Bremen Stadtmusikant zu werden zum Mitgehen. Er ist teamfähig, übernimmt Verantwortung und scheut den Konflikt nicht. Er besitzt Strategien, wie sie auch im Leben, besonders im Alter, von Bedeutung sein können: 1. Die eigene Lage erkennen und analysieren, 2. eigene Ressourcen entdecken und entwickeln, 3. Unabhängigkeit entwickeln und stärken, 4. eigene Ziele wirksam setzen, 5. gegenseitige Unterstützung erfahren, 6. Autonomie erleben, 7. Papierkorb für Gedankenmüll aufstellen.

Reaktionen auf die Umwelt und soziale Faktoren des Lebens werden im Märchen auch in den Sinnbildern wie Licht, Nahrung, Wandern, Wald/Baum, Team, Pyramide, Haus und Musik sichtbar. So besitzt z.B. das Licht als Leben spendende Energie eine große Symbolkraft. Licht bietet Orientierung in der Dunkelheit und markiert im Märchen den Wendepunkt, nachdem der Hahn das Licht vom Baumwipfel aus entdeckt hat. Das Licht führt die Tiere heraus aus der emotionalen Finsternis hin zu neuer Hoffnung. Die Tiere sollen im Märchen aus dem Futter geschafft werden. Nahrung, die Mensch wie Tier zum Aufbau des Körpers dient und die Lebensfunktionen aufrecht erhalten, soll ihnen durch die geplante Tötung verweigert werden. Mit der Einnahme des Räuberhauses schaffen es die Tiere schließlich, wieder zu Nahrung zu gelangen.

Die zum Erfolg führende Tierpyramide, die gleichsam für Einheit, Stärke und Solidarität steht, deutet sich in der Höhenaufteilung bereits zu Beginn des Märchens an. Der Hund liegt am Boden, die Katze sitzt am Wegesrand und der Hahn schreit von einem Tor herab. Später verteilen sich die Tiere in und am Baum so, dass Esel und Hund am Boden ihre Schlafstätte suchen, die Katze im Stamm und der Hahn in der Spitze. Vor dem Räuberhaus kommt es dann zur allbekannten Tierpyramide und dem krallwallartigen Einfall in das Räuberhaus, welches den Tieren ihre Rechte sichert. Sublim werden in diesem Märchen zahlreiche Menschenrechte wie Freiheit, Sicherheit oder Recht auf Nahrung und Wohnung deutlich.

3.4  Das Märchen und die Stadt Bremen

In seinem Vortrag "Die Stadtmusikanten in Bremen" machte Prof. Elmshäuser deutlich, dass die vier Tiere, heute die international bekannte Marke Bremens, lange Zeit keine Beachtung gefunden haben. Die Anwesenheit der Märchentiere in Bremen betrage im Verhältnis zum 200 Jahre alten Märchen nur gut 100 Jahre und reiche bis 1900 zurück. Von der Jahrhundertwende bis heute, vor allem aber mit der Aufstellung der Marcks-Skulptur am Rathaus 1953, seien die vier Tiere schrittweise zum Aushängeschild der Stadt geworden.

Zwischen den Brüdern Grimm und dem späteren Bremer Bürgermeister Johann Smidt habe es Anfang des 19. Jhd. zeitweise eine recht persönliche Beziehung gegeben und sowohl Jacob Grimm als auch Johann Smidt hätten 1815 am Wiener Kongress teilgenommen. Auch eine Fassung des Märchens KHM 131 Piff Paff Poltrie sei – vermutlich von Hanne Smidt – aus Bremen an die Brüder geliefert worden. Das Märchen mit den vier Tieren aber spiele seinerzeit in Bremen keine Rolle, inhaltlich lasse es sich jedoch mit der Stadt in Verbindung bringen. Die Utopie einer Flucht in die Ferne habe in die Hansestadt geführt, sie verband damals die Region mit der Welt. Auch konnten auf sie die Hoffnung auf Wohlstand und ein selbstbestimmtes Leben projiziert werden. "Etwas Besseres als den Tod findest Du überall". Dies habe offenbar einen Nerv der Zeit getroffen, denn Armut, Entrechtung und Fragen der sog. "Gesindeordnung" wären damals an der Tagesordnung gewesen. Doch nicht nur Magazinbeiträge hierzu – übrigens auch zum traurigen Zustand der öffentlichen Musikkultur (vormals Stadtmusik) – in Bremen, verbanden Smidt und die Grimms.

Nach Ansicht des Juristen und Historikers Beneke, so Elmshäuser, sei das Tiermärchen allenfalls als satirische Persiflage aufzufassen. Eine Identifikation Bremens mit den Stadtmusikanten sei auch deshalb nicht selbstverständlich gewesen, weil die Symbolwelt in der Stadt bereits Einzug genommen hatte, beispielsweise mit dem Roland am Markt. Nach dem Erscheinen des Märchens 1819 habe es rund 75 Jahre bis zur Jahrhundertwende gedauert, bis die Ignoranz in Bremen endete. Wie Elmshäuser ausführt, lasse sich die Einbürgerung in Bremen punktgenau festmachen. Eine zentrale Rolle komme dem Bremer Künstlerpapst Arthur Fitger zu. Ihm habe der Wettbewerbsentwurf für einen figürlichen Monumentalbrunnen auf dem Domshof des Dresdener Bildhauers Heinrich Möller (1835- 1929) mit dem Titel „Die Bremer Stadtmusikanten“ außerordentlich gut gefallen. Möllers Entwurf war beim Wettbewerb erfolglos, sei aber von Arthur Fitger mit Lob überschüttet worden. Der Entwurf habe auch dem Bremer Bürgermeister Victor Marcus gefallen, so dass dieser die Ausführung beauftragt habe. Wenige Jahre später sei die Ratskeller-Bronze als Sehenswürdigkeit in einschlägigen Bremen-Reiseführern aufgetaucht.

In der Folge seien in kurzer Zeit weitere künstlerische Umsetzungen in der Bremer Altstadt entstanden: 1926 Bernhard Hoetgers Stadtmusikanten auf dem Brunnenrohr des "Sieben Faulen-Brunnen" in der Böttcherstraße; Engelhard Tölkens Tierpyramide als glänzende Messingskulptur im Haus Petrus und ebenfalls 1927 Max Slevogts Freskenbild im Slevogt Hauff-Keller des Bremer Rathauses.

1951 habe der Leiter der Kunsthalle Günter Busch den Künstler Gerhard Marcks gebeten, eine Stadtmusikanten-Statue zu schaffen. Marcks habe die Idee begeistert aufgenommen und 1951 nach ersten Entwürfen eine Plastik fertiggestellt, die zunächst vielerorts und dann probeweise vor dem Bremer Rathaus gezeigt wurde. Zunächst wollte man sehen, ob diese in der Bevölkerung Zuspruch finde.

Marcks war das Märchen zunächst nicht ganz vertraut; in der Korrespondenz mit Busch sprach er von drei Tieren und vergaß in einer Skizze die Katze. Als Aufstellungsort wählte Marcks selbst den prominenten Platz am Bremer Rathaus. Die Pyramide selbst, die seit Georg Cruikshank stets einem fragil bewegten, wilden Quartett entsprach, wurde bei Marcks in eine geometrische Form umgesetzt. Der Esel sei so verkleinert worden, dass die Tiere brav aufeinander standen und ein krawallartiges Bild von den so gezähmten Tieren nicht mehr ausging.

Marcks Stadtmusikanten hätten deutlich mit den vom Erzählstoff geprägten Erwartungen des Publikums gebrochen, es folgten heftige Proteste. Der Enttäuschung des Publikums standen aber der Rang des Künstlers und die fraglose hohe Qualität des Kunstwerks entgegen und Ende 1954 erfolgte endlich der Beschluss, die "Stadtmusikanten bleiben in Bremen".

3.5  Illustration des Märchens

Der Kasseler Künstler Markus Lefrançois stellte in seinem Vortrag vor, wie er bei der Illustration des Märchenbilderbuches Die Bremer Stadtmusikanten vorgegangen ist. Wie Lefrançois sagt, orientiert er sich in seinen Büchern insofern an dem berühmten hessischen Märchenillustrator Otto Ubbelohde, als dass er zum einen dessen Technik von einfachen Strukturen und Linien in den Bildern aufgreift sowie ortstypische Landschaften, Gebäude und Symbole einbringt. Das Märchen werde auf diese Weise verortet. Da sich die Tiere in dem Märchen Die Bremer Stadtmusikanten auf Wanderschaft begäben, würde sich eine Anzahl unterschiedlicher Handlungsorte, die mit verschiedenen lokalen und regionalen Eigenarten in Verbindung gebracht werden, ergeben.

Anders als Ubbelohde nutze Lefrançois hierzu auch Wimmelbilder mit Märchen- und regionaltypischen Elementen und gestalte das Schutzblatt zur Darstellung der Handlungsfolge des Märchens. Intention sei es, den Betrachter mit bekannten Motiven der Wirklichkeit zu konfrontieren und damit zu inspirieren. Die Märchen blieben keine rein phantastischen Konstrukte, sondern seien durch die Nähe zur eigenen Wirklichkeit erfahrbar.

Im Fall der Bremer Stadtmusikanten habe er als Start des Aufbruchs den Ort Worpswede gewählt und auf dem Weg zur Stadt Bremen Bezüge zu beiden Orten eingebracht. So werden etwa Bilder der Künstler aus der Malerkolonie Worpswede aufgegriffen und in veränderter Form in die Illustrationen eingebracht. Ebenso führen reale Straßen zur großen Stadt, werden typische Häuser der norddeutschen Gegend dargestellt und historische Bezüge zur Auswanderung des frühen 19. Jahrhunderts hergestellt. Menschen verlassen ihre Heimat und brechen mit ihrem Hab und Gut neben den Stadtmusikanten auf in eine bessere Zukunft. In dem Moment, als Bremen als Stadtsilhouette in der Ferne sichtbar werde, würden sich ihre Wege trennen. Die Menschen zögen in Richtung Bremerhaven, die Tiere nach Bremen, wo sie hoffen "etwas Besseres als den Tod" zu finden.

Stets gehe es in der Bilderfolge vom Kleinen zum Großen, vom Bach über den Fluss zum Meer und vom Trampelpfad zur ausgebauten breiten Straße. Die vier Tiere landen bald im Bürgerpark, in dem sie auf ein "Räuberhaus" treffen. In den entsprechen Illustrationen auf einer Doppelseite werde wiederum in einem Wimmelbild auf Regionales rund um Bremen verwiesen: Kohl und Pinkel auf dem Esstisch; Bremer Ratssilber; friesische Teekanne, Bremer Wappen auf dem Bierkrug; Himmel und Wolken bei allen Landschaften, Architektur der Bauernhöfe; Wappen einer Rittersfamilie im Räuberhaus, realer Stich der Stadt Bremen auf dem Vorsatzpapier. Die Tiere sind in Bremen angekommen.

In seiner AG "Von Tier und Mensch auf ihrem Weg" leitete Markus Lefrançois in die Technik des Illustrierens einer Gesamtbetrachtung der Märchenerzählung Die Bremer Stadtmusikanten in einem einzigen Bild ein. Inspiriert durch individuelle Impulse brachten die Teilnehmer nach kurzer Zeit das Märchen verbunden mit ihrem eigenen Erfahrungsschatz auf nur einen Bogen zu Papier. So entstanden die unterschiedlichsten kreativen Märchen-Bilderbögen!

4 Schluss mit Bilanz und Aussicht

In dem Symposium "200 Jahre Die Bremer Stadtmusikanten" tauschten sich Märchenforscher und -interessierte, Historiker und Märchenillustratoren in Vorträgen und Arbeitsgemeinschaften wissenschaftlich über das Märchen aus. Der bisherige Forschungsstand wurde um neueste Erkenntnisse ergänzt und die Besonderheiten des Schwank- und Weisheitsmärchens herausstellt. Im Symposium wurde die Herkunft und Bedeutung des Tiermärchens, in dem sich wesentliche Aspekte des Lebens widerspiegeln, beleuchtet. Ebenso wurde der lange Weg, den die Stadt Bremen brauchte, bis sie das Tiermärchen für sich angenommen hat, und die vielfältige Rezeption, exemplarisch auch am Beispiel eines aktuellen, beliebten Stadtmusikantenbuches, betrachtet.

Während des Stadtmusikantensommers 2019 hat ein weites Spektrum an Themen rund um das Märchen gezeigt, dass es eine Vielfalt an Möglichkeiten einer weiteren wissenschaftlichen Vertiefung gibt. Durch die beiden Ausstellungen in der Kunsthalle und Stadtbibliothek ergaben sich unzählige Impulse für weitere Forschungsarbeiten. Besonders in der Jubiläums-Vortragsreihe "Die Bremer Stadtmusikanten im Lichte von Kultur, Wissenschaft und Weltfrieden" von Cynthia Bolen-Nieland in Bremen Nord gab es viele Ansätze, die es verdienen, wissenschaftlich aufgearbeitet zu werden. Denkbar wäre es daher, dass sich zu einem anderen Anlass ein zweites Symposium mit eben diesen Teilbereichen des Märchens befasst, so dass andere Zugänge zu diesem bedeutenden Märchen innerhalb der Kinder- und Hausmärchen wissenschaftlich vertieft werden können.

Anmerkung: Allen Beteiligten, die zum Gelingen des Symposiums beigetragen haben, gilt ein besonderer Dank!

Im Dezember 2020 erschien der Sammelband Verwandlung in Märchen und Mythen – Die Bremer Stadtmusikanten. Forschungsbeiträge aus der Welt der Märchen, in dem Vorträge des Symposiums "200 Jahre Die Bremer Stadtmusikanten" 2019 enthalten sind. Weitere Informationen finden Sie hier.

5 Literatur

  • Beneke, Otto: Von unehrlichen Leuten. Cultur-historische Studien und Geschichten. Hamburg: Perthes, Besser und Mauke 1863.
  • Bolte, Johannes/Polívka, Georg: Anmerkungen zu den Kinder- u. Hausmärchen der Brüder Grimm. 5 Bde. Leipzig:Dieterich 1913-1932. (Nachdruck Hildesheim: Olms 1963).
  • Brand-Kruth, Dieter: "Die Bremer Stadtmusikanten" – eine soziokulturelle Studie. Bremen: HSS. Vermerk: Dissertation, Universität Bremen 2017.
  • Brand-Kruth, Dieter: Auf nach Bremen – Den Stadtmusikanten auf der Spur. Bremen: Kellner 2019.
  • Deneken, Arnold Gerhard: Über den Gebrauch, dem Gesinde Trinkgeld zu geben. In: Hanseatisches Magazin, Bd. 3, Bremen: Wilmans 1800, S. 193-222.
  • Elmshäuser, Konrad/Hoffmann, Hans-Christoph und Manske, Hans-Joachim (Hrsg.): Das Rathaus und der Roland auf dem Marktplatz in Bremen. Bremen: Schünemann 2003.
  • Elmshäuser, Konrad: Von der Kaiserfreiheit zur Kaisertreue. Bremens Rathaus als Ort stadtstaatlicher Selbstrepräsentation, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 89, 2017, S. 7-36, hier besonders S. 17 ff. Im Jahr 1899 erfolgte der Empfang Wilhelms II. im Kaiserzimmer am 4. März, im Jahr 1900 am 13. März. StAB 2-M.6.a.3. Bd. 2.
  • Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. Von Rolf Wilhelm Brednich und anderen. 15 Bde. Berlin/New York: de Gruyter 1973-2015.
  • Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen. 2 Bde. Berlin: Reimer 1819. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen. Bd. 3. Berlin: Reimer 1822.
  • Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen. 2 Bde. Göttingen: Dietrichsche Buchhandlung 1857.
  • Kunsthalle Bremen (Hrsg.): Tierischer Aufstand. 200 Jahre Bremer Stadtmusikanten in Kunst, Kitsch und Gesellschaft. Bremen: Schünemann 2019.
  • Lefrançois, Markus: Brüder Grimm: Die Bremer Stadtmusikanten. Illustriert von Markus Lefrançois. Stuttgart: Reclam 2014.
  • Lohse, Reiner/Möller, Heinrich: Ein Meister der plastischen Kunst, Freiberg: Books on Demand 2016.
  • Lührs, Wilhelm: Der Domshof. Geschichte eines bremischen Platzes (VStHB 46), Bremen: Staatsarchiv 1979.
  • Müller, Wilhelm Christian: Versuch einer Geschichte der musikalischen Kultur in Bremen. In: Smidt, Johann: Hanseatisches Magazin, Bd. 3, Bremen: 1800, S. 111-168.
  • Richter, Dieter: Die Bremer Stadtmusikanten in Bremen. Zum Weiterleben eines Grimmschen Märchens: In: Uther, Hans-Jörg: Märchen in unserer Zeit, München 1990, S. 27-38.
  • Röpcke, Andreas/Hackel-Stehr, Karin: Die Stadtmusikanten in Bremen. Geschichte - Märchen - Wahrzeichen. Bremen: Edition Temmen 1993.
  • Smidt, Johann: Hanseatisches Magazin. 6 Bde. Bremen: Wilmans 1800. Bd. 3.
  • Smidt, Johann: Ein paar Worte über das Gesindewesen in Bremen (…). In: Hanseatisches Magazin, Bd. 3, Bremen: Wilmans 1800, S. 223-247, hier S. 236.
  • StAB 3-B.13.Nr.27.
  • StAB 3-R.8.Nr.77. Zum Unterhalt der Skulptur und ihrer Lagerung auf Kugellagern. StAB 3-R.8.Nr.119.
  • StAB 3-R.8.Nr.119. Schreiben von Fr. W. Heine an den Senat vom 7.10.1938. StAB 3-V.4.Nr.83., Schreiben vom 6.7.1899 und vom 12.7.1899.
  • StAB 7,20 – 744; Schreiben von Jacob Grimm an Johann Smidt vom 3. März 1819, Nachlass Johann Smidt.
  • Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretaion. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Berlin/Boston: Gruyter 2013.
  • Uther, Hans-Jörg: "Zur Entstehung, Bildgeschichte und Bedeutung des Märchens". In: Röpcke, Andreas und Hackel-Stehr, Karin: Die Stadtmusikanten in Bremen. Geschichte – Märchen - Wahrzeichen. Bremen: Edition Temmen 1993. S. 18-52.
  • Wageneld, Friedrich: Bremen's Volkssagen, 2. Bde., Bremen: Kaiser 1845. Weser-Zeitung vom 17.2.1895: "Der Wettbewerb um den Teichmann-Brunnen".

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