Editorial

Kaum ein Bereich des täglichen Erlebens hat sich in den letzten Jahrzehnten derart grundlegend verändert wie die Distanzkommunikation. War vor 30 Jahren der Brief noch die unangefochten dominante Form des schriftlichen Gedankenaustauschs, haben die digitalen Formate der E-Mail, der Kurznachrichten und die Messengerdienste der Sozialen Medien nicht nur technologisch neue Möglichkeiten der Kommunikation geschaffen. Auch die Struktur und Substanz der Vernetzung hat sich grundlegend verändert, Entfernungen sind keine zeitliche Hürde mehr und medial schriftliche Kommunikation passt sich heute hochfrequent zunehmend den Formen der medial mündlichen Konversation an. Gleichzeitig sind digitale Formate intermodal komplexer und entwickeln ganz neue Zeichensysteme – man denke an die Emojis, die ein eigenes konventionelles Repertoire darstellen.
In diesem Kontext wirkt der alte Postbrief fast schon anachronistisch. Dennoch erfreut sich diese Textform sowohl in der KJL als auch im Deutschunterricht ungebrochener Beliebtheit und gerade in seiner papiernen Form auch einer gewissen Hochachtung. In der Literatur verspricht der Brief als subjektives Erzählverfahren Unmittelbarkeit. Agieren Protagonist*innen in Briefen und sind diese den Lesenden zugänglich, fingiert das gleichzeitig Nähe und Authentizität, die die Fiktionalität des Geschriebenen mitunter sogar in den Hintergrund treten lässt. Das erzeugt fokussierte Sogmomente, in denen die Dichte der Lektüre spürbar zunimmt.
Faszinierend ist das auch deshalb, weil die Briefform – speziell beim Papierbrief – auch heute noch ein hohes Maß an formaler Konventionalität aufweist. Begrüßungsformeln, Verabschiedungsfloskeln und auch der Aufbau der Briefe sind stark kulturell vorgeprägt und wandeln sich nur langsam. Das Briefeschreiben muss also auch immer noch erlernt werden – so man es denn praktizieren möchte.
Natürlich finden auch neue Formen der schriftlichen Distanzkommunikation Eingang in die KJL. So gibt es mittlerweile selbstverständlich auch E-Mail-Romane und auch andere Formen der modernen Kommunikation werden in Texten verarbeitet. Dennoch bleibt der Postbrief wichtig und präsent – und scheint dabei keinesfalls aus der Zeit gefallen zu sein. Umso mehr verwundert es, dass dem Brief und seiner Verarbeitung in der KJL bislang kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil geworden ist. So bezeichnet Gabriele von Glasenapp in ihrem systematisch-diachronen Basisartikel zu diesem Heft das Medium Brief in der KJL-Forschung als eine terra inkognita und kritisiert, dass das kulturwissenschaftliche wie auch didaktische Potenzial dieses kulturellen Artefakts bislang kaum ausgelotet wurde. Umso wichtiger, dem Brief in seinen alten und neuen Formen ein Themenheft zu widmen.
Die vorliegende Ausgabe von kjl&m versucht hier also, diesen noch wenig beforschten Bereich der KJL-Forschung nun wenigstens punktuell zu erhellen. Dazu finden sich eine Reihe gegenstandsanalytischer und didaktischer Beiträge, die die Vielfalt der Erscheinungsformen schriftlicher Distanzkommunikation erschließen und historisch und gegenwartsbezogen vermessen.
Im Spektrum geben Corinna Norrick-Rühl und Chandni Ananth darüber hinaus Einblick in ein populärkulturelles Phänomen einer us-amerikanischen Taschenbuchserie und ihrer Rezeption in Deutschland.
Michael Ritter

 

 

 

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