Gender, Diversität und Feminismus sind gesellschaftlich kontrovers diskutierte Themen, die innerhalb der Literatur- und Mediendidaktik noch deutlicher aufgegriffen und reflektiert werden könnten, wohingegen in der Literaturwissenschaft bereits zahlreiche Erkenntnisse der Gender Studies berücksichtigt und Konzepte einer feministischen Literaturwissenschaft entwickelt worden sind (vgl. u. a. Osinski 1998; Schicht 2010). „Das Forschungsfeld der Geschlechterstudien ist von einer Tendenz zur Pluralisierung bzw. Ausdifferenzierung der Ansätze gekennzeichnet, die auch darauf zurückzuführen ist, dass Gender zunehmend in der Verknüpfung mit anderen Faktoren untersucht wird, die über soziale Ungleichheit entscheiden“ (Schößler & Wille 2022, 8). Diese Pluralisierung zeigt sich auch in der literaturdidaktischen Forschung: Die Publikationen der Disziplin bieten gegenwärtig fachgeschichtliche Überblicke (vgl. u. a. Tholen & Stachowiak 2012; Hermes 2019), Konzepte für die Vermittlung literarischer und anderer medialer Texte sowie unterrichtspraktische Modelle (vgl. u. a. Bieker & Schindler 2023; Brendel-Perpina/Heiser/König 2020; Krammer & Malle 2017), während sich die Lesedidaktik seit längerem mit dem Zusammenhang von „Geschlecht und Lesen“ (Philipp 2015) sowie daran geknüpften Differenzen auseinandersetzt (vgl. u. a. Philipp 2011; Pieper 2013; Garbe 2020). Literaturunterricht und -didaktik sowie ihre Einflüsse auf Gender-Konstruktionen werden darüber hinaus kritisch-historisch reflektiert, u. a. mittels Lesebuchanalysen oder im Kontext von Fragen nach Kanon und Curriculum (vgl. u. a. Ott 2017; von Heydebrand & Winko 2005). Und schließlich erhalten in der für die Leseförderung und -sozialisation relevanten Nachbardisziplin der Kinder- und Jugendliteraturforschung die Kategorien Gender und Sexualität verstärkt Aufmerksamkeit (vgl. u. a. Müller et al. 2016; Willms 2022; Seidel 2019; Brenner 2022). 

Die hier skizzierten genderorientierten Diskurse zu literarischen und weiteren ästhetischen Medien zeigen einerseits, dass die Forschung zu Gender und Sexualität bereits innerhalb der Lese- und Literaturdidaktik präsent ist, legen andererseits aber auch Desiderate offen. So werden die genannten (Teil-)Disziplinen (Lese- sowie Literatur- und Mediendidaktik, Kinder- und Jugendliteraturforschung, fachhistorische Forschung) noch eher selten miteinander verbunden. Auffallend ist auch, dass es bislang kein breit akzeptiertes Modell des gendersensiblen Literaturunterrichts gibt, was zwar auf die Vielfalt an Termini und Konzepten zurückzuführen ist, für eine gelingende Unterrichtspraxis und deren Untersuchung aber notwendig wäre. Zudem liegen bislang nur wenige intersektionale Arbeiten vor (vgl. u. a. Abrego et al. 2023; Becker & Kofer 2022), die Gender und sexuelle Identität vor dem Hintergrund anderer sozial wirkmächtiger Kategorien wie z. B. Ethnie und Klasse problematisieren, um so bspw. für Marginalisierung zu sensibilisieren. Vor dem Hintergrund des allseits wahrgenommenen medialen Wandels sowie der Pluralisierung der Gesellschaft fehlt es darüber hinaus an Projekten, die die Lese- und Mediensozialisation von Schüler:innen sowie unterschiedliche sprachliche Voraussetzungen oder Rollenvorstellungen aus diesen Perspektiven fokussieren. 

Die Themen Feminismus, Gender und sexuelle Diversität sowie die damit verbundenen Machtstrukturen werden immer präsenter in der Forschung. Die geplante Tagung und die gemeinsame Publikation, die daraus hervorgehen soll, möchten den aktuellen Forschungsstand im Hinblick auf die genannten und weitere Themenfelder resümieren, reflektieren und aufbereiten sowie zur stärkeren intradisziplinäre Vernetzung und Verknüpfung beitragen. Von Interesse ist auch die Frage nach möglichen Verbindungslinien der unterschiedlichen Perspektiven. Des Weiteren sind Beiträge willkommen, die sich den skizzierten Lücken widmen und interdisziplinäre und intersektionale Perspektiven einbringen sowie solche, die die Lese-, Literatur- und Mediendidaktik bzw. angrenzende Institutionen kritisch im Hinblick auf ihr Bewusstsein für Gender und sexuelle Identität beleuchten. Neben empirischen Beiträgen bspw. aus dem Bereich der Lesesozialisation oder der Unterrichtspraxis sind ebenso theoretisch-gegenstandsorientierte Untersuchungen der Kinder- und Jugendliteratur sowie der Literatur-und Mediendidaktik, aber auch fachgeschichtliche Ansätze willkommen. Die folgende Übersicht bietet erste Ideen, aber keinen abgeschlossenen Katalog an Fragestellungen für die Tagung und die gemeinsame Publikation. 

Mögliche Themen 

Leseförderung, Lese- und Mediensozialisation 

  • empirische und theoretisch-konzeptionelle Beiträge zur gendersensiblen Leseförderung 
  • Leseverhalten und Mediennutzung in Freizeit und Schule bei Jungen und Mädchen (und non-binären Perspektiven)
  • empirische und theoretische Auseinandersetzungen mit dem Einfluss von Gender und Sexualität auf die Lese- und Mediensozialisation 

 

Repräsentation von Gender und Sexualität in Literatur und weiteren Medien 

  • Kanonfragen, Auswahl und Thematisierung der Auswahl in Unterricht, Forschung, Curricula, Schulbüchern usw.
  • Identität, Gender und Sexualität in Literatur und weiteren Medien 

Gender und Fachgeschichte 

  • Geschlechterrollen in der Schule: Geschlechterfragen im Literaturunterricht aus historischer Perspektive
  • Schul- und Lesebuchforschung im Kontext von Gender und Sexualität 

Für Rückfragen melden Sie sich bitte bei Dr. Jennifer Witte (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.) und Dr. Franz Kröber (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.). 

Vorbehaltlich einer noch ausstehenden Finanzierungszusage ist geplant, die Übernachtungskosten sowie Verpflegungskosten (Mittagsimbiss, Kaffee & Kuchen) für alle aktiv Teilnehmenden in vollem Umfang zu übernehmen und die Beiträge im Anschluss an die Tagung in einem Sammelband zu publizieren. Beiträge von Wissenschaftler:innen in einer frühen Karrierephase sind explizit erwünscht. 

Zeitplan 

  • Einreichung von Abstracts (1–2 Seiten) + Kurzbiographie bis zum 20. September 2023 bei Dr. Jennifer Witte (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.)
  • Rückmeldung zu den Abstracts im November 2023
  • Tagung 26. – 27. Juli 2024 in Osnabrück
  • Einreichung der fertigen Beiträge für die gemeinsame Publikation bis zum 1. Oktober 2024 

Wir freuen uns auf Ihren Beitrag! 

Jennifer Witte & Franz Kröber 

Literatur 

Abrego, Verónica/Henke, Ina/Kißling, Magdalena/Lammer, Christina & Leuker, Maria-Theresia (Hrsg.) (2023). Intersektionalität und erzählte Welten. Literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Perspektiven. WBG. 

Becker, Karina & Kofer, Martina (2022). Zur Intersektionalität von Gender und Race. In Wiebke Dannecker & Kirsten Schindler (Hrsg.), Diversitätsorientierte Deutschdidaktik. Theoretisch-konzeptionelle Fundierung und Perspektiven für empirisches Arbeiten. SLLD-B, Band 4, 69–83. 

Bieker, Nadine & Schindler, Kirsten (2023). Deutschdidaktik und Geschlecht. Konzepte und Materialien für den Unterricht. UTB. 

Brendel-Perpina, Ina/Heiser, Ines & König, Nicola (2020). Literaturunterricht gendersensibel planen: Grundlagen – Methoden – Unterrichtsvorschläge. Fillibach. 

Brenner, Julia (2022). Regenbögen: sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in Kinder- und Jugendmedien. Herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW (AJuM). kopaed. 

Garbe, Christine (2020). Lesekompetenz fördern. Reclam. 

Hermes, Liesel (2019). Literaturdidaktik und Gender Studies. In Christiane Lütge (Hrsg.), Grundthemen der Literaturwissenschaft: Literaturdidaktik. De Gruyter, 454–470. 

Heydebrand, Renate v. & Winko, Simone (2005). Gender und der Kanon der Literatur. Ein problematisches Verhältnis im Überblick. In Hadumod Bußmann & Renate Hof (Hrsg.), Genus. Geschlechterforschung/Gender studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Kröner. 

Krammer, Stefan & Malle, Julia (2017). Geschlechter-Inszenierungen. Perspektiven einer performativen Literaturdidaktik. In Ulf Abraham & Ina Brendel-Perpina (Hrsg.), Kulturen des Inszenierens in Deutschdidaktik und Deutschunterricht. Klett, 119–134. 

Müller, Karla/Deckert, Jan-Oliver/Krah, Hans & Schilcher, Anita (Hrsg.) (2016). Genderkompetenz mit Kinder- und Jugendliteratur entwickeln. Grundlagen-Analysen- Modelle. Schneider Hohengehren. 

Osinski, Jutta (1998). Einführung in die feministische Literaturwissenschaft. Erich Schmidt 

Ott, Christine (2017). Sprachlich vermittelte Geschlechterkonzepte. Eine diskurslinguistische Untersuchung von Schulbüchern der Wilhelminischen Kaiserzeit bis zur Gegenwart. De Gruyter. 

Philipp, Maik (2011). Lesen und Geschlecht 2.0 Fünf empirisch beobachtbare Achsen der Differenz erneut betrachtet. Leseforum.ch, 1–25. 

Philipp, Maik (2015). Geschlecht und Lesen. In Ursula Rautenberg & Ute Schneider (Hrsg.), Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch. De Gruyter, 443–465. 

Pieper, Irene (2013). Zur geschlechtsspezifischen Differenz der Leseweisen und Lesestoffe: Wie viel Unterschied sollen/wollen wir machen? In Bea Lundt & Toni Tholen (Hrsg.), „Geschlecht“ in der Lehramtsausbildung. Die Beispiele Geschichte und Deutsch. Lit, 277–295. 

Schößler, Franziska & Wille, Lisa (2022). Einführung in die Gender Studies. De Gruyter. 

Seidel, Nadine (2019). Adoleszenz, Geschlecht, Identität. Queere Konstruktionen in Romanen nach der Jahrtausendwende. Peter Lang. 

Tholen, Toni & Stachowiak, Kerstin (2012). Didaktik des Deutschunterrichts: Literaturdidaktik und Geschlechterforschung. In Marita Kampshoff & Claudia Wiepcke (Hrsg.), Handbuch Geschlechterforschung und Fachdidaktik. VS, 99–112. 

Willms, Weertje (2022). Gender in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. De Gruyter. 

 

[Quelle: Pressemitteilung]