Die Kontroverse und ihre Debatten um Otfried Preußlers Vergangenheit sind nicht neu, sondern greifen im Kern auf bereits seit Jahren bekannte Forschungsergebnisse und -positionen zurück. Unstrittig ist, dass Preußler als Jugendlicher Mitglied der Hitlerjugend war und in dieser bis zum Führer eines Ausbildungs-Fähnleins aufstieg; bereitwillig trat er 1942 den Kriegsdienst an und kämpfte als Offiziersanwärter an der Ostfront. Preußler durchlief auch hier einige Beförderungen, wurde mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet und führte zum Zeitpunkt seiner Gefangennahme als Leutnant eine Kompanie. Unstrittig ist aber auch, dass er sich in den Nachkriegsjahren im und durch Krabat (1971) von dieser Zeit und seiner Ideologie distanziert hat. So schreibt er retroperspektivisch über seinen Jugendroman: „Mein Krabat ist […] meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation und die aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken“ (Preußler 2010, 189).
Gegenstand der Debatten in der KJL-Forschung wie im öffentlichen Diskurs ist jedoch, in welchem Ausmaße der junge Preußler – zu Zeit der Machtergreifung ist er neun Jahre, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 15 Jahre alt – mit dem Nationalsozialismus sympathisierte und inwieweit er sich ihm institutionell anschloss.
Zur Intensität der Debatten trägt auch bei, dass nicht alle Unterlagen aus Preußlers Nachlass der (forschenden) Öffentlichkeit zugänglich sind und sich Preußler nach dem Krieg öffentlich weitgehend zu seiner Jugendzeit ausgeschwiegen hat, während fast alle anderen Lebensphasen ausführlich dokumentiert sind.
Ausgetragen werden diese Kontroversen auch innerhalb der Kinder- und Jugendmedienforschungsszene, insbesondere durch diejenigen, die teils seit Jahren und Jahrzehnten zu Preußler forschen. Die unterschiedliche Einschätzung Preußlers zur NS-Zeit spiegelt sich wohl besonders deutlich in seinem literarischem Erstling Erntelager Geyer (1944). Im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels wurde das Buch im Erscheinungsjahr wie folgt angekündigt: „Von den arbeitsreichen und fröhlichen Wochen des Ernteeinsatzes der Hitler-Jugend erzählt fesselnd und anschaulich ein Jungvolkführer“ (Langenbucher 1944, 665).
Preußler selbst erwähnt den Roman nach seinen ersten Erfolgen als Kinderbuchautor ab Mitte der 1950er Jahre nicht mehr öffentlich. Stattdessen bezeichnet er Der kleine Wassermann als sein „erstes Buch“ (vgl. Spreckelsen 2023, 52). Ob dieses Verhalten pragmatische Gründe hat, da Preußlers „Konzentration auf die Kinder- und Jugendliteratur [einher geht] mit seinem Abschied von der Lyrik, dem Laienspiel, sowie vom Drama“ (so Gansel 2022, 134), oder ob er seinen literarischen Erstling schlicht der Vergessenheit anheimgeben wollte (vgl. Spreckelsen 2023, 48), ist Teil der Forschungsdebatte. Ebenso debattiert wird, wie viel ideologische Nähe zum Nationalsozialismus der Text offenbart.[1] So verortet Carsten Gansel den Text mentalitätsgeschichtlich in der Jugendbewegung und damit in einem „Begriffsnetz [mit] Metaphern von Jugend, Männlichkeit, Geselligkeit, Gemeinschaft, Fahrt, Lager, Naturverbundenheit [etc.]“ (Gansel 2022, 140), das dem Nationalsozialismus zeitlich vorausgehe. Petra Josting hingegen konstatiert, der Roman sei „durchgängig von NS-Ideologemen durchzogen, die die kameradschaftliche abenteuerliche Handlung der jugendlichen Protagonisten keinesfalls nur dekorieren“ (Josting 2024). Im Standardwerk Kinder- und Jugendliteratur 1933-1945 wird Erntelager Geyer als typisches Beispiel von „Konjunkturliteratur“ der „HJ-Literatur“ benannt (Hopster et al. 2005, 40). Murray G. Hall sieht zwei Aussagen in dem Roman konzentriert, zum einen die „Übernahme der Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus und damit die Verklärung des Bauerntums“, zum anderen die „Heim-ins-Reich und Grenzlandthematik“ (Hall 2016, 144). (Ausführlich zu Erntelager Geyer u.a. Gansel 2022, 130–146; Josting 2023; Spreckelsen 2023, 48–53)
KinderundJugendmedien.de versteht sich als Plattform, die Diskursen, Kontroversen, Forschungsdebatten aus der Community der Kinder- und Jugendmedienforschung ein Forum geben möchte, die Debatten dokumentieren und begleiten möchte. Aus diesem Grund zeichnen wir an dieser Stelle auch die Preußler-Kontroverse nach und möchten die Forschungslage und insbesondere die Debatte zur causa gerne fortlaufend abbilden. Falls Sie also bestimmte Einträge vermissen, falls Sie die Debatte kommentieren möchten, melden Sie sich gerne bei uns.
Zur Internetpräsenz von Roeder/Josting auf der „Debatten“-Seite des Zentrums für Literaturdidaktik Kinder Jugend Medien“ der PH Ludwigsburg: https://www.ph-ludwigsburg.de/hochschule/einrichtungen/zentrum-fuer-literaturdidaktik-kinder-jugend-medien-zeld/debatte
[1] Journalistisch dokumentiert wurde der Vorgang u.a. von Katrin Hörnlein (Die ZEIT, https://www.zeit.de/2024/11/otfried-preussler-gymnasium-pullach-umbenennung), Knut Cordsen (BR, https://www.br.de/nachrichten/kultur/pullach-otfried-preussler-gymnasium-will-namen-aendern,U512GGy) oder Patrick Guyton (Frankfurter Rundschau, https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/otfried-preussler-schule-will-sich-umbenennen-der-roman-ueber-den-er-nicht-mehr-sprach-92869735.html).
Literaturverzeichnis
Gansel, Carsten: Kind einer schwierigen Zeit. Otfried Preußlers frühe Jahre. Berlin: Galiani 2022.
Hall, Murray G.: Ein Phantombuch? Otfried Preußlers Hitlerjugend-Roman Erntelager Geyer. In: Stifter Jahrbuch, 30/2016, S. 135–147.
Hopster, Norbert; Josting, Petra und Neuhaus, Joachim: Kinder- und Jugendliteratur 1933–1945. Ein Handbuch. Band 2: Darstellender Teil. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2005, Sp. 40, 151, 159, 180, 254, 256.
Josting, Petra: Erntelager Geyer [1944] – Otfried Preußlers erstes Jugendbuch. In: Benner, Julia/ Andrea Weinmann (Hg.): Otfried Preußler revisited. München 2023 (kjl&m 23.extra), 39–54.
Josting, Petra: Otfried Preußlers NS-Jugendbuch Erntelager Geyer [1944]. Abrufbar unter: https://www.ph-ludwigsburg.de/hochschule/einrichtungen/zentrum-fuer-literaturdidaktik-kinder-jugend-medien-zeld/debatte#_ftn1
Otfried Preußler, Erntelager Geyer. In: Börsenblatt des Deutschen Buchhandels. Hrsg. von Hellmuth Langenbucher. Nr. 78. Verlag des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig. Leipzig 4. November 1944. S. 665.
Preußler, Otfried: Ich bin ein Geschichtenerzähler. Stuttgart: Thienemann, 2010.
Spreckelsen, Tilman: Otfried Preußler. Ein Leben in Geschichten. Stuttgart 2023.
Grundlagenliteratur
Forschungsstand zu Preußler allgemein
Weinmann, Andrea: Zum Stand der Preußler-Forschung im Preußler-Jahr 2023. Ein Forschungsbericht aus aktuellem Anlass. In: Julia Benner / Andrea Weinmann (Hrsg.): Otfried Preußler revisited. München: kopaed, 2023. S. 15–36. (= kjl&m.extra 2023)
Biographisches
Gansel, Carsten: Kind einer schwierigen Zeit. Otfried Preußlers frühe Jahre. Berlin: Galiani 2022.
Japé, Ines: Der Kinder- und Jugendbuchautor Otfried Preussler. Untersuchungen zum literarischen Funktionsverständnis und den künstlerischen Leistungen eines massenwirksamen Autors. Güstrow, Päd. Hochsch., Diss. A, 1988.
Lange, Günter: Otfried Preußlers Leben und Werk. Ein Überblick. In: Der Stoff, aus dem Geschichte sind. Intertextualität im Werk Preußlers. Hrsg. von Kurt Franz und Günter Lange. Baltmannsweiler: Schneider, 2015. S. 1-33.
Preußler, Otfried: Ich bin ein Geschichtenerzähler. Stuttgart: Thienemann, 2010.
Preußler, Otfried: Krabat – Zehn Jahre Arbeit. In: Ders.: Ich bin ein Geschichtenerzähler. Stuttgart: Thienemann, 2010. S. 184–189.
Spreckelsen, Tilman: Otfried Preußler. Ein Leben in Geschichten. Stuttgart 2023.
Aufsätze zu Erntelager Geyer
Becher, Peter: Ein unbekannter Roman von Otfried Preußler. In: Sudetenland. Europäische Kulturzeitschrift (2015) H. 2, 247–251.
Hall, Murray G.: Ein Phantombuch? Otfried Preußlers Hitlerjugend-Roman Erntelager Geyer. In: Stifter Jahrbuch, 30/2016, S. 135–147.
Hopster, Norbert, Petra Josting, Joachim Neuhaus: Kinder- und Jugendliteratur 1933–1945. Ein Handbuch. Band 2: Darstellender Teil. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2005, Sp. 40, 151, 159, 180, 254, 256.
Josting, Petra: Erntelager Geyer [1944] – Otfried Preußlers erstes Jugendbuch. In: Benner, Julia/ Andrea Weinmann (Hg.): Otfried Preußler revisited. München 2023 (kjl&m 23.extra), 39–54.
Josting, Petra: Otfried Preußlers NS-Jugendbuch Erntelager Geyer [1944]. Abrufbar unter: https://www.ph-ludwigsburg.de/hochschule/einrichtungen/zentrum-fuer-literaturdidaktik-kinder-jugend-medien-zeld/debatte#_ftn1.
Lange, Günter: Otfried Preußler. Familiengeschichte und Werk. In: kjl&m 67 (2015) H. 3, 78–88.
Weinmann, Andrea: Otfried Preußler und die neue Autorengeneration. In: kjl&m 13/3. Was gibt’s Neues? Otfried Preußler und die Kinder- und Jugendliteratur der 1950er Jahre. 2013, 3-13.
Medienberichterstattung zur Preußler-Kontroverse
Cordsen, Knut: Otfried-Preußler-Gymnasium Pullach will Namen ändern. 26.02.2024. https://www.br.de/nachrichten/kultur/pullach-otfried-preussler-gymnasium-will-namen-aendern,U512GGy
Guyton, Patrick: Otfried-Preußler-Schule will sich umbenennen – Der Roman, über den er nicht mehr sprach. fr.de, 08.04.2024. https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/otfried-preussler-schule-will-sich-umbenennen-der-roman-ueber-den-er-nicht-mehr-sprach-92869735.html
Hörnlein, Katrin: Warum ein Gymnasium in Pullach seinen Namen ändern möchte, und was das mit Hexerei und Räuber Hotzenplotz zu tun hat. Die ZEIT 11/24. Online verfügbar: https://www.zeit.de/2024/11/otfried-preussler-gymnasium-pullach-umbenennung
Volk, Sabine: Was mir mein Großvater nicht erzählte. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/otfried-preusslers-enkelin-sabine-volk-was-mir-mein-grossvater-nicht-erzaehlte-19549137.html
Wimmer, Lisa Marie im Interview mit Sabine Volk: Diskussion um Otfried Preußler: "Es geht nicht um das Werk, sondern um den Menschen". Sz.de, 08.03.2024. https://www.sueddeutsche.de/muenchen/landkreismuenchen/otfried-preussler-sabine-volk-ns-vergangenheit-gymnasium-pullach-interview-1.6434190