Explikat
Der Begriff Kanon stammt ursprünglich aus dem religiösen Bereich. Dort bezeichnet er die Sammlung aller religiösen Schriften, die für die jeweilige Tradition und Konfession maßgebend sind. So beinhaltet beispielsweise der Biblische Kanon alle Bücher, die in der christlichen Tradition zur Bibel gerechnet werden.
„Ein Kanon ist die als verbindlich gedachte Auswahl vorbildlicher dichterischer oder rednerischer Werke bzw. die Auswahl mustergültiger Autoren.“ (Einladung zur Literaturwissenschaft (20.01.2012)).
Es wird unterschieden zwischen einem materialen Kanon, dem Korpus der Texte, und einem Deutungs-, Methoden- und Kriterienkanon. Letzteres bezieht sich auf die Herangehensweise an einen Text. Die Literaturwissenschaft beschäftigt sich mit der Analyse des Kanons, ebenso wie mit dessen kritischer Hinterfragung. Es wird ebenso untersucht, was genau ein Kanon ist, wie Fragen bezüglich seiner Qualität gestellt; beispielsweise wird seine Zeitgemäßheit oder der Grad der politischen Funktionalisierung beleuchtet.
Die Auffassung, wertvolle Literatur setze sich durch und ein Kanon sei ein Spiegel literarischer Qualität, gilt allgemein als überholt. Dass ein Kanon historisch und kulturell bedingt sowie variabel ist, ist unbestritten. In der Germanistik wird der Kanon "als Ergebnis eines Deutungs- und Selektionsprozesses begriffen, der nach bestimmten Selektionskriterien funktioniert." (Einladung zur Literaturwissenschaft (20.01.2012)).
Literaturinterne und -externe Kriterien steuern dabei den Selektionsprozess. Gattungstraditionen und damit verbundene ästhetische Ansprüche an ein Werk stellen beispielsweise interne Kriterien dar, politisch-kulturelle Bedingungen lassen sich dagegen zu den externen Kriterien zählen.
Ein Kanon ist also immer auch Ergebnis einer Wertung von Literatur; wobei Wertung stets von einem bestimmten Wertmaßstab ausgeht. Die Verbindlichkeit eines Kanons für die betreffende Gesellschaft misst sich daran, wie repräsentativ der ausschlaggebende Wertemaßstab für die Gesellschaft ist und inwieweit Konsens über diesen herrscht. Welche Funktion eine Gruppe oder eine Gesellschaft der Literatur zuspricht, ist maßgebend für ihre Bewertung. Diese Zuordnung untersteht einem Wandel, entsprechend dem Wandel der Gesellschaftsform.
Forschungsgeschichte
In dem unserer so genannten Wissensgesellschaft vorausgehenden Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts galt Wissen als ein Gut und Kapital. Dementsprechend gehörten die Gebildeten zu den Deutungseliten und sie entschieden über den literarischen Kanon. Humanistische, als zeitlos charakterisierte Werte standen im Vordergrund; die Auswahl der zum literarischen Kanon gehörenden Literatur entsprach den Vorstellungen des Bildungsbürgers über sich selbst und der Gesellschaft, der er zugehörte. Ein solch verbindlicher Kanon ist in unserer heutigen Wissensgesellschaft jedoch nicht länger in der Lage, die Funktion gesellschaftlicher Repräsentation zu erfüllen.
„Das hochspezialisierte Wissen der 'nachbürgerlichen' Wissensgesellschaft kann aufgrund seiner Komplexität gesamtgesellschaftlich nicht mehr angemessen kommuniziert werden, weshalb diese sich neue Wege der Wissensregulierung und Wissensvermittlung geschaffen hat – mit Folgen für den Umgang mit Literatur.“ (Beilein/Stockinger/Winko 2012, S. 2)
Durch die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen ist ein einheitlicher Kanon nicht mehr möglich bzw. unwirksam geworden. Gleichzeitig sind allerdings Re-Kanonisierungstendenzen zu beobachten; unter anderem ein Hinweis darauf, dass „kulturelle Selbstverständlichkeiten“ (Beilein/Stockinger/Winko 2012, S. 6) ins Schwanken geraten. Eine solche Rückbesinnung auf vergangene Wertmaßstäbe legen das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Einheit und Stabilität offen.
Gestützt auf Matthias Beileins 2012 erschienene Publikation Kanon, Wertung und Vermittlung kann zwischen literaturinternen- und externen Kriterien unterschieden werden, die die Kanonbildung bedingen; textuelle und soziale Bedingungen spielen demnach eine Rolle. In welchem Verhältnis sie zueinander stehen, steht im Fokus der Analyse.
„Als eine weitgehend konsensuelle, wenn auch recht pauschale Formulierung kann gelten, dass Kanones meist als die historisch und kulturell variablen Ergebnisse komplexer Selektions- und Deutungsprozesse betrachtet werden, die Kanononisierungsinstanzen – z.B. Schule oder Universität – zuzuschreiben sind und in denen inner- und außerliterarische Faktoren – von Textqualitäten über literarische Normen bis zu sozialen und kulturellen Bedingungen der Entstehungs- und Rezeptionszeit – zusammenwirken.“(Beilein/Stockinger/Winko 2012, S. 2)
Diskutiert wird in seiner Publikation das Mischungsverhältnis zwischen textueller und sozialer Kriterien, das in verschiedenen Modellen, die Beilein ansatzweise vorstellt, unterschiedlich eingeschätzt werden. Dabei wird vorausgesetzt, dass Extrempositionen deutlicher zu differenzieren sind. Weder universelle, literarische Werte, noch ausschließlich Machtinteressen steuern die Bildung literarischer Kanones.
Besonderheiten hinsichtlich der Kinder- und Jugendliteratur
Über lange Zeit blieben Werke der Kinder- und Jugendliteratur von den etablierten Kanones ausgeschlossen. Aus der Sicht der Literaturwissenschaft und Literaturkritik wurde die Kinder- und Jugendliteratur der Populär- oder Trivialliteratur gleichgesetzt und damit als nicht relevant für den literarischen Kanon erachtet. In wichtigen Publikationen der akademischen Literaturforschung sowie in Leselisten an Hochschulen haben kinder- und jugendliterarische Werke nur selten einen Platz (vgl. Kümmerling-Meibauer, 2003, S. 1 f.).
Allerdings gibt es davon unabhängig zahlreiche Kinder- und Jugendliteraturkanones. Diese werden von verschiedenen Institutionen des Bildungswesens erarbeitet oder sind die Folge von "heimlichen Kanonisierungsprozessen" (Kümmerling-Meibauer, 2003, S. 3) durch Erwähnung in Feuilletons, Verleihung von Kinder- und Jugendliteraturpreisen oder Eintragungen in Lexika.
Die Kanondiskussion im didaktischen Bereich beschäftigt sich besonders kritisch mit Funktion und Berechtigung literarischer Kanones. Als Grundlage zur Auseinandersetzung mit diesem Themengebiet kann der Aufsatz von Hans-Dieter Erlinger Kanonfragen für die Medienerziehung im Deutschunterrischt herangezogen werden. Der literarische Kanon wird im didaktischen Bereich vehement in Frage gestellt. Die gewandelte Gesellschaft und die damit veränderten bzw. neu entstandenen Medien erfordern ein Umdenken; die gewandelten Lernansprüche an die Schüler erfordern Lehrpläne, die auf diese Veränderung reagieren.
Im 19. Jh. wurde besonderes Gewicht auf Inhalte und Stoffe gelegt; der Deutschunterricht erfüllte die Funktion der humanistischen Bildung nach feststehenden Idealen, vermittelt über die neue deutsche Literatur.
„In einer Gesellschaft in der Sinnkonzepte nicht mehr allgemein gelten und schon gar nicht allgemein durchsetzbar sind, muss die Schule als Sozialisationsagentur, wenn man sie überhaupt so nennen kann, eine neue Position finden.“ (Beilein/Stockinger/Winko 2012, S. 2)
Da keine klare Zielvorgabe mehr erkenntlich ist, werden allgemein gültige Vorgaben unbrauchbar. Als Folge der Individualisierung innerhalb der Gesellschaft liegt der Fokus nun auf der Kompetenzorientierung. Eine entsprechende Umgestaltung der Lehrpläne in den Schulen ist erforderlich; das allgemeine Ziel deutet Erlinger an, wenn er Michael Brater zitiert:
„Die Antwort auf die Orientierungsnöte der Individualisierung kann also heute nur darin bestehen, ab dem Jugendalter subjektive Fähigkeiten zu bilden, die den einzelnen in die Lage versetzen, sich selbst gültige Ordnungen zu schaffen.” (Brater 1997, S. 155)
Lernen wird als individueller Vorgang verstanden; diese Neuorientierung erfordert ein entsprechend verändertes Lernkonzept.
„Es geht dabei darum, den Umgang mit persönlicher Freiheit zu üben, moralische Grundhaltungen dabei auszubilden und die Grundlinien dafür zu schaffen, dass sich eine handlungsfähige, individuelle und verantwortliche Persönlichkeit entwickelt. Die am weitesten reichende Konsequenz daraus ist wohl, dass Stoffe von Lernzielen gelöst und zu Lernanlässen werden. “ (Erlinger 2002)
Keine abstrakten Normen sollen vermittelt werden, sondern „Erfahrungs-Lern-Situationen“ (Erlinger 2002) angeboten werden, in denen die Schüler eigene Kompetenzen entwickeln können. Wo früher inhaltsorientierter Unterricht maßgebend war, konzentriert man sich jetzt auf die Ausbildung individueller Kompetenzen, die mit eigenen Werten und Zielen einhergehen. Der Literatur wird besonders im didaktischen Bereich nicht mehr dieselbe gesellschaftliche Funktion wie im Bildungsbürgertum zugeschrieben und somit ist ein verbindlicher Kernkanon unzeitgemäß und unzweckmäßig geworden.
Die neuformulierten Lernziele sind nicht länger gebunden an der Vermittlung der klassischen Literatur. Es wird notwendig auch andere Texte, sowie andere Medien in die Bildung miteinzubeziehen, die ebenfalls den „symbolischen Kosmos“ (Erlinger 2002) der Kultur der Heranwachsenden bestimmt. Erlinger verlagert den Anspruch und die Bedeutung eines Kanons von einer inhaltlichen auf eine handlungsorientierten Ebene: „Kanonischen Wert sollte der kommunikative Prozess haben, als Teil unserer Kultur und nicht mit der Verpflichtung, feste Ergebnisse für unsere Kultur zu liefern.“ (Erlinger 2002)
Bibliografie
- Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft. Hrsg. von Matthias Beilein, Claudia Stockinger und Simone Winko. Berlin/Boston: de Gruyter, 2012.
- Brater, Michael: Schule und Ausbildung im Zeichen der Individualisierung. In: Kinder der Freiheit. Hrsg. von Ulrich Beck. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997. S. 149-174.
- Clark, Beverly Lyon: Kiddie Lit: The Cultural Construction Of Children's Literature In America. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2003.
- Erlinger, Hans Dieter: Kanonfragen für die Medienerziehung im Deutschunterricht. http://www.mediaculture-online.de (20.01.2012).
- Kümmerling-Meibauer: Kinderliteratur, Kanonbildung und literarische Wertung. Stuttgart: Metzler, 2003.
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