Explikat

Auf dem Feld der Kinder- und Jugendliteratur sind mehrfach adressierte Werke anzutreffen, die für ihre unterschiedlichen Adressatengruppen jeweils eine andere Botschaft bereit halten. Bei Texten dieser Art haben wir es überwiegend mit allegorischen oder parabolischen Dichtungen zu tun, die zwei Ebenen aufweisen: einen Bildteil und einen Sachteil, wobei letzterer die eigentliche Aussage und Bedeutung beinhaltet.

Viele dieser Werke sind nicht nur an Erwachsene, sondern auch an Kinder gerichtet, einige sogar in erster Linie an diese. Dabei verleiten sie die kindlichen Leser dazu, am Vordergründigen haften zu bleiben, sich an die merkwürdigen Figuren, die seltsamen Ereignisse und die spannende Handlung als solche zu halten. Sie sollen gar nicht bemerken, dass all dies nicht um seiner selbst willen erzählt wird, sondern für etwas anderes steht. Sie sollen mit anderen Worten nicht registrieren, dass sie es mit einer – sei es allegorischen, sei es parabolischen – Bilddichtung zu tun haben. Dies setzt voraus, dass all die Signale, die den uneigentlichen Charakter der Geschichte anzeigen, so dezent gehalten und sparsam eingesetzt sind, dass sie von Kindern leicht zu überlesen sind. Es bietet sich an, diese Ironie-Signale – denn um solche handelt es sich – als auf erfahrene, d. h. zumeist erwachsene Leser zielende Reizsignale zu bezeichnen. Das heißt aber auch, dass die eigentliche Bedeutung der erzählten Geschichte, die letztendliche Botschaft des Werks nicht ins Auge springen, nicht an der Oberfläche greifbar sein darf, sondern einen versteckten, verborgenen, ja durchaus esoterischen Charakter besitzen muss.

Beispiele

Eine prominente Ausprägung erfuhr dieser Literaturtyp in der Romantik und dem Biedermeier. Einzelne Märchennovellen von Tieck, Brentano, Contessa, Fouqué, E.T.A. Hoffmann, Mörike oder Andersen waren – wie entspr. paratextuelle Signale belegen – zugleich an Kinder und Erwachsene gerichtet, boten aber beiden Lesergruppen jeweils eine andere Lesart an (vgl. Ewers 1986, 1990, S. 20 f.).

Den kindlichen, teils auch jugendlichen Lesern wurde eine Lektüre gewährt, bei der die merkwürdige, teils auch abenteuerliche Handlung samt ihren magischen Vorkommnissen und wunderbaren Fügungen im Mittelpunkt stand. Die erwachsenen Leser nahmen dagegen am ironischen Spiel des teils ausgelassen-witzigen, teils sentimental-wehmütigen Erzählers teil, welches sich hinter der einfach anmutenden Rede der Märchenerzählung eine zweite Ebene eröffnete, die eine esoterische Botschaft enthielt. Andere Signale wiesen ihn auf den allegorischen Charakter der Figuren, der Handlung oder sonstiger Motive hin und deuteten an, worum es eigentlich ging.

Nun weist nicht bei jeder an Kinder gerichteten Bilddichtung die eigentliche Botschaft einen versteckten und verborgenen Charakter auf. Letztere kann explizit gemacht, gewissermaßen an die Oberfläche geholt und sogar ausführlich erläutert werden. Ein Beispiel hierfür sind all die Fabeldichtungen für Kinder, bei denen der Sachteil bzw. die Lehre zumeist ausformuliert und angehängt sind. Ähnlich verhält es sich bei Parabeln bzw. Gleichniserzählungen, die oft an alle Altersklassen gerichtet sind. Kinder und Erwachsene nehmen in diesen Fällen sowohl den Bild- wie den Sachteil wahr. Mehrfachadressierte Bilddichtungen können ihren diversen Empfängern also durchaus eine gleichlautende Botschaft übermitteln, was aller Wahrscheinlichkeit nach sogar mehrheitlich der Fall sein dürfte.

Demgegenüber wären bspw. die Tiererzählungen eines Hans Christian Andersen oder eines Manfred Kyber als (ironische) Bilddichtungen mit einer doppelten Botschaft zu bezeichnen. Den meisten Kindern dürfte es entgehen, dass wir es bei diesen Erzählungen mit brillanten Gesellschaftssatiren zu tun haben (vgl. Ewers 2006); sie gehen vielmehr davon aus, dass es hier um die Tierwelt als solche geht; sie entnehmen ihnen also eine andere Botschaft als diejenige, die sich erfahrenen Lesern aufdrängt. Ähnlich dürfte es sich mit Klassikern des Tierromans wie Kenneth Grahams The Wind in the Willows (1908), Waldemar Bonsels Die Biene Maja (1912) oder Felix Saltens Bambi (1923) verhalten, die alle für Kinder nicht zugängliche hintergründige Bedeutung aufweisen.

Hinzu kommt, dass sich die eigentliche Botschaft um so weniger verbergen und verstecken lässt, je älter die anvisierte Leserschaft ist. Ein Beispiel hierfür wären die Fantasy-Trilogien der letzten Jahrzehnte, bei denen es sich um reine oder gemischte Bilddichtungen handelt; deren hintergründige – teils geschichtsphilosophische, teils aktuell politische – Bedeutungen vermag die angesprochene jugendliche Leserschaft durchaus schon zu entziffern. Bilddichtungen mit deutlich getrennten Botschaften für Kinder und Erwachsene, Werke also mit einer exoterischen und einer esoterischen Sinnebene, gehören deshalb vornehmlich in den Bereich der Literatur für Kinder im vorschulischen und im Grundschulalter an, während sie im jugendliterarischen Feld bislang eher selten anzutreffen sind.

Seit einigen Jahrzehnten tauchen Texte dieser Art vornehmlich im anspruchsvollen Bilderbuch wie in der kürzeren und mittleren Kindererzählung auf. Als Meister der doppel- bzw. hintersinnigen Parabolik für Leser aller Altersstufen dürfen Michael Ende und Jürg Schubiger gelten.

Einen doppelsinnigen Charakter können auch phantastische Kindererzählungen aufweisen – und zwar auch dort, wo sie nicht allegorisch zu lesen sind. Hier geht es um eine unterschiedliche Einschätzung des Realitätscharakters von phantastischen Wesen bzw. phantastischen Welten. Die auf kindliche Leser gemünzten Signale legen es nahe, hierin eine handfeste Wirklichkeit zu sehen, während die auf erwachsene Leser zielenden Signale die Überzeugung aufkommen lassen, dass es sich um Traumgebilde oder Phantasmagorien handelt. Doppeldeutig in eben diesem Sinn ist E.T.A. Hoffmanns berühmtes Kindermärchen Nußknacker und Mausekönig (1816).

Text aus "Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in die Grundbegriffe der Kinder- und Jugendliteraturforschung." 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage. München: W. Fink, 2012. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.


 Literatur

  • Writing for a Dual Audience of Children and Adults. Hrsg. von Sandra Beckett. New York: Garland, 1999; Beckett, Sandra: Crossover Fiction. Global and Historical Perspectives. London/New York: Routledge, 2009.
  • Blümer, Agnes: Das Konzept Crossover – eine Differenzierung gegenüber Mehrfachadressiertheit und Doppelsinnigkeit. In: Kinder- und Jugendliteraturforschung 2008/2009. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2009. S. 105-114; Blume, Svenja: Texte ohne Grenzen für Leser jeden Alters. Zur Neustrukturierung des Jugendliteraturbegriffs in der literarischen Postmoderne. Freiburg: Rombach, 2005.
  • Peter Pans Kinder. Doppelte Adressiertheit in phantastischen Texten. Hrsg. von Maren Bonacker. Trier: WVT, 2004 (= Studien zur Anglistischen Literatur- und Sprachwissenschaft; 20).
  • Das Kind im Leser. Phantastische Texte als all-ages-Lektüre. Tagungsband zum wissenschaftlichen Symposium "Pinocchios Freunde". Trier: WVT, 2007 (= Studien zur Anglistischen Literatur und Sprachwissenschaft; 30).
  • Ewers, Hans-Heino: Die Kinderliteratur – eine Lektüre auch für Erwachsene? Überlegungen zur allgemeinliterarischen Bedeutung der bürgerlichen Kinderliteratur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Wirkendes Wort 36 (1986) H. 6. S. 467-482.
  • Ewers, Hans-Heino: Der "König aller Verfasser von Kinderbüchern"? Hans Christian Andersen und seine Märchen im kinderliterarischen Diskurs des 20. Jahrhunderts. In: Kinder- und Jugendliteraturforschung 2005/2006. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2006. S. 37-53.
  • Ewers, Hans-Heino: Von der Zielgruppen- zur All-Age-Literatur. Kinder- und Jugendliteratur im Sog der Crossover-Vermarktung. In: Quo vadis, Kinderbuch? Gegenwart und Zukunft der Literatur für junge Leser. Hrsg. von Christine Haug und Anke Vogel. Wiesbaden: Harrasowitz, 2011. S. 13-22.
  • Falconer, Rachel: The Crossover Novel. Contemporary Children’s Fiction and its Adult Readership. London/New York: Routledge, 2009.
  • Glasenapp, Gabriele von: Grenzüberschreitungen. Kinderliteratur und ihre erwachsenen Leser. In: Quo vadis, Kinderbuch? Gegenwart und Zukunft der Literatur für junge Leser. Hrsg. von Christine Haug und Anke Vogel. Wiesbaden: Harrasowitz, 2011. S. 37-50.
  • Kinderliteratur – Literatur auch für Erwachsene? Zum Verhältnis von Kinder- und Erwachsenenliteratur. Hrsg. von Dagmar Grenz. München: Fink, 1990.
  • Kölzer, Christian: "Warum Erwachsene 'Jugendbücher' lesen dürfen – und andersherum!" Dual adress in Philip Pullmans Fantasy-Trilogie His Dark Materials. In: Peter Pans Kinder. Doppelte Adressiertheit in phantastischen Texten. Hrsg. von Maren Bonacker. Trier: WVT, 2004 (= Studien zur Anglistischen Literatur- und Sprachwissenschaft; 20).
  • Löffler, Sigrid: Das All-Age-Programm. In den Bestsellerlisten dominieren Jugendbücher, die Grenzen zur Erwachsenenliteratur verschwimmen. Die Verkindlichung der Gesellschaft – Ein Essay. In:  Börsenblatt 11 (2009). S. 32-34.
  • Shavit, Zohar: The Ambivalent Status of Texts. In: Z.S. Poetics of Children's Literature. Athens/Georgia/London: The University of Georgia Press, 1986. S. 63-92.
  • Vogel, Anke: Crossreading – publikumszentrierte Ansätze zur Erklärung des All-Age-Booms im Buchmarkt. In: Quo vadis, Kinderbuch? Gegenwart und Zukunft der Literatur für junge Leser. Hrsg. von Christine Haug und Anke Vogel. Wiesbaden: Harrasowitz, 2011. S. 23-36.

Erstveröffentlichung: 01.08.2012