Explikat

Erwachsene sind [...in die kinder- und jugendliterarische Kommunikation nicht als eigentliche Empfänger und Leser involviert, sondern nur als Vermittler, als Weiterleitende und Filternde; sie werden dementsprechend auch nur in dieser Funktion angesprochen. Die kinder- und jugendliterarische Botschaft wird ihnen nicht als eine passende Freizeitlektüre auch für sie selbst bzw. für erwachsene Leser im Allgemeinen angeboten, sondern ausschließlich als geeignete Lektüre für die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen. Die erwachsenen Vermittler lesen die Botschaft in dem Bewusstsein, selbst nicht zur Gruppe der eigentlichen Empfänger zu gehören. Folglich werden sie an diese Lektüreangebote nicht die Maßstäbe anlegen, die sie bei Büchern für Erwachsene für angebracht halten.

Ein kinder- und jugendliterarischer Text darf sich auf erwachsene Vermittler denn auch nicht in der Weise einstellen, dass er vorrangig deren eigene Lesebedürfnisse befriedigt. Es ist vielmehr entscheidend, dass er deren grundlegenden Vorstellungen von geeigneter Kinder- und Jugendlektüre entspricht. Sollte dies der Fall sein, sind die Vermittler bereit, den Text zu empfehlen oder direkt an Kinder und Jugendliche weiterzuleiten, selbst wenn er für sie selbst nur von geringem Reiz sein sollte.

Es macht also für den Urheber und den Sender einer literarischen Botschaft einen Unterschied aus, ob sie sich auf einen Erwachsenen als (eigentlichen) Leser oder als Vermittler einzustellen haben. Wir schlagen vor, die besondere Art und Weise, in der Vermittler kinder- und jugendliterarische Botschaften empfangen, als Mitlesen zu bezeichnen und generell die Vermittler als erwachsene Mitleser von Kinder- und Jugendliteratur (Ewers 1990, S. 16) zu charakterisieren. Damit wäre auch der zweite, der erwachsene implizite Leser kinder- und jugendliterarischer Werke, mit anderen Worten: die textinterne Repräsentation des Vermittlers oder die Gesamtheit der vornehmlich an ihn gerichteten Signale, begrifflich genauer als impliziter Mitleser zu fassen.

Unabhängig davon stoßen wir – und zwar in allen Epochen und in keineswegs unbedeutendem Umfang – auch auf eine Involvierung Erwachsener in die kinder- und jugendliterarische Kommunikation nicht als Vermittler, sondern als eigentliche Empfänger und Leser. Die Kinder- und Jugendliteratur firmiert in unterschiedlichem Umfang auch als ein Lektüreangebot für Erwachsene. Damit wird eine Erweiterung des bisher entwickelten Modells kinder- und jugendliterarischer Kommunikation umumgänglich: Eine gleichzeitig auch als Lektüreangebot für Erwachsene fungierende Kinder- und Jugendliteratur besteht aus der Verschränkung nicht bloß zweier Kommunikationen – derjenigen mit den Vermittlern und derjenigen mit den kindlichen und jugendlichen Empfängern.

Es tritt nun eine dritte (Teil-)Kommunikation hinzu – diejenige nämlich mit den erwachsenen Lesern. Erst wenn Erwachsene als zusätzliche eigentliche Adressaten ins Spiel kommen, wenn sie nicht bloß als Mitleser, sondern als Leser angesprochen werden, darf die Kinder- und Jugendliteratur als eine mehrfach adressierte Literatur angesehen werden, als eine Literatur, sie sich an mehrere Lesergruppen wendet.

Beispiele

In vielen Epochen stellen bspw. die Sachliteratur bzw. das Sachbuch für Kinder und Jugendliche ein Angebot dar, das auch an bestimmte erwachsene Zielgruppen gerichtet ist. Die Mehrfachadressierung wird zumeist schon in der Titelei zum Ausdruck gebracht, wie folgende Beispiele aus dem späten 18. Jahrhundert belegen. Oft ist die "Jugend" gleichzeitig mit unteren städtischen wie ländlichen Leserschichten angesprochen: C.G. Steinbecks Der aufrichtige Kalendermann von 1792 ist gedacht Für die Jugend und den gemeinen Bürger und Bauersmann. In anderen Fällen steht die Jugend global neben den weniger Gebildeten: Felix Wasers Unterredungen über einige wichtige Wahrheiten der natürlichen Religion von 1782, die ein Vater mit seinem Kind führt, sind gedacht zum Unterricht für Unstudierte und junge Leuthe. So manches Lehrbuch für ältere Jugendliche wird zugleich auch an Erwachsene gerichtet – so J.G. Trimolts Merkwürdige Beispiele zur Kenntniß der Seelenkräfte der Thiere für die erwachsenere Jugend und wißbegierige Liebhaber der Thiere gesammelt von 1799. Des öfteren findet sich die Zusammenstellung von Kindern und Frauen: J.A. Weber hat 1799 Fragmente von der Physik für Frauenzimmer und Kinder herausgegeben, 1782 dann Fragmente von der Heydnischen Götterlehre für Frauenzimmer, Maler und Kinder.

Mehrfach adressiert sind häufig auch die Publikationen für Mädchen. Johann Ludwig Ewald publiziert 1798 Die Kunst ein gutes Mädchen, eine gute Gattin, Mutter und Hausfrau zu werden. Ein Handbuch für erwachsene Töchter, Gattinnen und Mütter. Ähnlich übermittelt Cath. von Hesse 1794 Etwas für meine Deutsche (!) Schwestern, […] zur Belehrung für Mädchen, Gattinnen und Mütter. Ähnliche Mehrfachadressierung finden sich im belletristischen Bereich: Ein anonymes Märchenbuch von 1772 ist Der lieben Jugend, um dem ehrsamen Frauenzimmer zu beliebiger Kurzweil, in Reime verfasset. Zahlreiche Frauenromane sind gleichzeitig auch an ältere Mädchen gerichtet, was zumeist im Vorwort zum Ausdruck gebracht wird, sofern es nicht überhaupt für selbstverständlich gehalten wird: Die neue Clarissa, eine wahrhafte Geschichte (Jeanne-Marie LePrince de Beaumont, 1778); Evelina oder eines jungen Frauenzimmers Eintritt in die Welt (Francis Burney, 1779) oder Julchen Grünthal. Eine Pensionsgeschichte (Friederike Helene Unger, 1784). In Fällen, in denen die Adressierung an Mädchen zu derjenigen an Frauen gleichsam nachträglich hinzutritt, also erkennbar im zweiten Glied steht, sollte man besser von mehrfachadressierter (d.h. auch an Mädchen gerichteter) Frauenliteratur sprechen.

Umgekehrt könnte dann von mehrfach adressierter Kinder- und Jugendliteratur die Rede sein, wenn zu der erstrangigen Adressierung an Kinder und Jugendliche eine weitere Adressierung an bestimmte erwachsene Zielgruppen hinzugefügt wird. Wenn ab dem mittleren 19. Jahrhundert zahlreiche Erzählungen mit dem Untertitel Für Jugend und Volk versehen werden, dann handelt es sich nach der hier vertretenen Auffassung um mehrfach adressierte Kinder- und Jugendliteratur.

Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts ist ein verstärktes Bemühen von Kinder- und Jugendbuchverlagen zu beobachten, die eigenen Publikationen als Lektüreangebote auch für Erwachsene zu vermarkten. Bereits in den 1970er Jahren wurden Michael Endes Fantasyromane Momo und Die unendliche Geschichte als Erwachsenenliteratur angepriesen und später auch im Erwachsenentaschenbuch herausgebracht.

Mitterweile kann verlagsübergreifend konstatiert werden, dass sich die Aufmachung von Büchern für Jugendliche und junge Erwachsene aus Kinder- und Jugendbuchverlagen nicht mehr von Erwachsenenbüchern unterscheidet. Dies gilt insbesondere für Fantasyromane, für historische und zeitgeschichtliche Romane wie für Kriminalromane und Thriller. Die halbjährlichen Programmankündigungen der meisten Kinder- und Jugendbuchverlage haben sich – insbesondere in der Präsentation der Saisontitel – denjenigen der großen Publikumsverlage aus dem Erwachsenenbuchbereich angeglichen – sowohl in der Aufmachung wie in der pompösen Ausstattung. Einzelne Titel aus Kinder- und Jugendbuchverlagen werden in Zeitungen und Zeitschriften als Lektüreangebote für Erwachsene beworben.

Erfolgreiche Titel werden in getrennten Ausgaben für Jugendliche und junge Erwachsene auf den Markt gebracht wie im Fall der Harry Potter-Romane von Joanne K. Rowling und Philip Pullmans Fantasy-Trilogie His Dark Materials. Auf den Bestseller-Listen des Spiegel nehmen Titel aus Kinder- und Jugendbuchverlagen immer häufiger die obersten Plätze ein. In den Buchhandlungen werden vermehrt Titel aus Kinder- und Jugendbuchverlagen auf den Tischen für Erwachsenenbestseller ausgelegt. In einer Presseerklärung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels vom 19. März 2010 heißt es: "Kinder- und Jugendbuchverlage wachsen in ihrer Bedeutung, denn sie bieten heute Lesestoffe für alle Schichten und Altersklassen der Gesellschaft. […] Vom Bilderbuch […] bis zum Jugendbuch, das als All-Age-Buch inzwischen auch Erwachsene fesselt, (bieten) Kinder- und Jugendbuchverlage für jeden etwas."

Text aus "Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in die Grundbegriffe der Kinder- und Jugendliteraturforschung." 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage. München: W. Fink, 2012. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.


Bibliografie

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